Die Forschung: In den kleinen Schweizen rund um die ganze Welt

Nr. 35 –

Die Geschichte der Schweiz wird gerade von der postkolonialen Forschung neu geschrieben. Der Sammelband «Colonial Switzerland» zeigt, wie sich das Land, ohne eigene Kolonien zu besitzen, informell am Imperialismus beteiligte.Von Kaspar Surber

Warum bloss sind die indischen Revolutionäre, die den Zürcher Bombenprozess mit verursachten, kaum mehr bekannt? Vielleicht, weil sich die Schweizer Geschichte so ordentlicher erzählen lässt: Von der Staatsgründung 1848 über den Generalstreik 1918 bis zum Zweiten Weltkrieg fanden die Liberalen, die Konservativen und die Sozialdemokraten ihren Eingang in den Staat. Die Forderungen des Generalstreiks wie das Frauenstimmrecht und eine Altersvorsorge gelten heute als Selbstverständlichkeit.

Für Leute wie Abdul Hafiz oder Virendranath Chattopadhyaya bleibt in einer solch runden Abfolge hingegen wenig Platz. Dabei hatten die beiden weltweit für Schlagzeilen gesorgt, als nach dem Ersten Weltkrieg der Zürcher Bombenprozess verhandelt wurde. Selbst die «New York Times» berichtete darüber: Muslimische und hinduistische Verschwörer hätten, gesponsert von russischen und deutschen Bolschewisten, eine revolutionäre Aktion geplant, um die kommunistische Weltherrschaft voranzubringen.

Die beiden Inder wollten Waffen und Munition nach Italien liefern, die zur Ermordung von italienischen Politikern und britischen Diplomaten, sowie zur Sprengung des Simplontunnels dienen sollten. In Zürich hatten sie die Schmuggelware bereits an italienische Anarchisten übergeben.

Als die behördliche Treibjagd aufgrund der weltweit vermuteten «roten Gefahr» zunahm, versenkten diese ihre explosive Fracht in der Limmat. 1919 wurde deswegen 28 Anarchisten der Prozess gemacht, sie erhielten zum Teil mehrjährige Gefängnisstrafen. Hafiz und Chattopadhyaya waren bereits früher des Landes verwiesen worden, weil sie die Neutralität der Schweiz verletzt hätten.

Der Historiker Harald Fischer-Tiné hat die beiden nun zurückgeholt in die Geschichte, zusammen mit weiteren indischen NationalistInnen, die von der Schweiz aus versuchten, die Unabhängigkeit ihres Landes voranzutreiben. Im gemeinsam mit Patricia Purtschert herausgegebenen Buch «Colonial Switzerland» erzählt er von ihren politischen Zielen und Tätigkeiten. Das Buch mit Aufsätzen zahlreicher HistorikerInnen bietet einen Querschnitt durch die postkoloniale Forschung der Schweiz.

Der Blick hinaus

Die historische Debatte in der Schweiz ist von einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit bestimmt. In der öffentlichen, medial abgebildeten Auseinandersetzung hat sich der Blick auf die Geschichte in den letzten Jahren verengt. Die Nationalgeschichte wurde im Gefolge des politisch-reaktionären Rollbacks wieder wichtiger. Die Jubiläumsschlacht um Marignano im letzten Jahr drehte sich vor allem um den Wahrheitsgehalt von Mythen. Ob man diese nun beschwor oder dechiffrierte – letztlich wurde die Schweiz meist aus sich selbst heraus erklärt. Und häufig erschien sie als homogene Gesellschaft ohne soziale Spannungen und Brüche.

Im Gegensatz dazu fand an einigen universitären Lehrstühlen in den letzten Jahren eine Ausweitung des Blicks statt – ausgelöst mitunter auch durch die in einer historischen Kontinuität stehenden Hetzkampagnen der SVP. HistorikerInnen haben die «postcolonial studies», die sich seit Edward Saids wegweisendem Werk «Orientalism» (1978) entwickelt haben, auf die Schweiz übertragen. Die Unterscheidung in «der Westen» und «der Rest», mit der ein kulturelles und technologisches Überlegenheitsdenken einhergeht, wird dabei als konstitutives Moment für europäische Gesellschaften verstanden.

Und zwar nicht nur für Staaten, die selbst über Kolonialgebiete herrschten, sondern auch für solche wie die Schweiz – über Firmen, die Wissenschaft oder religiöse Missionen war das Land auf vielfältige Weise am kolonialen Projekt beteiligt. Der Begriff «postkolonial» ist dabei nicht chronologisch gemeint im Sinn einer historischen Phase nach der Dekolonialisierung. Vielmehr geht es darum, wie koloniale Herrschaftsverhältnisse und Stereotype bis in die Gegenwart nachwirken.

Die indischen Revolutionäre sind dafür ein gutes Beispiel, wie Fischer-Tiné zeigt. Von Zeitgenossen wurden die «Orientalen» herabmindernd als grosse Kinder beschrieben, die schlecht zivilisiert seien. Die Anarchie verfaule die Städte. Das Asylrecht, einst für Freiheitskämpfer gedacht, stelle eine Gefahr dar. Vor hundert Jahren wurden Menschen von ausserhalb Europas also auf ähnlich stereotype Weise bewertet wie heute.

Spirit der Theorie

Die Forschung, wie die Schweiz in den Kolonialismus involviert war, begann mit Untersuchungen zur Beteiligung von hiesigen Handelshäusern am Sklavenhandel. Die ForscherInnen arbeiten oft im Kollektiv, wie schon der Sammelband «Postkoloniale Schweiz» zeigte, der 2012 von Patricia Purtschert, Francesca Falk und Barbara Lüthi herausgegeben wurde. Dieser rückte die Kolonialkultur stärker in den Vordergrund: In der Schweiz zeigte sich diese in mannigfaltigen Ausprägungen, von «Völkerschauen» über rassistische Produktewerbung bis hinein in Kinderbücher.

In der öffentlichen Auseinandersetzung werden die postkolonialen ForscherInnen häufig vorschnell als Rassismuspolizei abqualifiziert, die mit dem besseren Wissen der Nachgeborenen zum Tatort fährt. So geschehen zuletzt, als einige HistorikerInnen das Magazin «NZZ Geschichte» kritisierten, es habe den Aufenthalt eines einstigen Luzerner Politikers in Belgisch-Kongo einseitig aus einer weissen, männlichen Perspektive beschrieben (siehe WOZ Nr. 20/2016 ). Die Redaktion bezeichnete die Kritik als politisch motiviert. Für sich selbst reklamierte sie eine neutrale Haltung: «Auf das Nachreichen einer expliziten Moral nach jeder Geschichte werden wir auch künftig verzichten.» Die Beschäftigung mit rassistischen Denkmustern war damit in den Bereich der Meinung verwiesen, die Ordnung wiederhergestellt.

Hat man sich hingegen eingestanden, dass der Rassismus nun einmal wie alles eine Geschichte hat und nicht einfach unbedarft in die Welt gesetzt wurde und wird, dann wirken Auseinandersetzungen wie jene mit der NZZ auf Dauer unproduktiv. Die postkoloniale Theorie ist an den Universitäten wohl kaum beliebt, weil BesserwisserInnen überall Rassismus wittern, sondern weil dieser Ansatz wie einst die Wirtschafts- oder Sozialgeschichte, die Frauen- oder die Alltagsgeschichte einen neuen Blick auf die Geschichte ermöglicht. «Von unten» durchforstet wurden schon manche Archive. «Nach aussen» fort erzählt, eröffnen die Dokumente neue Perspektiven.

Statt sich also mit der Legitimität der postkolonialen Studien aufzuhalten, fragt man bei der Bewertung eines Buchs wie «Colonial Switzerland» besser, ob es neue Einsichten bringt oder Fragen offen lässt.

Ein globales Netz

Die grosse Leistung des Sammelbands besteht darin, dass er die verschiedenen Formen der Beteiligung der Schweiz und ihrer BürgerInnen am Kolonialismus detailliert beschreibt – und damit die Transnationalität der kolonialen Herrschaft generell. Diese bestand, wie die Kollaboration von Unternehmen und WissenschaftlerInnen belegt – trotz des Wettbewerbs zwischen den Nationalstaaten um einzelne Kolonialgebiete – in einer gemeinsamen Vorstellung der weissen Überlegenheit.

In seinem Beitrag über die Expansion von Textilfirmen nach Südostasien schreibt Andreas Zangger, dass die SchweizerInnen Teil der europäischen Elite gewesen seien: «Sie trugen die gleichen Kleider, um ihren Unterschied von der einheimischen Bevölkerung zu signalisieren, und sie teilten meist ein Gefühl der rassischen Überlegenheit.» Die Textilfirmen hätten ihre informellen Netzwerke auf drei Arten ausgebaut: Sie schickten junge Kaufleute in wichtige Absatzgebiete. Sie kooperierten mit vorhandenen Handelshäusern, insbesondere mit deutschen. Schliesslich gründeten sie eigene Niederlassungen. «Wir besitzen zwar keine Kolonien, aber unsere Kolonialisten durchqueren die ganze Welt und tragen die Produkte ihrer Arbeit in alle Gebiete», hiess es 1896 in einer Mitteilung der Ostschweizerischen geografisch-kommerziellen Gesellschaft.

Dass sich die Schweizer Handelsreisenden durchaus in offizieller Mission sahen, zeigen von ihnen verwendete Begriffe wie «Schweizer Kolonie» oder «vierte Schweiz». Sie verstanden sich nur als Gäste, nicht als Siedler. Heiratete ein Mann eine einheimische Frau, wurde er von der Schweizer Community geächtet. Die SchweizerInnen waren möglichst darauf bedacht, ihre nationale Identität bis zur Rückkehr zu bewahren: In Schützenvereinen übten die Schweizer nicht nur das Schiessen, sondern bewahrten sich auch ihren Dünkel. So war Schweizer Köchen in Singapur die Mitgliedschaft im Verein verboten.

Dass der Weggang in eine Kolonie auch eine Ausflucht aus den sozialen Verhältnissen und gesellschaftlichen Konventionen sein konnte, zeigt wiederum die Geschichte von Bertha Hardegger, die die Historikerin Ruramisai Charumbira erzählt. Die Appenzeller Ärztin emigrierte in den 1930er Jahren nach Südafrika, weil sie sich hier eine freiere Ausübung ihres Berufs erhoffte als in der Schweiz, wo der Zugang der Frauen zu Stellen eingeschränkt war. Weil die Briten in Südafrika eine Ausbildung an einer englischen Universität verlangten, musste Hardegger nach Lesotho ausweichen, wo sie von den britischen Kolonialbehörden endlich als Doktorin anerkannt wurde. So fest sie für sich die Selbstbestimmung wünschte, so stark blieb Hardegger einem Wohltätigkeitsdenken verhaftet: Wohl beklagte sie in ihrem Tagebuch die Armut und die Krankheiten in Lesotho, doch ihren Zusammenhang mit der kolonialen Herrschaft thematisierte sie kaum.

Im kleinen Kreis

Am gelungensten sind die Beiträge, die zwei Hälften zu einem Ganzen zusammenfügen. Bernhard C. Schär etwa geht der Frage nach, wie die Konstruktion der Alpen, die für das Schweizer Selbstbild als freies Hirtenvolk so wichtig war, mit jener der Tropen zusammenhängt. So wurden die Alpen mit ihrem gemässigten Klima von Naturforschern in Absetzung zu den Tropen definiert – verbunden mit der Idee, dass die reine Luft auch einen besonders klaren, sprich zivilisierten Geist fördere. Als im 19. Jahrhundert die Beschäftigung mit den Pfahlbauern populär wurde, wurden diese in Darstellungen oft in einer tropischen Umgebung gezeichnet: Die gegenwärtige Natur und die BewohnerInnen der Tropen wurden so zu einer primitiveren Stufe der geologischen und menschlichen Evolution degradiert.

Schade ist, dass das Buch bisher nur auf Englisch vorliegt. Die Erklärung der HerausgeberInnen ist zwar nachvollziehbar: Die bisherigen Werke zur Involviertheit der Schweiz in den Kolonialismus sind grösstenteils auf Deutsch erschienen und werden deshalb international weniger rezipiert. Eine Veröffentlichung auf Deutsch und eine Popularisierung der Forschungsergebnisse – gerade an Museen und in den Schulen, die längst viele Kinder besuchen, deren Vorfahren in kolonialer Abhängigkeit lebten – sind aber wünschenswert. Auch, weil die Texte weitgehend ohne theoretischen Jargon auskommen.

Nicht ganz einlösen kann das Buch, was die HerausgeberInnen als interessanten Gedanken im Vorwort skizzieren: inwiefern der informelle Imperialismus der Schweiz hilfreich ist, um die gegenwärtige neoliberale, globalisierte Wirtschaft zu verstehen. Wobei das auch nicht so schlimm ist. Wenn man schon die Schweiz aus der Welt erklärt, so möchte man ja am Ende nicht unbedingt die Welt aus der Schweiz erklärt haben.

Patricia Purtschert (Hrsg) und Harald Fischer-Tiné (Hrsg.): Colonial Switzerland. Rethinking Colonialism from the Margins. Palgrave Macmillan. Basingstoke 2015. 323 Seiten. 84 Franken