Durch den Monat mit Samira Marti (Teil 1): Sie kennen die tatsächlichen Interessen der Bevölkerung?

Nr. 40 –

Sie verliert an der Urne auf ganzer Linie und wird nach einem Auftritt in der «Arena» übelst sexistisch beschimpft. Warum sich die Jungsozialistin Samira Marti das antut und wie sie sich jetzt mit der transatlantischen Wirtschaftselite anlegt.

Samira Marti: «Das ist eine logische ökonomische Analyse.»

WOZ: Samira Marti, Sie waren Juso-Kampagnenleiterin gegen das neue Nachrichtendienstgesetz und haben für die AHV-plus-Initiative gekämpft. Beide Abstimmungen haben Sie deutlich verloren. Wieso tun Sie sich das an?
Samira Marti: Als Linke in diesem Land gehört es dazu, auf der Verliererseite zu stehen. Ich ziehe daraus den Ansporn, dranzubleiben – etwa wenn ich sehe, wie die Bevölkerung gegen ihre eigenen Interessen stimmt.

Sie kennen die tatsächlichen Interessen der Bevölkerung?
Das ist eine logische ökonomische Analyse. Die Debatte um «AHV plus» zeigte: Die Leute wissen, dass heute ein Risiko für Altersarmut besteht. Aber es fehlt ihnen der Glaube, dass die Gesellschaft dem entgegenwirken kann. Vielmehr zeigt sich ein verbreiteter Marktkonformismus als Folge einer Wirtschaftspolitik, die seit Jahrzehnten dieses Land prägt und der Bevölkerung Alternativlosigkeit einbläut. Hier müssen wir deutlich machen, dass diese Wirtschaftspolitik dem menschlichen Wohl widerspricht. Wir müssen die Vision einer solidarischen Gesellschaft vorwärtsbringen.

Wieso gelang es der Linken nicht, im Vorfeld der letzten Abstimmungen diese Gegenerzählung in den Köpfen der Leute zu verankern?
Es braucht eine ganzheitliche Erzählung einer demokratischen, solidarischen und nachhaltigen Wirtschaft, nicht bloss punktuelles Aufzeigen von Alternativen. Die Linke sollte in diesem Land und international wieder stärker Kapitalismuskritik üben. Ich bin überzeugt, dass zweigleisig gefahren werden muss: Einerseits muss die Alltagspolitik im Zentrum stehen, um reale Verbesserungen für die Bevölkerung voranzubringen, andererseits muss man aufzeigen, wie die Wirtschaft nach dem Kapitalismus organisiert sein könnte. Ohne diese zweite Schiene bringt die Alltagspolitik nur wenig.

Im Abstimmungskampf zu «AHV plus» redeten insbesondere alte Männer darüber, was die junge Generation will, was Sie ja auch in der «Arena» kritisiert haben. Wie schwierig ist es, als junge Frau in der Politik Gehör zu finden?
Das ist definitiv schwierig. Beispielsweise betrafen sechzig Prozent der Reaktionen auf meinen «Arena»-Auftritt mein Aussehen – negativ wie positiv. Ich erhielt auch durch und durch sexistische Hassmails und Anrufe. Jemand schrieb, früher seien die Frauen in der Stube geblieben, und eigentlich gehöre jemand wie ich ins Rotlichtviertel. Dies sehe ich nicht nur als Angriff gegen mich als Linke, sondern explizit auf mich als Frau, die sich in die politische Debatte einmischt.

Stossen Sie darüber Diskussionen an?
Es gibt wenige Diskussionen dazu. Auch innerhalb der Linken höre ich häufig, dass es wichtigere Probleme gebe als Alltagssexismus. Mit einer feministischen Perspektive stösst man generell häufig auf Abwehr.

Die Wahlen im Herbst 2015 haben einen Rechtsrutsch gebracht. Das hat sich bei den letzten Abstimmungen und in der jüngsten Herbstsession drastisch gezeigt. Die Linke kann jeweils reagieren, aber nicht mehr agieren. Wäre für die Linke nicht der Gang in die Opposition sinnvoller?
Die SP hat die Oppositionspolitik gross angekündigt. Dies ist aber bloss halb konsequent, solange sie Exekutivmitglieder stellt. Ich selbst finde es sekundär, ob wir die Leute im Bundesrat behalten oder nicht, aber es braucht eine Diskussion über Vor- und Nachteile der Regierungsbeteiligung innerhalb der Partei und über ein kritisch-unabhängiges Verhältnis zu den SP-Bundesräten. Aus meiner Sicht politisiert der rechte Teil der Fraktion zu autonom und oft an der Parteilinie vorbei. Die Juso fordert deswegen, die Parteibasis über Urabstimmungen zum Beispiel bei Bundesratskandidaturen stärker miteinzubeziehen.

Sie selbst vertreten eine prononciert linke Linie. Wäre es nicht konsequenter, dass Sie sich ausserhalb der SP für Ihre Visionen einsetzen?
Organisationen links der SP können zwar die Diskurslogik verändern, aber sie können die Sozialdemokratie mit ihrer langen Tradition nicht ersetzen. Ich bin überzeugt, dass wir im Kampf für eine demokratische und solidarische Gesellschaft eine linke SP mit im Boot brauchen.

Zu diesem Kampf gehört auch der Widerstand gegen Freihandelsabkommen wie TTIP und Tisa. Diesen Samstag findet in Bern eine Demonstration dagegen statt. Ein komplexes Thema, das schwierig zu vermitteln ist. Wie mobilisieren Sie die Leute?
Ich sehe ein riesiges Empörungspotenzial, obwohl es um komplizierte und intransparente Vorlagen geht. Gerade in der Schweiz mit ihrer demokratischen Tradition stösst es auf Widerstand, wenn eine kleine Wirtschaftselite ihre eigenen Spielregeln aufstellt und die traditionellen demokratischen Institutionen übergeht.

Die deutsche Sozialdemokratie hat kürzlich dem Freihandelsabkommen Ceta zwischen Kanada und der EU zugestimmt. Wie passt das mit Ihrem Engagement gegen Freihandelsabkommen zusammen?
Dies zeigt den historischen Tiefpunkt, an dem die europäische Sozialdemokratie angelangt ist. Die Entwicklung der SPD zeigt, dass sozialdemokratischer Opportunismus nicht erfolgreich ist. Dies müssen wir uns in der SP Schweiz zu Herzen nehmen.

Samira Marti (22) findet in der Musik einen Ausgleich zum stressigen Politalltag – dank E-Piano und Kopfhörer auch bis tief in die Nacht.