Krise der Demokratie: Dirty Donalds überall

Nr. 45 –

Nicht nur in den USA, sondern auch weltweit steht das Modell der liberalen Demokratie unter Druck. Nun müssen europäische Staaten mit einer Erneuerung demokratischer Werte vorangehen.

Mit Donald Trump ist ein Mann US-Präsident geworden, der die Demokratie nicht als Wert anerkennt, sondern als Vehikel nutzte, um an die Macht zu kommen. Im Wahlkampf deutete er an, das Wahlergebnis nur im Fall eines Siegs anzuerkennen; er forderte seine AnhängerInnen unverhohlen dazu auf, Minderheiten bei der Ausübung ihres Wahlrechts zu behindern und notfalls zu den Waffen zu greifen, um eine «illegitime» Clinton-Regierung zu beseitigen. Das spricht für zutiefst antidemokratische Werte. Und das Wahlergebnis zeigt, dass sich eine Mehrheit der WählerInnen daran zumindest nicht stört.

Europa machts vor

Auch wenn Trump sich nun in seiner Siegesrede als versöhnlicher Gewinner gab: Auf den schmutzigsten Wahlkampf aller Zeiten werden mindestens vier Jahre schmutzigster Politik folgen. Ob er nun will oder nicht: Als gewählter Held der erstarkten Kräfte des rechten Antiestablishments wird Trump in der Rolle des «Dirty Donald» gefangen bleiben, der den versprochenen Rachefeldzug gegen die Elite zu Ende bringen muss. Das wird nicht gehen, ohne weiter an den jahrhundertealten demokratischen und republikanischen Grundpfeilern der USA zu sägen. Es ist kein Ende des Albtraums in Sicht.

Und damit erst recht kein «Ende der Geschichte». Ein solches hatte der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama nach der Implosion des Realsozialismus zu Beginn der neunziger Jahre ausgerufen: Nun würde sich das westlich-kapitalistische Modell einer liberalen Demokratie weltweit durchsetzen und für immer bestehen bleiben. Der Historiker Eric Hobsbawm kam zur gleichen Zeit zu einer anderen Erkenntnis: In seinem Buch zum «kurzen Jahrhundert 1914–1991», das er das «Zeitalter der Extreme» nannte, schrieb er: «Die Welt könnte leider wieder in eine Periode eintreten, in der die Vorteile einer liberalen Demokratie nicht mehr so offensichtlich erscheinen, wie das zwischen 1950 und 1990 der Fall war.»

Selbst wenn es viele Unzulänglichkeiten und Kämpfe gab: In den USA erschienen diese Vorteile seit der Verfassung von 1787 als offensichtlich. In Europa galt dies immerhin nach dem Ersten und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg (dessen Ausläufer besonders in Osteuropa bis zum Ende des Kalten Kriegs andauerten). Es ging eigentlich nur in eine Richtung – in die von mehr Demokratie und gar eines kontinentalen demokratischen Projekts, der Europäischen Union.

Womit die USA nun erstmals konfrontiert sind, ist in Europa zum Teil schon (wieder) Realität geworden. Antidemokratische Visionen werden an der eurasischen Schnittstelle umgesetzt: In Russland und in der Türkei haben Autokraten den Rechtsstaat ausgehebelt, sie lassen Opposition und kritische Medien ausschalten. In Ungarn und Polen gibt es ähnliche Tendenzen. Viele andere europäische Staaten stehen einem Ansturm autoritärer Rechtsparteien gegenüber. Deren AnführerInnen ist gemein, dass sie zwar gerne von Demokratie reden, aber damit nur den sogenannten Volkswillen meinen, der sie an die Macht bringen soll.

Auf anderen Kontinenten ist die Situation kaum besser. Etwa in Asien: Zwar lebt immerhin fast ein Fünftel der Menschheit in Indien, das seit der Unabhängigkeit 1947 eine standhafte Demokratie ist (auch wenn es unter der hindunationalistischen Regierung ebenfalls zu Rückschritten kommt). Und in Myanmar gibt es erstmals seit über fünfzig Jahren eine demokratieaffine Regierung. Doch in Thailand regiert heute eine Militärjunta und auf den Philippinen ein Präsident (Spitzname: Dirty Harry), der zu Allmachtsfantasien und Lynchjustiz neigt. Nicht zuletzt lebt ein knappes Fünftel der Weltbevölkerung in China, wo eine demokratische Wende vorerst undenkbar scheint. Im Nahen Osten wiederum sind die demokratischen Hoffnungen des Arabischen Frühlings weitgehend autoritären und kriegerischen Gegenschlägen gewichen – auch weil vermeintlich humanitäre und demokratiefördernde Militärinterventionen im Irak und in Libyen ein Chaos hinterlassen hatten.

Der Gewinner nimmt alles

In Afrika manifestieren sich die Folgen eines pervertierten Demokratiebegriffs, der von europäischen Kolonisatoren aufgedrängt oder vom demokratischen «role model» USA abgekupfert wurde. In vielen der früheren französischen oder britischen Kolonien herrscht eine explosive Mischung aus präsidentiellem Regierungssystem und Mehrheitsdemokratie. Aufgrund schwacher staatlicher Strukturen haben einige der von Mehrheiten gewählten Präsidenten starke Anreize, in erster Linie sich und ihre Klientel zu bedienen – und den Posten möglichst nie zu räumen, weil sie unter einem möglichen Nachfolger kaum noch eine Zukunft hätten.

Auf dem Papier ist das postkolonial-afrikanische Demokratiemodell dem US-amerikanischen gar nicht so unähnlich. Die «checks and balances», die die präsidiale Machtfülle neutralisieren sollen, funktionieren nur dann effektiv, wenn diese Gewaltenteilung im politischen Alltag respektiert wird – insbesondere vom Staatsoberhaupt. Deshalb wurde in den USA bisher auch nach den hässlichsten Wahlkämpfen am Ende noch jedes Mal die Überparteilichkeit des Präsidialamts zelebriert.

Trump hat deutlich gemacht, dass er dies anders sieht. «The winner takes all» versteht er nicht nur als Prinzip des Mehrheitswahlrechts, er nimmt es wörtlich: «Der Gewinner nimmt alles.» Er wird nun, gerade auch in seinem Selbstverständnis als Businessboss, ein autokratischer Präsident sein wollen. Der Kongress, der jetzt vollständig in republikanischer Hand ist, wird ihm kaum etwas entgegensetzen. Die Justiz wird er so weit wie möglich beeinflussen, etwa über die Ernennung genehmer BundesrichterInnen. An sein Wahlkampfversprechen, Hillary Clinton eigenhändig ins Gefängnis zu werfen, wurde er Dienstag früh von skandierenden Menschenmengen erinnert.

Gewählt wurde Trump nicht zuletzt von den zig Millionen US-AmerikanerInnen, die sich als potenzielle VerliererInnen sehen – insbesondere als ökonomische VerliererInnen. Viele warten nun darauf, dass ein Superautokrat Trump ihnen das Stück aus dem globalwirtschaftlichen Kuchen, das sie im Zuge der Globalisierung und des US-Hegemonieverlusts zumindest gefühlsmässig verloren haben, wieder auf den Teller legt.

Das Gift der Ungleichheit

Das ist es, was die jetzige Lage in den USA und in mehreren europäischen Staaten so gefährlich macht – und warum sich der Vergleich mit der Situation in vielen afrikanischen Staaten wie auch derjenigen der Zwischenkriegszeit aufdrängt: die Verknüpfung einer demokratischen Wahl mit dem persönlichen wirtschaftlichen Wohlergehen. Der Ökonom Branko Milanovic hat aufgezeigt, dass die Mittelschicht in Industriestaaten seit Ende der achtziger Jahre durch die zunehmende Globalisierung an Realeinkommen eingebüsst hat. Sie wird von einer neuen globalen Mittelschicht konkurriert, die insbesondere in Schwellenländern wie China entstanden ist. Gleichzeitig nimmt sie wahr, wie die Elite im eigenen Land immer reicher wird.

Liberalismus und Demokratie waren ursprünglich konkurrierende Konzepte – individuelle Freiheiten versus kollektive Selbstregierung. Das eine Konzept toleriert und fördert Ungleichheit, das andere erfordert ein bedeutendes Mass an Gleichheit. Die liberale Demokratie benötigt deshalb ein Bindemittel: einen als gerecht verteilt empfundenen Wohlstand. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 stürzte insbesondere schwach etablierte Demokratien in die Krise – Deutschland schlitterte in den Faschismus. US-Präsident Franklin Roosevelt reagierte hingegen mit dem «New Deal»: einem sozialstaatlichen Umverteilungsprogramm, das autokratischen Bewegungen den Wind aus den Segeln nahm.

Schon länger stehen die Zeichen wieder auf Sturm. Besonders die USA sind nah an einer Plutokratie, in der Reichtum fast alles bestimmt: die Bildungschancen, die Gesundheit, die Politik. Ein neuer «New Deal» ist deshalb schon lange überfällig. Donald Trump präsentiert nun triumphierend die Rechnung für die jahrelange Reformverweigerung früherer Regierungen.

Damit liegt es umso dringender an den etablierten demokratischen Staatssystemen in Europa, das Bewusstsein zu erneuern, dass Demokratie ein Wert an sich ist und nicht ein Mittel, um im globalen Konkurrenzkampf dem eigenen «Volk» Vorteile zu verschaffen. Die anhaltende Tendenz, rechts- und sozialstaatliche Prinzipien aufzugeben, steht dem entgegen und eröffnet Chancen für autoritäre PopulistInnen.

Derweil müssen sich autokratische Wohlstandsgenerierer wie die chinesische Führung immer weniger rechtfertigen, wenn sie demokratische Werte missachten. Weltweit kann das Konzept der Demokratie nur dann wieder an Anziehungskraft gewinnen, wenn sich die westlichen Staatswesen sobald wie möglich ganzheitlich demokratisch erneuern. Die USA vielleicht in vier Jahren – Europa aber unbedingt jetzt.