Como: Das Versteckspiel der Behörden

Nr. 34 –

Der Verdacht erhärtet sich: Die Schweiz bricht an der Tessiner Landesgrenze geltendes Recht. Derweil besingt Ueli Maurer die Zusammenarbeit mit Italien.

Auf den Perrons des Bahnhofs von Como brach unter den wartenden Flüchtlingen plötzlich Hektik aus. Grund für die Aufregung war ein Gerücht: Mehreren MigrantInnen sei es gelungen, in einem Eurocity aus Mailand die Schweizer Grenze zu passieren. Für die Gestrandeten bedeutete dies nach Tagen des Wartens die Chance, ihre Reise in die Schweiz oder weiter in den Norden fortzusetzen. Doch statt des Eurocitys erscheint die italienische Bereitschaftspolizei.

Die Situation vom vergangenen Samstag ist typisch für die Lage an der Südgrenze: Es herrschen Verwirrung und Ungewissheit – bei den 500 bis 600 MigrantInnen, weil sie seit sechs Wochen am Bahnhof von Como blockiert sind; bei Flüchtlingshelfern und vielen Politikerinnen, weil alles darauf hindeutet, dass die Schweizer Behörden ein neues Grenzregime errichtet haben.

Die Schweiz macht die Grenzen dicht

Mit der Situation gänzlich zufrieden scheint Bundesrat Ueli Maurer. Anlässlich des Besuchs von Aussenminister Paolo Gentiloni diese Woche stimmte er Lobeshymnen auf Italien an. Die Zusammenarbeit funktioniere hervorragend.

Noch vor wenigen Monaten klang das ganz anders. Die Schweizer Behörden klagten, dass eine Rückweisung der MigrantInnen nach Italien kaum möglich sei, weil diese nicht registriert würden. Ganz offensichtlich hat sich seither einiges getan: Grenzwächter übergeben pro Tag mehrere Hundert Flüchtlinge an Italien (siehe WOZ Nr. 33/2016 ). Ausserdem haben die Grenzwachtkorps beider Seiten die Kontrollen massiv verschärft.

Von offizieller Seite hört man davon wenig. Der Ausbau wurde von den Behörden zwar angekündigt, weitere Meldungen blieben bisher aber aus. Lieber bespricht man die Pläne des Nachbarn. Maurer etwa wusste den SVP-Delegierten von genauen Aufstockungszahlen der Deutschen Kollegen an der Grenze zu berichten. Über den massiven Ausbau an den eigenen Grenzen schweigt man sich hingegen lieber aus.

Über das tatsächliche Vorgehen des Grenzwachtkorps im Tessin herrscht deshalb nach wie vor Unklarheit. Gelingt es den MigrantInnen, die Grenze zu passieren, verschwinden sie in einer Blackbox. Einige (wenige) werden an das Staatssekretariat für Migration (SEM) überwiesen und treten damit in den Asylprozess ein. Die meisten aber werden direkt wieder nach Italien zurückgeschickt.

FlüchtlingshelferInnen und Nichtregierungsorganisationen kritisieren bereits seit Wochen, dass die Entscheide völlig willkürlich oder gar rechtswidrig seien. Offensichtlich geht mit der verstärkten Überwachung auch eine Praxisänderung bei der Beurteilung von Asylgesuchen einher.

Nach Angaben von Miriam Behrens, Leiterin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, besteht etwa der begründete Verdacht, dass die Grenzwache sogenannte Dublin-Fälle direkt nach Italien zurückschickt, ohne sie an das SEM zu überstellen. Darunter auch viele Minderjährige.

Grundsätzlich gilt nach Dublin-System: Personen, die in der Schweiz einen Asylantrag stellen, müssen dem Empfangs- und Verfahrenszentrum des SEM übergeben werden. Dieses klärt darauf die Anträge ab. Das Grenzwachtkorps (GWK) selbst hat keine Kompetenzen, darüber zu urteilen.

Blackbox Chiasso

«Der Verdacht ergibt sich auch aufgrund der grossen Zahl der MigrantInnen, die zurückgeschickt werden, ohne ein ordentliches Asylverfahren zu erhalten», sagt Miriam Behrens. 4149 Fälle wurden im Juli abgewiesen. Das sind rund zwei Drittel der ankommenden Flüchtlinge. Eindeutige Beweise gebe es allerdings nicht. «Es warten alle auf den handfesten Fall, um die Vermutung erhärten zu können», sagt Behrens. Beweise sind allerdings schwer zu erhalten, da die Antragstellenden nicht begleitet werden können. Es bleiben einzig die Aussagen der nach Italien zurückkehrenden MigrantInnen. In einem Brief an Bruno Corda, den Präfekten der Provinz Como, erheben diese nun schwere Vorwürfe gegenüber der Schweiz. Viele von ihnen würden nach Italien zurückgeschickt, selbst wenn sie einen Asylantrag gestellt hätten.

Das GWK weist die Vorwürfe auf Anfrage der WOZ zurück und versichert, es handle gesetzeskonform.

Dieses Dementi scheint angesichts der Vorwürfe schwach. Insbesondere da Ueli Maurer gemäss «Berner Zeitung» noch im Frühjahr im Bundesrat vergeblich versuchte, dem GWK die Rückweisung aller MigrantInnen zu erlauben, wenn sie aus sicheren Drittländern einreisen. Nun lässt er den Auftrag offenbar dennoch ausführen. Darauf weisen Äusserungen des Finanzministers selbst hin. An der SVP-Delegiertenversammlung vom letzten Samstag versicherte er, dass Asylverfahren dann behandelt werden, wenn sie «berechtigt» seien. Ob ein Asylgesuch berechtigt ist, kann allerdings erst dann entschieden werden, wenn es vom SEM behandelt wurde. Alles andere verletzt Schweizer Recht.

Hilfswerke und PolitikerInnen fordern deshalb Transparenz. «Das Bereitstellen von verlässlichen Informationszentren ist momentan entscheidend», sagt Behrens. Insbesondere müsse offengelegt werden, auf welcher Rechtsgrundlage die Entscheide gefällt würden. Einen detaillierten Rechenschaftsbericht und bessere Informationen über das Asylverfahren fordert auch eine Resolution der Grünen Partei. Die SP verlangt ausserdem nach einem Ombudsmann, der Klagen von Abgewiesenen aufnehmen und die Praxis der Behörden überprüfen kann.

Die Forderungen sind berechtigt. Denn solange die Blackbox geschlossen bleibt und die Schweizer Behörden weiterhin jegliche Kritik von sich weisen, ohne Transparenz zu schaffen, ist eine Verbesserung der Situation der in Como gestrandeten Flüchtlinge kaum möglich.