Russische Migrationspolitik: Verschleppt und ausgeschafft

Nr. 39 –

Der Regisseur Mirsobir Chamidkariew wurde vom russischen Geheimdienst aus einem Taxi entführt, nach Usbekistan ausgeschafft und schwer misshandelt. Er ist bei weitem nicht der einzige Migrant, der es mit extremer Beamtenwillkür zu tun hat.

Am 9. Juni 2014 war der usbekische Filmregisseur und Geschäftsmann Mirsobir Chamidkariew mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn in Moskau unterwegs. Während die Frau mit dem Jungen eine Apotheke besuchte, wartete er im Taxi auf sie. Als die beiden die Apotheke wieder verliessen, war das Taxi verschwunden.

Wie PassantInnen der verzweifelten Frau berichteten, hatten sich zwei Männer in das wartende Taxi gedrängt und den Fahrer zur Weiterfahrt aufgefordert. MenschenrechtlerInnen der Organisation Zivile Unterstützung, die sich für die Rechte von MigrantInnen in Russland einsetzt, wandten sich daraufhin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Sie hatten den Verdacht, dass der Geheimdienst den Usbeken entführt haben könnte. Die AktivistInnen sollten recht behalten.

Chamidkariew war 2010 nach Russland geflohen, weil er als gläubiger Muslim in seiner Heimat wegen der Ausübung seiner Religion auf einer schwarzen Liste der Regierung stand. Die Behörden warfen ihm «Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung» vor. Noch am Tag der Entführung verbot der EGMR in einem Eilentscheid deshalb die Auslieferung des politisch verfolgten Usbeken. Und nachdem Chamidkariews Ehefrau der Polizei von der Entführung berichtete hatte, gewährte die Migrationsbehörde ihm umgehend Asyl.

Wie sich später herausstellen sollte, war der Mann vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB entführt und bereits in Moskau schwer misshandelt worden. Dort scherte man sich auch nicht um die Verfügung von Migrationsamt und EGMR: Knapp 24 Stunden nach der Entführung überstellte der Geheimdienst den entführten Chamidkariew auf einem Moskauer Flughafen seinen usbekischen Kollegen.

Zwei Wochen hörten die Angehörigen nichts von dem Entführten. Er war sofort nach seiner Ausschaffung nach Usbekistan inhaftiert worden. Unter Folter unterschrieb er schliesslich ein vorformuliertes Geständnis. Mehrere Zähne hatte der Gefangene in dieser Zeit verloren, zwei Rippen waren ihm gebrochen worden. Inzwischen ist Chamidkariew zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Wenn er die Folgen der Misshandlungen überleben, wird er 2022 wieder in Freiheit sein.

Chamidkariews Schicksal ist kein Einzelfall. In einem gemeinsamen Bericht über Ausschaffungen von Russland nach Usbekistan beschuldigen die beiden Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch den russischen Geheimdienst der illegalen Zusammenarbeit mit seinen usbekischen KollegInnen. Mehrere Hundert MigrantInnen seien, so der Vorwurf, unter Umgehung der russischen Rechtsprechung nach Usbekistan ausgeliefert worden. In den usbekischen Gefängnissen seien Folter und Misshandlungen an der Tagesordnung. Der EGMR hat zwischen 2013 und 2016 insgesamt siebzehn Entscheide gegen Ausschaffungen nach Usbekistan erlassen.

Racial Profiling

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1991 sieht sich das junge Russland mit komplexen Migrationsbewegungen konfrontiert. Lebten in der Sowjetunion noch drei Millionen MigrantInnen, sind es seit 1991 in Russland relativ konstant zwischen zehn und elf Millionen. Mehr als 85 Prozent von ihnen kommen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und China.

Die Entführungen usbekischer StaatsbürgerInnen durch den Geheimdienst sind ein Vorzeigebeispiel für die Rechtlosigkeit, in der viele MigrantInnen in Russland leben. Man braucht in Moskau nur mit der U-Bahn zu fahren, um zu sehen, nach welchen Kriterien Menschen von der Polizei angehalten und kontrolliert werden: Fast immer sind es Asiaten oder Kaukasierinnen.

Eine der wenigen, die sich seit langem für die Rechte der Rechtlosen einsetzt, ist Swetlana Gannuschkina (vgl. «Eine, die für die Rechtlosen kämpft» im Anschluss an diesen Text). Mit Gleichgesinnten hat sie das russlandweite Netzwerk Migration und Recht aufgebaut, das MigrantInnen Beratung und Unterstützung anbietet. Gerade einmal 800 anerkannte Flüchtlinge lebten in Russland, sagt Gannuschkina – ein grosser Teil von ihnen sind ehemalige Milizionäre der Sonderpolizei Berkut aus der Ukraine.

Dass MigrantInnen in Russland schlecht gestellt sind, zeigt sich nicht zuletzt an der steigenden Zahl der Ausschaffungen: Derweil 2012 insgesamt knapp 45 000 Personen ausgewiesen wurden, waren es im darauffolgenden Jahr bereits dreimal so viele. Entsprechende Gerichtsentscheide werden am Fliessband gefällt. So ist etwa der Fall eines Richters dokumentiert, der im Durchschnitt 22 Fälle pro Tag entschied. An manchen Tagen verfügte er sogar 60 Ausschaffungen – das Erstellen des Protokolls und das Ausfüllen der Formulare inbegriffen.

Die Behörden sind zudem dazu übergegangen, vermehrt Menschen an der Einreise nach Russland zu hindern. War vor dem Erlass eines entsprechenden Gesetzes Mitte 2013 etwa 74 000 Menschen die Einreise verweigert worden, waren es 2013 bereits knapp 500 000. Und 2014 durften rund 676 000 Personen nicht einreisen. Zwischen 2013 und 2015 wurde insgesamt gegen 1,6 Millionen Menschen ein Einreiseverbot verhängt – neunmal mehr als im Zeitraum 2012 bis 2014. Auch von dieser Politik sind besonders BürgerInnen aus Zentralasien betroffen.

Kein Recht auf Bildung

Einer von Swetlana Gannuschkinas MitarbeiterInnen, der Migrationsexperte Konstantin Troizki, berichtet von weiteren Schikanen, denen in Russland lebende MigrantInnen ausgesetzt sind. So könnten mindestens zwanzig Prozent der Kinder von MigrantInnen nicht die Schule besuchen, berichtet er. Obwohl die russische Verfassung allen Kindern in Russland eine Schulbildung garantiere, unterliefen die Lokalbehörden dieses Grundrecht. Wer sein Kind beispielsweise in einer Moskauer Schule anmelden will, kann das ausschliesslich über ein staatliches Onlineportal tun – unter Angabe der wohnbehördlichen Registrierung, die viele MigrantInnen gar nicht haben.

Und viele nichtregistrierte AusländerInnen schicken ihre Kinder schon deswegen nicht zur Schule, weil sie Angst haben, die Schulbehörden würden ihren Aufenthaltsort erfahren und an die Migrationsdienste weitergeben. Beispiele für eine Kooperation «im Kampf gegen die illegalen Ausländer» zwischen den Institutionen gebe es unzählige, sagt Troizki. Der Aktivist erzählt von der Stadt Noginsk im Ballungsgebiet Moskau, in der rund zwei Dutzend syrische Flüchtlinge leben. Die lokale Schulbehörde habe bisher die Aufnahme nichtregistrierter Kinder verweigert. Als der Direktor einer örtlichen Schule einem Flüchtling dennoch einen Schulplatz ermöglicht hatte, sei er abgemahnt worden.

Swetlana Gannuschkina, Menschenrechtlerin.

Der Menschenrechtler wirkt resigniert. «Immer wenn es irgendwo Auseinandersetzungen zwischen Russen und Nichtrussen gibt, heisst es, man müsse mehr für die Integration der Menschen tun, die nach Russland kommen. Doch in der Praxis werden vor allem die Kinder diskriminiert. Wie kann man überhaupt von Integration reden, wenn man den Migrantenkindern nicht einmal die Schulbildung ermöglicht?»

Alternativer Nobelpreis für Swetlana Gannuschkina : Eine, die für die Rechtlosen kämpft

Mit der Hand am Gewehr und eindeutiger Alkoholfahne betritt der georgische Grenzsoldat an der georgisch-aserbaidschanischen Grenze das Abteil des Nachtzugs Tbilisi–Baku. Er gibt sich keine Mühe, seine Unlust zu verbergen. «Sie waren also gestern in Armenien und meinen, heute nach Aserbaidschan zu müssen», fährt er die Passagiere im Abteil an. «Was wollen Sie eigentlich dort?» Alle halten den Atem an. Besser nichts sagen als etwas Falsches.

Dann ertönt aus der Ecke die fröhliche Stimme einer Frau. «Wir wollen, dass Armenier und Aserbaidschaner Freundschaft schliessen.» Der Soldat lacht über so viel Naivität. «Und was sollen wir Georgier mit den Osseten und Abchasen machen?», fragt er. «Auch Freundschaft schliessen», antwortet Swetlana Gannuschkina. Während er die Papiere prüft, schüttelt er immer wieder den Kopf. Eigentlich gebe er nur eine Sache den Osseten und Abchasen gerne, erklärt er, hebt dabei leicht sein Gewehr und zeigt auf den Lauf. «Kommen Sie bei uns in Georgien vorbei, wenn Sie es geschafft haben, Armenier und Aserbaidschaner zu Freunden zu machen», sagt er.

Gerne berichtet Gannuschkina von dieser Begegnung in den neunziger Jahren. Seit Beginn des bewaffneten Konflikts um das mehrheitlich von ArmenierInnen bewohnte Bergkarabach bemühte sich die heute 74-Jährige um Freundschaft zwischen Armenierinnen und Aserbaidschanern, organisierte immer wieder Kontakte zwischen VertreterInnen der Zivilgesellschaft. Als dann 1992 die ersten Kriegsflüchtlinge in Moskau eintrafen, ergriff die studierte Mathematikerin sofort die Initiative, überzeugte die Behörden davon, Wohnheime zur Verfügung zu stellen, und gründete noch im gleichen Jahr die Organisation Zivile Unterstützung.

Heute hat die Zivile Unterstützung ein grosses Büro in Moskau, in dem zwei Dutzend Dolmetscher, Beraterinnen, Betreuerinnen und Juristen arbeiten. Das Wartezimmer ist immer voller Menschen, die von der Organisation Hilfe erwarten: Armenier, Aserbaidschaner, Afrikanerinnen, Chinesen, Tschetscheninnen, Usbeken, Tadschiken, Ukrainerinnen. Seit 1996 ist Gannuschkina zudem Leiterin des bei der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial angesiedelten Netzwerks Migration und Recht. In 41 Beratungsstellen von Wladiwostok bis Tschetschenien bieten JuristInnen Flüchtlingen und Vertriebenen Beratung und Unterstützung.

Für ihr langjähriges Engagement für Flüchtlinge wird Gannuschkina heuer mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Es ist nicht ihr erster Preis. 2003 erhielt sie den Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International. 2004 wurde sie für das Netzwerk Migration und Recht mit dem Nansen Refugee Award des UNHCR geehrt. 2013 wurde sie «für ihre hartnäckige und mutige Arbeit beim Schutz der Menschenrechte in Russland» mit dem schwedischen Stieg-Larsson-Preis ausgezeichnet.

Bernhard Clasen