Neuer Uno-Generalsekretär: Nicht kaputt, aber pleite

Nr. 41 –

Der Portugiese António Guterres hat zehn Jahre lang das Uno-Flüchtlingshilfswerk geführt. Als neuer Uno-Generalsekretär muss er auch aus seinen Fehlern lernen.

Als Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon dem Mann, der ihm am 1. Januar nachfolgen wird, zu seiner Wahl gratulierte, hob er dessen jahrelangen Einsatz für Flüchtlinge als besondere Qualifikation hervor. Rund um die Uhr habe António Guterres für die Bewältigung der Flüchtlingskrise gearbeitet, so Ban. Damit sei er der Richtige, um die Vereinten Nationen in einer entscheidenden Phase zu führen. Doch hat António Guterres bei der Massenflucht nach Europa im vergangenen Jahr tatsächlich so geglänzt, wie Ban es glauben machen will?

In Genf, wo Guterres zwischen 2005 und 2015 als Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge arbeitete, sind nicht alle dieser Meinung. Schuld an den Zweifeln ist nicht zuletzt Guterres selbst. Während der letzten Monate in seiner Funktion als Hochkommissar wirkte der heute 67-jährige Portugiese geradezu mutlos, angeschlagen, ratlos. Seine Abschiedsrede vor dem Exekutivrat der Organisation im Oktober 2015 klang wie ein Offenbarungseid: «Wir sind nicht länger in der Lage, auch nur das absolute Minimum an Schutz und Überlebenshilfe zu leisten und die menschliche Würde derjenigen zu schützen, die unsere Hilfe brauchen.» Zwar leiste das humanitäre Hilfssystem weit mehr, als seine KritikerInnen ihm bescheinigten, befand Guterres, doch seine Bilanz war nicht besonders optimistisch: «Das humanitäre System ist nicht kaputt, aber es ist pleite.»

Europas Verantwortung

Die seit Jahren andauernde Finanznot ist sicher ein Grund dafür, dass das UNHCR im vergangenen Sommer so zögerlich und spät in Erscheinung trat. Als mehr Flüchtlinge denn je zuvor die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer nach Griechenland auf sich nahmen, kümmerte sich Efi Latsoudi auf der Insel Lesbos ehrenamtlich um die besonders Hilfsbedürftigen. Das UNHCR hat sie für ihr unermüdliches Engagement gerade erst mit einem Preis ausgezeichnet. Doch geholfen habe die Organisation ihr und ihren MitstreiterInnen auf dem Höhepunkt der Krise kaum, sagt Latsoudi. «Wir haben uns sehr oft alleingelassen gefühlt. Die Behörden haben uns mehr Steine in den Weg gelegt als geholfen, wir hätten mehr Unterstützung von den grossen Organisationen erwartet.» Das UNHCR verschanzte sich in Athen, vor Ort liess sich niemand blicken.

Guterres selbst hatte schon im April 2015 gewarnt: «Wir können Menschen, die um ihr Leben fürchten, nicht von der Flucht abhalten – sie werden kommen. Wir können nur entscheiden, wie gut und wie human wir sie empfangen.» Doch nicht nur auf Griechenlands Inseln, auch an Grenzübergängen und in Lagern auf der sogenannten Balkanroute herrschte Monate später blankes Chaos.

Melissa Fleming, Chefsprecherin des UNHCR, räumt heute ein, dass ihre Organisation die lokalen HelferInnen anfangs alleingelassen habe. «Als die Flüchtlinge nach Europa kamen, haben wir zunächst sehr gezögert, uns zu engagieren», sagt sie. «Unsere Leute sind schon in Entwicklungsländern absolut überlastet, wo wir zu wenig Geld und zu viel Not haben. Dass wir im reichen Europa helfen müssten, haben wir nicht erwartet. Wir hielten das für Europas Verantwortung.» Europa habe zudem nicht nur Geld, sondern auch Pläne in der Schublade liegen gehabt, so Fleming. Allein der politische Wille, sie umzusetzen, habe gefehlt. Das UNHCR griff erst ein, als es beinahe zu spät war.

Genau das kritisiert Alexander Casella, bis zu seiner Pensionierung 1996 UNHCR-Direktor für Asien. Als er in den siebziger Jahren in Vietnam gearbeitet habe, sei das Flüchtlingshilfswerk noch vorangegangen. «Keine Regierung wollte, dass wir in Vietnam aktiv werden – das haben wir selbst entschieden. Die Regierungen sind uns gefolgt», sagt Casella heute. Er ist überzeugt: «Regierungen haben selten eine grosse Fantasie, jemand muss die Führung übernehmen.» Genau das aber sei in der jüngsten Flüchtlingskrise nicht der Fall gewesen: «Nichts ist passiert, es gab keinen Plan. Wenn Sie mich fragen, ist die Führungsrolle des UNHCR vorbei.»

Die für Flüchtlingsfragen zuständige Organisation der Uno ist seit ihrer Gründung 1950 stark gewachsen: Fast 10 000 Angestellte hat das UNHCR heute. Der Jahresetat ist von 300 000 US-Dollar im ersten Jahr auf zuletzt 7 Milliarden gestiegen. Zu viel davon fliesse in die Bürokratie, kritisiert Casella. «Als ich beim UNHCR war, gab es zwei hochrangige Direktorenposten. Heute müssen es gut dreissig sein. Es gibt mehr Beförderungen, mehr Gehälter, höhere Dienstgrade – es sind aber Leute, die wie Maschinen arbeiten, anstatt nachzudenken oder neue Lösungen zu finden.»

Wachsende Abhängigkeit

Hat António Guterres das UNHCR mehr verwaltet als gestaltet? Als er im Juni 2005 von Kofi Annan ernannt wurde, gab er sich entschlossen. Er wünsche sich, dass die reicheren Länder der Welt zu ihrer Verantwortung gegenüber Flüchtlingen stünden, erklärte er damals. Guterres straffte die Verwaltung, entliess jede fünfte angestellte Person in der Genfer Zentrale. Er führte eine transparentere Budgetierung ein, um schneller auf Krisen reagieren zu können. Und diese liessen nicht lange auf sich warten. Bei seinem ersten Flüchtlingsbericht 2006 konnte Guterres noch verkünden, dass die Flüchtlingszahl auf den niedrigsten Wert seit 25 Jahren gesunken sei.

Als Guterres ging, gab es dagegen so viele Flüchtlinge auf der Welt wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Und mit jedem Dollar, den das UNHCR mehr brauchte, wuchs die Abhängigkeit von den Geberländern – überwiegend Staaten, die in der aktuellen Flüchtlingskrise versagt haben. Der Präsident der Schweizer Sektion von Médecins Sans Frontières, Thomas Nierle, sprach vor dem Flüchtlingsgipfel im September in New York von einer extrem schwierigen Situation für die Vereinten Nationen: «Einerseits sollen sie Druck ausüben, andererseits sind sie extrem abhängig von den Geberländern – wenn sie etwas Unschönes sagen, wird der Hahn eben noch weiter zugedreht.»

Vieles spricht dafür, dass der Humanist und Sozialist Guterres im Sommer 2015 erkennen musste, dass er in der überwiegend von RechtspopulistInnen geprägten Stimmung dem geballten politischen Widerstand europäischer Regierungen nichts entgegenzusetzen hatte. Im September 2015 musste die Uno Flüchtlingen in Syriens Nachbarstaaten sogar Lebensmittelrationen streichen, weil die Kassen leer waren.

Dass der neue UNHCR-Chef Filippo Grandi als Erstes ankündigte, er werde früher als bisher die politischen Ursachen von Flucht bekämpfen, könnte eine Lehre sein, die ihm sein Vorgänger mitgegeben hat – und die Guterres selbst mitnimmt ins höchste Amt, das die Uno zu vergeben hat. Die Angst bei seinen GegnerInnen ist dabei offenbar grösser als das Zutrauen seiner UnterstützerInnen: Ultrakonservative KommentatorInnen beschimpften Guterres nach seiner Wahl etwa als Islamistenfreund, der Staaten verbieten werde, ihre Grenzen zu schützen.

Wie einst im Kalten Krieg

António Guterres wird Kampfgeist brauchen, um die Uno aus ihrer drohenden Legitimationskrise zu lotsen. Er selbst zählte bei seiner Wahlrede die wichtigsten Probleme auf, die er jetzt lösen muss: wachsende globale Ungerechtigkeit, Terrorismus und organisierte Kriminalität, Klimawandel und die Ausbreitung bewaffneter Gruppen über Grenzen hinweg. «Die Vereinten Nationen sind in der einmaligen Lage, die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen», so Guterres. Allerdings brauche es dafür Reformen. Wohl für kein Uno-Gremium gilt das so sehr wie für den Sicherheitsrat, der trotz der seltenen Einigkeit bei der Wahl von Guterres die Lösung der Weltprobleme derzeit so stark blockiert wie zu Zeiten des Kalten Kriegs. Selbst einer der geschicktesten Generalsekretäre der jüngsten Zeit, Kofi Annan, biss sich an einem Umbau des Gremiums die Zähne aus.

Ob Guterres mehr Glück hat, dürfte nicht zuletzt davon abhängen, ob er aus seinen Fehlern in der Flüchtlingskrise die richtigen Konsequenzen gezogen hat.