Langzeitpflege: «Die Pflege der alten Menschen ist ein Kulturgut»

Nr. 37 –

Die Debatte um die langfristige Ausgestaltung der Langzeitpflege und -betreuung kommt ins Rollen. Derweil verstört der Bundesrat mit einem Bericht, der die unbezahlte Care-Arbeit ausblendet.

Ende Mai hat der Bundesrat einen umfangreichen Bericht vorgelegt, in dem er die Entwicklung in der Langzeitpflege bis 2045 beleuchtet. Die Bestandesaufnahme ist alarmierend: Schon jetzt fehlt es in vielen Kantonen an zeitgemässen Angeboten für die Betreuung und Pflege älterer Menschen. Wegen der demografischen Entwicklung müssten überdies schon bis 2020 um 17 000 neue Vollzeitstellen geschaffen und rund 60 000 Fachleute wegen Pensionierungen ersetzt werden – am meisten davon in der Langzeitpflege. Für die öffentliche Hand wird dies zu einer deutlichen Ausgabensteigerung führen. Laut Bundesrat werden davon am meisten die Kantone betroffen sein – und die privaten Haushalte. Trotzdem schliesst er eine höhere Kostenbeteiligung des Bundes aus. Stattdessen dreht sich die Diskussion um neue Finanzierungsmodelle – wie etwa eine Pflegeversicherung.

Auf dem Buckel der Angehörigen?

Wer wie der Bundesrat die Belastungen der privaten Haushalte durch unbezahlte Care-Arbeit sowie durch Betreuungs- und Hotelleriekosten ausblendet, erzeugt zunächst die Illusion, das Ausgabenwachstum bremsen zu können. Tatsächlich aber werden damit die Kosten einfach auf die privaten Haushalte überwälzt. Denn «man kann nicht nicht pflegen», wie es Beat Ringger, Sekretär des linken Thinktanks Denknetz, ausdrückt: Es sei in einer Wohlstandsgesellschaft undenkbar, pflegebedürftige Menschen ihrem Elend zu überlassen. Irgendwer wird die Aufgabe irgendwie übernehmen: im schlimmeren Fall überforderte Angehörige oder schlecht bezahlte Care-MigrantInnen – im besten Fall solidarisch finanzierte öffentliche Dienste, sodass die Angehörigen nicht um vieles mehr leisten müssen, als es mit ihren eigenen Lebensentwürfen vereinbar ist.

Das Denknetz betont in seiner Stellungnahme zum bundesrätlichen Bericht, dass bislang überwiegend Frauen die private Care-Arbeit leisten. Womit der Bundesrat seine eigenen Bemühungen torpediere, die Gleichstellung von Frau und Mann in die Realität umzusetzen. Das Denknetz verweist noch auf einen weiteren Umstand: Nur schon in den letzten zwanzig Jahren sank die Zahl der Personen, die ausschliesslich Haushaltsarbeit leisten, von 8,6 auf rund 3 Prozent. Angesichts der demografischen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklung wird insbesondere die Zahl der Kinder, die sich dereinst um ihre Eltern kümmern, noch rapider abnehmen. Doch auch dazu finden sich im Bericht keinerlei Überlegungen.

Anfang September diskutierten an einer Denknetz-Tagung in Bern VertreterInnen von Fach-, Personal- und Betroffenenverbänden mögliche Wege aus der Krise. SP-Nationalrätin Barbara Gysi etwa hielt als Vertreterin der Denknetz-Fachgruppe ein Plädoyer für öffentliche Care-Dienste. Stéfanie Monod, Gesundheitsdirektorin im Kanton Waadt, zeigte am Beispiel ihres Kantons auf, wie ein breiter Ausbau der aufsuchenden medizinischen und pflegerischen Betreuung allein schon dadurch finanziert ist, dass viele unnötige Spitaleinweisungen vermieden werden können.

Zwei denkwürdige Sätze

Das Denknetz selber hat in den letzten zwei Jahren – inspiriert durch das Modell des dänischen Gesundheitswesens – Eckwerte für eine «zukunftsfähige, demokratische und menschenwürdige» Ausgestaltung der Langzeitpflege und -betreuung erarbeitet. Demnach bräuchte es einen nationalen gesetzlichen Auftrag, der die Kantone beauftragt, eine für alle zugängliche Versorgung mit guten, öffentlich getragenen Diensten in Pflege, Betreuung, Gesundheitsvorsorge und Alltagsbewältigung bereitzustellen. Das würde auch heissen, dass all diese Angebote – ambulante und (teil)stationäre Dienste eingeschlossen – gemeinsam konzipiert, aufeinander abgestimmt und möglichst ganzheitlich erbracht würden. Das heute auf Spitex und Pflegeheime fixierte Angebot würde durch Formen des begleiteten und betreuten Wohnens, Pflegewohngruppen und teilstationäre Tages- und Nachtstrukturen erweitert werden.

Nur: Wie das Ganze finanzieren? Das Denknetz plädiert für eine solidarische Finanzierung all dieser Angebote aus Steuermitteln. Dies sei weit sozialer als die Finanzierung durch die Kopfprämien der Krankenkassen. Weil mit einer guten Versorgung viele teure Eingriffe und Spitaleinweisungen vermieden würden, käme eine solche Lösung unter dem Strich auch nicht teurer als das heutige System.

Inwieweit diese Vorstellungen für eine solidarische Ausgestaltung der Langzeitpflege und -betreuung ins Parlament einfliessen oder gar in eine Volksinitiative münden, bleibt abzuwarten. Jedenfalls formiert sich gegenwärtig eine «Plattform Gutes Alter» als neuer zivilgesellschaftlicher Akteur, der auch Verbände und Organisationen einbinden und Anfang 2017 an die Öffentlichkeit treten will. Zwei Sätze aus der Tagung in Bern jedoch könnte sich der Bundesrat schon mal hinter die Ohren schreiben: «Die Pflege der alten Menschen ist ein Kulturgut», sagte Hans Rudolf Schönenberg vom Seniorenrat. Und Marie-Louise Barben von der Grossmütter-Revolution mahnte: «Die Gestaltung des hohen Alters ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.»

Alle Referate und Stellungnahmen der Tagung «Langzeitpflege wohin?» finden Sie unter www.denknetz.ch/denknetz-dossier-gutes-alter.