Standpunkt von Matyas Sagi-Kiss: Versauern und hübsche Kalender basteln

Nr. 40 –

Die Zürcher Regierung will Menschen mit Behinderung quasi unter Hausarrest stellen – aus Spargründen. Acht Millionen Franken würden der Stiftung Pro Mobil gestrichen, die Behinderte etwa zum Einkaufen oder ins Kino fährt. Die Brandrede eines betroffenen Studenten.

Matyas Sagi-Kiss

Der Zürcher Regierungsrat hat im Frühjahr entschieden, wo gespart werden soll. Zum Beispiel beim Behindertentransport, den im Kanton Zürich die Stiftung Pro Mobil gewährleistet. Die Kantonsregierung meint, es sei angebracht, die Mobilität und damit die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben derart einzuschränken, dass wir im Idealfall gerade mal eine Ausfahrt pro Woche machen dürfen. Wer muss schon einkaufen, sich mit Freunden zum Essen treffen oder ins Kino gehen? Und das noch in derselben Woche?! Wir Menschen mit Behinderung – so scheint der Regierungsrat überzeugt zu sein – jedenfalls nicht.

Übersetzt heisst das wohl, wir sollen dorthin, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, und froh sein, wenn wir in Begleitung von Fachpersonal einen hübschen Adventskalender basteln dürfen. Ob wir zu Hause versauern oder ob wir über kurz oder lang angesichts der Isolation in eine Depression verfallen, ist allem Anschein nach egal. Wie sonst käme der Regierungsrat zum Schluss, dass eine solch radikale Kürzungsmassnahme zulasten von uns Personen mit Behinderung tragbar sei?

Im Jahr 2014 hat die Schweiz die Uno-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Damit hat sie sich auch verpflichtet, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben von Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Wie sich der Hausarrest für uns Betroffene mit Behinderung, der durch diese Kürzungsmassnahmen verhängt wird, damit vereinbaren lässt, ist mir ein Rätsel. Vielleicht dachte sich der Regierungsrat, Menschen mit Behinderung gehen eh alle um 18 Uhr ins Bett und sind zufrieden, wenn sie vor dem Einschlafen noch einen Kamillentee trinken dürfen.

Lieber Almosen und Benefiz

Wir Menschen mit Behinderung sollen unsere Ansprüche zurückschrauben wie alle anderen auch. Das hören wir immer wieder, als ob uns die übrigen Kürzungsmassnahmen auf Volks-, Berufs- und Hochschulebene sowie im Gesundheitswesen tatsächlich nicht betreffen würden und wir eine Spezies für uns selbst wären. Dabei sind wir doch alles andere als durchsichtig oder leicht zu übersehen, jedenfalls bin ich dies bei meinem Studium an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur nicht.

Mit seinen Kürzungen will der Regierungsrat die Zeit zurückdrehen. Fein säuberlich separiert von der sogenannt normalen Gesellschaft, mit gelegentlichen Benefizveranstaltungen zu unseren Gunsten versteht sich, so mag uns die Regierung vermutlich. Diesen Eindruck hinterlässt sie mit der beschlossenen Kürzungsmassnahme jedenfalls.

Es werden uns dann mittels der erwähnten Benefizveranstaltungen – ob wir wollen oder nicht – zum Beispiel ein Flug mit dem Heissluftballon oder ein Schoggistängeli gesponsert, und wir haben gefälligst in demütiger Dankbarkeit die milden Gaben freudig anzunehmen. Wer nicht mitspielt, gilt schnell als undankbar und verbittert beziehungsweise als sozial nicht kompatibel. Als Reaktion heisst es dann nicht selten: «Däne gahts ja vill z guet – wär ned wott, het gha» – und schon fühlt man sich in seinem Leistungskürzungswahn wieder bestätigt und kann sich erst noch als jemand bezeichnen, der sich für Karitatives engagiere. Der Heiligenschein ist quasi inbegriffen.

Man sieht uns als Empfängerinnen und Empfänger von Almosen, statt unser Recht auf ein Minimum an Mobilität anzuerkennen. So etwas wie ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe scheint man nicht kennen zu wollen. «Wir sind schliesslich in der Schweiz und nicht in Skandinavien, es wäre ja noch schöner, wenn bei uns eine Vollkaskomentalität Einzug halten würde», heisst es in letzter Zeit des Öfteren aus den Reihen jener, die sich bürgerlich nennen.

Barrierefreier ÖV reicht nicht

Auch ein völlig barrierefreier öffentlichen Verkehr (ÖV) – von dem wir noch ziemlich weit entfernt sind – hilft uns Menschen mit Behinderung in vielen Situationen nicht weiter und macht die geplanten Kürzungen nicht wesentlich erträglicher. Viele von uns können aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigungen den ÖV beim besten Willen nicht benutzen, viele sind auf die Dienste von Pro Mobil angewiesen. Selbst ich, der ich sehr mobil bin, brauche beispielsweise im Winter oder bei Regen Hilfe, um mir nicht jedes Mal eine Erkältung oder gar eine Grippe einzufangen.

Am liebsten wäre es dem Regierungsrat wohl, wenn diese Kürzungsmassnahme widerstandslos hingenommen würde. Er hatte sich vielleicht gedacht, es könne zu keinem sichtbaren Widerstand kommen, weil Menschen mit Behinderung ja nicht so mobil und aktiv seien wie andere Bevölkerungsgruppen und sich daher nicht so gut zur Wehr setzen könnten.

Dennoch haben einige von uns es geschafft, heute hier im Zentrum von Zürich zu erscheinen, um gegen diese Kürzungsmassnahme bei Pro Mobil zu protestieren. Wir ergeben uns nicht kampflos! Wir sind keine anonyme Masse, sondern haben Gesichter sowie Freunde und Familie, die heute hier sind, um zu sagen: So nicht! Wir hoffen sehr, dass sich der Regierungsrat diese Massnahme nochmals überlegt und sie aus Überzeugung zurücknimmt.

Matyas Sagi-Kiss studiert Wirtschaftsrecht an der ZHAW in Winterthur. Der 33-Jährige ist Mitglied der SP und der Behindertenkonferenz Kanton Zürich. Der abgedruckte Standpunkt ist eine gekürzte Version einer Rede, die der zerebral gelähmte Sagi-Kiss am 28. September an der Demo des Bündnisses «Abbau stoppen» hielt.

Das Zürcher Sparpaket

1,8 Milliarden Franken will der Zürcher Regierungsrat in den kommenden drei Jahren sparen. Das Sparpaket umfasst insgesamt 125 Massnahmen. Besonders betroffen von den Leistungskürzungen sind der Gesundheits- sowie der Bildungssektor.

Gespart wird auch auf Kosten der Mobilität von Menschen mit Behinderung: Der Stiftung Pro Mobil, die Behindertentransporte organisiert, werden acht Millionen Franken gestrichen. Das entspricht einer Reduktion der heute annähernd 300 000 Fahrten um sechzig Prozent.

Nachtrag vom 15. Dezember 2016 : Kleiner Lichtblick im Zürcher Sparwahn

Die Namen klingen harmlos: «Konsolidierungsprogramm» (Kanton Luzern), «Entlastung des Staatshaushaltes» (Kanton Schaffhausen) oder «Leistungsüberprüfung» (Kanton Zürich). Doch dahinter stecken knallharte Sparpakete.

Das zeigt sich zurzeit im Zürcher Kantonsrat, wo eine mehrtägige Budgetdebatte läuft. Sie steht komplett im Zeichen der «Leistungsüberprüfung», was übersetzt heisst: Es wird gespart, wo es nur möglich ist – und dank einer soliden bürgerlichen Mehrheit im Kantonsrat ist es eigentlich überall möglich: Bereits beschlossen sind etwa Kürzungen bei den Gerichten und Behinderteneinrichtungen, Beiträge an die dezentrale Drogenhilfe wurden gleich ganz gestrichen. Das war erst der Anfang, die Budgetdebatte wird nächste Woche fortgesetzt.

Es gibt im bürgerlichen Sparwahn aber auch einen kleinen Lichtblick: Der Kantonsrat entschied am Dienstag, dass die Stiftung Pro Mobil, die Behindertentransporte organisiert, eine Million Franken mehr erhalten soll als geplant. «Ich bin sehr zufrieden», sagt Matyas Sagi-Kiss. Der 33-jährige zerebral gelähmte Wirtschaftsrechtstudent verfolgte die Debatte von der Parlamentstribüne aus, wohin ihn die Polizei begleiten musste: «Der Rollstuhllift war kaputt.» Sagi-Kiss hielt Ende September an der Demo des Bündnisses «Abbau stoppen» eine viel beachtete Brandrede gegen den drohenden Mobilitätsabbau für Behinderte. Es war nicht zuletzt der sichtbare Widerstand der Behindertenorganisationen gegen die geplante Kürzung bei Pro Mobil, der nun für das entscheidende Umdenken der FDP sorgte.

«Ich übe selektive Wahrnehmung», sagt Sagi-Kiss, der SP-Mitglied ist, «denn vom persönlichen Erfolgserlebnis abgesehen, ist die Budgetdebatte eine einzige Katastrophe.»

Jan Jirát