Russlands Ferner Osten: Dort, wo Moskau weit weg ist

Nr. 41 –

Weil das Verhältnis zum Westen zurzeit ziemlich schlecht ist, propagiert die russische Regierung lautstark eine «Wende nach Osten». Doch die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und China sind alles andere als einfach. Ein Besuch an der Grenze.

Nicht einmal ein Prozent binationale Ehen: Im chinesischen Heihe drüben wird immerhin zusammen geshoppt. Foto: ZUMA Press, Alamy Stock

Die Bässe wummern, die Sängerin im grauen Abendkleid stimmt in voller Lautstärke einen russischen Schlager an. Noch etwas zurückhaltend bewegen sich die ersten Gäste auf der in violettes Scheinwerferlicht getauchten Tanzfläche im 16. Stock des Hotels Asia in Blagoweschtschensk. Vor den Fenstern des Drehrestaurants ziehen langsam die Dächer der Stadt vorbei. Am Horizont leuchten ein Riesenrad und ein Fernsehturm – beide befinden sich in Heihe, der Stadt hinter der chinesischen Grenze. Die meisten Gäste haben jedoch eher Augen für das Buffet als für den spektakulären Ausblick. Im Restaurant des Hotels Asia gibt es gemischte Küche: kalte Lachsröllchen zur Vorspeise, dazu allerlei Frittiertes mit Reis.

Kaum irgendwo sind sich Russland und China so nah wie in Blagoweschtschensk, 7800 Kilometer östlich von Moskau. Einzig der Amurfluss trennt die beiden Länder voneinander. «Früher war da drüben nur eine kleine Siedlung», erzählt Alexander Kudrin, der mit zwei Kollegen in Blagoweschtschensk am Ufer steht und fischt. In China war Kudrin noch nie. Hier sei es doch auch schön, meint er, und gibt sich unbeeindruckt von der bunten Skyline aus Hochhäusern, Fernsehturm und Riesenrad, die sich im gemächlich dahinfliessenden Fluss spiegelt.

Zwar führt über den Amur keine Brücke, doch die Fähre erreicht nach zehnminütiger Fahrt Heihe. Zu Sowjetzeiten war die Grenze noch streng bewacht, heute brauchen AnwohnerInnen für einen Kurzbesuch nicht einmal mehr ein Visum. Viele in der Region Amur, zu der Blagoweschtschensk mit seinen 215 000 EinwohnerInnen gehört, verdienen am Import und Verkauf chinesischer Waren. Den HändlerInnen, die regelmässig über den Fluss pendeln, wurde in Blagoweschtschensk gar ein Denkmal errichtet: eine Figur mit Koffer und Kiste auf der Schulter, die mit Riesenschritten in Richtung China unterwegs ist.

In Heihe hat man sich derweil auf den Grenzverkehr aus Russland eingestellt. Die Fahrt ins Stadtzentrum führt vorbei an einer Reihe überdimensionaler Matrjoschka-Figuren, auf riesigen Plakaten preisen ÄrztInnen ihre Dienste auf Russisch an, und im Stadtzentrum gibt es ein Restaurant Putin. Auf dem zentralen Markt werden DVDs, Sonnenbrillen, Haushaltsgeräte und Kleider verkauft. Potenzielle KundInnen sind jedoch kaum zu sehen. «Die russische Wirtschaft ist in der Krise, der Rubel ist schwach. Deshalb kommen zurzeit weniger Leute», erzählt die Besitzerin eines Teegeschäfts, die sich als Anja vorstellt, in gebrochenem Russisch. Reden mag sie aber einzig über ihr Geschäft und darüber, ob wir etwas kaufen wollen. Weiteren Fragen zum Alltagsleben in der Grenzregion weicht sie aus.

Ambitionierte Projekte

In den letzten Jahren erlebte Heihe einen Bauboom; moderne Hochhäuser und Einkaufszentren prägen das Stadtbild. Im Zentrum von Blagoweschtschensk bröckelt derweil der Putz. Plattenbauten wechseln sich mit einstöckigen Holzhäusern ab, auf den meisten Baustellen steht die Arbeit still. Russlands Ferner Osten ist überwiegend arm. Die milliardenschweren Subventionen aus Moskau fliessen hauptsächlich in diejenigen Gebiete, in denen Rohstoffkonzerne ihre Minen oder Raffinerien unterhalten.

Im Rest der Region ist die Infrastruktur nur mangelhaft ausgebaut, und es fehlt an Arbeitsplätzen. In der Oblast Amur betrug der Durchschnittslohn 2015 monatlich umgerechnet rund 450 Franken. Die Preise für Lebensmittel steigen derweil immer weiter, Wohnungen kosten beinahe so viel wie in Moskau. Nur noch wenig mehr als sechs Millionen Menschen leben auf einem Gebiet, das 36 Prozent der Fläche Russlands umfasst. Fast jedeR Zweite würde laut einer aktuellen Umfrage gerne wegziehen. Deshalb hofft Russland auf Gelder aus China. Seit der Westen 2014 infolge der Ukrainekrise Sanktionen gegen Russland verhängt hat, werden hochrangige PolitikerInnen in Moskau nicht müde, eine Wende des Landes nach Asien zu beschwören.

He Wenan will von Krise nichts hören. Stolz präsentiert der chinesische Bauunternehmer in Blagoweschtschensk das Modell seines Projekts «Klein-Venedig». Der riesige Marmortisch, auf dem die Miniaturversion der italienischen Lagunenstadt aufgebaut ist, nimmt in seinem Büro fast den gesamten Platz ein. Rasch räumt He noch einen neongelben Eiffelturm aus Plastik weg, der neben dem Markusturm steht. Nach seiner Eröffnung in fünf Jahren soll der umgerechnet 89 Millionen Franken teure Komplex aus Einkaufszentren, Hotels und Kanälen zu einer der grössten Attraktionen im russischen Fernen Osten werden.

Der Unternehmer arbeitet schon lange in Russland. Heute ist der unauffällige Mann mit Schnurrbart einer der grössten Investoren in der Stadt, besitzt neben dem Hotel Asia mehrere Wohnhäuser und Einkaufszentren. Während der Perestroika sei er aus Heihe nach Blagoweschtschensk zum Arbeiten entsandt worden, erzählt He, während er in seinem riesigen weissen SUV zu den Klängen von Céline Dion zur Baustelle von «Klein-Venedig» fährt. Zu sehen ist vom ambitionierten Projekt dort bislang jedoch kaum etwas. Die zwei Palazzi, die hier entstehen sollen, werden von den benachbarten Plattenbauten überragt. Die Frage, wo es sich besser leben lässt, wischt He weg. Der Wohnort sei ihm nicht wichtig. «In Russland musst du nur regelmässig deine Steuern zahlen, dann kannst du gut Geschäfte machen», sagt er.

Insgesamt investiert China bislang jedoch äusserst zurückhaltend bei seinem nördlichen Nachbarn. Nicht einmal ein Prozent der gesamten chinesischen Auslandsinvestitionen ging im vergangenen Jahr nach Russland. Und in Blagoweschtschensk begegnet so mancher der «Wende nach Osten» mit Misstrauen und Vorurteilen. Beijing verfolge nur seine eigenen wirtschaftlichen Interessen, Moskau gelinge es nicht, seine Ansprüche durchzusetzen, ist oft zu hören.

Viele befürchten auch einen Ausverkauf der Ressourcen: «Wir liefern Energie günstiger nach China, als die Menschen hier für ihren Strom bezahlen müssen», kritisiert Natalja Kalinina, Vorsitzende der liberalen Oppositionspartei Jabloko in Blagoweschtschensk. Holz, Rohstoffe, Getreide – alles werde nach China exportiert. Von der in Moskau propagierten «Wende nach Osten» profitiere die Bevölkerung nicht, meint die 38-jährige Politikerin. Die UnternehmerInnen zögen ihre Profite lieber nach Moskau ab, anstatt sie in der Region zu investieren. Währenddessen leidet die Bevölkerung unter der Wirtschaftskrise, die das Land erfasst hat. In einigen Städten war im vergangenen Winter nicht einmal mehr genügend Geld vorhanden, um öffentliche Gebäude zu beheizen.

Keine Existenz ohne China

Das Gefühl, von Moskau im Stich gelassen worden zu sein, vermischt sich mit Ressentiments gegenüber den chinesischen NachbarInnen: Populistische Stimmen sprechen von einer «chinesischen Kolonialisierung» des russischen Fernen Ostens und sehen die «russische Identität» der Region bedroht. Und auch wenn das Zusammenleben zwischen RussInnen und ChinesInnen in Blagoweschtschensk meist ohne Probleme verläuft, bleiben viele auf Distanz. Weniger als ein Prozent der hier geschlossenen Ehen sei binational, erzählt Olga Zalesskaja, Sinologin und Dekanin der Pädagogischen Hochschule in Blagoweschtschensk. Auch ihre Studierenden blieben lieber unter sich, Freundschaften zwischen RussInnen und ChinesInnen seien selten.

Seit der Wende habe sich das Verhältnis zwischen den beiden Ländern jedoch stetig verbessert, so Zalesskaja. Auch das Interesse an Sprachkursen wachse. Vor allem die junge Generation erhoffe sich von einem Abschluss in Chinesisch bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt – gerade im Tourismussektor werden Sprachkenntnisse gebraucht. Vor dem Büro der Dekanin hängen rote Chinalämpchen, das staatliche chinesische Konfuzius-Institut bewirbt in Hochglanzbroschüren Sehenswürdigkeiten des Landes und traditionelle chinesische Familienwerte. Heute verstünden die RussInnen, dass sie ohne Beziehungen zu China nicht existieren können, meint sie.

Alexander Kuschnir hat in China Sinologie studiert. Einfach gefallen sei ihm das Leben dort nicht immer, erzählt er. Die Menschen in China seien sich etwa gewohnt, in Gesprächen viel persönlichere Fragen zu stellen, als das in Russland üblich sei. Immer wieder sei es im Alltag daher zu Missverständnissen gekommen. Nun unterrichtet Kuschnir an der Universität Wladiwostok.

Wie viele ChinesInnen permanent im russischen Fernen Osten leben, lässt sich nur schwer schätzen: 2015 sind rund 9000 chinesische StaatsbürgerInnen auf das Gebiet der Russischen Föderation eingereist, im Grenzgebiet arbeiten viele aber auch illegal. Meist bleiben die MigrantInnen nur für einen kurzen Zeitraum und verlassen das Land dann wieder. In Wladiwostok müssten sich die BewohnerInnen mit dem Nachbarn China arrangieren, meint Kuschnir. Schlussendlich sei Moskau sehr weit weg – und ein Billett in die Hauptstadt koste in etwa doppelt so viel wie eines nach Seoul oder Tokio, die sich beide in zwei Stunden mit dem Flugzeug erreichen lassen.

Im sehr fernen Osten Karte: WOZ

Zurück in Heihe legt die Fähre in Richtung Blagoweschtschensk ab. Die Menschen kehren vom Sonntagsausflug zurück, trinken ein Bier auf dem Sonnendeck. Das Schiff ist voll mit Koffern, Kisten und den charakteristischen Plastiktaschen mit Karomuster. Chinesen und Russinnen reisen dabei jedoch nicht gemeinsam, sondern benutzen zwei separate Boote. Während der Überfahrt singt eine Sängerin im Radio voller Pathos: »Mein Weg wird kein leichter sein.» Das Gleiche könnte man auch für die Beziehung zwischen Russland und China im Fernen Osten sagen.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen