Racial Profiling: Einfach die falsche Hautfarbe

Nr. 45 –

Tagtäglich kontrolliert die Polizei in Zürich gezielt Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe. Die WOZ hat mit Betroffenen über ihre Erfahrungen gesprochen. Auch wenn die Polizei das Problem kleinredet – Racial Profiling ist auf Zürichs Strassen Alltag.

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Wir haben mit zwanzig Menschen aus Zürich gesprochen, die diskriminierende Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben: Studentinnen, Kleinkinderzieher, Aktivistinnen, Asylbewerber, Sans-Papiers. Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft, aus verschiedenen sozialen Zusammenhängen. Wir sprachen mit AnwältInnen und konnten Verhörprotokolle einsehen. Das Bild, das sich ergeben hat, ist eindeutig: Um bei der Polizei als verdächtig zu gelten, reicht es, die falsche Hautfarbe zu haben.

Wie etwa Richard Hairte*. Hairte ist abends am Limmatplatz, auf dem Weg nach Hause in ein Heim ausserhalb der Stadt. Er hat für die Asylorganisation Zürich (AOZ), die Flüchtlingsheime betreibt, Zeitschriften verteilt. Weil Hairte keinen gültigen Ausweis hat und ihm deshalb ein halbes Jahr zuvor bereits ein Rayonverbot für die Stadt angedroht worden war, bringt ihn die Polizei auf den Posten. Im Verhaftungsrapport und im Verhörprotokoll, die der WOZ vorliegen, ist zu lesen: «Anlässlich unserer Patrouillentätigkeit (…) fiel uns an der genannten Örtlichkeit eine männliche Person (später bekannt als Richard Hairte) verdächtig auf. Bei der anschliessenden Personen- und Effektenkontrolle konnte sich Richard Hairte mit keinem gültigen Ausweis ausweisen. Anlässlich unserer Patrouillentätigkeit (…) konnten wir obengenannte Person im Beisein mehrerer unseren Dienststellen bekannten Drogenkonsumenten betreffen [antreffen].»

So wird Richard Hairte für die Beamten ein Drogenhändler: Er steht mutmasslich in der Nähe von Drogenabhängigen, rapportiert wird «im Beisein», und beim Verhör heisst es dann «in Kontakt mit». Aus dem Protokoll:

«Sie wurden beobachtet, dass Sie in Kontakt mit bekannten Drogenkonsumenten standen. Was sagen Sie dazu?

Das ist nicht wahr. Ich war alleine und wartete auf das Tram.

Können Sie mir ein Papier vorlegen, welches belegt, dass Sie an diesem Tag gearbeitet haben?

Ich habe ein solches Papier in meiner Tasche.

Welchen Bezug haben Sie zu Drogen?

Absolut nichts.

Es besteht der Verdacht, dass Sie mit Drogen handeln. Was sagen Sie dazu?

Nein.

Konsumieren Sie Drogen?

Nein (…)»

Wäre Hairte auch von der Polizei angehalten und kontrolliert worden, wenn er weiss wäre? Die Polizei begründet ihre Kontrollen damit, dass sie den Auftrag hat, Straftaten zu verhindern: etwa Drogenhandel, Diebstahl oder illegalen Aufenthalt. Nur: Woran erkennen die Beamten jemanden als potenziellen Straftäter, wenn dieser beispielsweise an der Haltestelle auf das Tram wartet?

Juristisch muss ein objektiver Verdacht vorliegen, damit die Polizei jemanden kontrollieren darf. Dieser Verdacht muss also unabhängig von äusserlichen Merkmalen wie der Hautfarbe sein – das legt das Diskiminierungsverbot fest. Warum Hairte aber der Polizei «verdächtig» auffiel, ist dem Verhaftungsrapport nicht zu entnehmen. Anscheinend musste dies nicht weiter begründet werden.

Es fehlt schweizweit an verlässlichen Daten zu Racial Profiling. Die Zürcher Ombudsfrau Claudia Kaufmann macht seit 2005 auf das Thema aufmerksam. Hairtes Fall ist rapportiert, da er im Anschluss an die Kontrolle verhaftet wurde – weil sein Aufenthaltsstatus unklar war. Aber wie viele dunkelhäutige Menschen der Polizei jeweils genauso «verdächtig» auffallen, wird nirgends registriert.

Schwarze Frau, rotes Kleid

Ihr Kleid ist knallrot. Yvonne Brändle-Amolo steht am Bahnhof mit zwei grossen, prall gefüllten Taschen neben sich. Ihr Telefon klingelt, ihr Mann ruft an. «Stehst du in einem roten Kleid am HB?», fragte er. «Geh besser nach Hause.»

«Es war alles falsch», sagt Brändle, «schwarze Frau, rotes Kleid, der HB.» Ihr damaliger Mann war Polizist und hatte über Polizeifunk mitbekommen, dass die Polizei «eine verdächtig aussehende Frau» am Bahnhof im Visier hatte. «Er dachte, das könnte ich sein, und rief mich an.»

Es ist vielleicht eine der absurdesten, aber bei weitem nicht die einzige diskriminierende Erfahrung, die Brändle mit der Polizei gemacht hat. Als sie nach Zürich gezogen sei, sei sie anfangs im Schnitt zweimal pro Woche kontrolliert worden, erzählt die 41-Jährige. Wenn sie an der Langstrasse auf ihren Mann wartete, beim Friseur oder wenn sie mit Freundinnen abends im Ausgang war. An einem Tag musste sie ihre Identitätskarte gleich zweimal zeigen.

«Einmal fuhr ich im Zug von Lugano nach Zürich, als die Polizei mich kontrollierte», erzählt Brändle. «Sie steuerten direkt auf mich zu. Als sie fertig waren damit, mein Gepäck zu durchsuchen, fragte ich, ob sie nicht noch andere Leute kontrollieren wollten. Sie sagten: ‹Das ist Standard.› Was ist das für ein Standard? Dass ich als schwarze Frau jedes Mal kontrolliert werde?»

«Du kannst uns ja anzeigen»

Karzan Abdul Quader beschloss, sich zu wehren. Er hatte schon viele Polizeikontrollen erlebt, aber diese hier empfand er als besonders demütigend: Er steht an der Tramhaltestelle in Oerlikon und spricht mit einem Freund, als zwei Polizisten in Zivil auf sie zukommen und ihre Ausweise verlangen. Aus welchem Land er sei, will der Polizist wissen. «Aus Kurdistan, aus dem Irak», sagt er. Er zeigt die Kopie seines Ausweises, denn das Original liegt gerade beim Migrationsamt. Warum er kontrolliert werde, will er wissen. Die Antwort: «Das ist unsere Arbeit.» In dem Moment klingelt Abdul Quaders Telefon. Er schaut drauf, schliesslich hat er einen Termin. Der Polizist packt seine Hand: «Du darfst nicht ans Telefon gehen, du bist in einer Kontrolle.» Er habe nichts Verbotenes gemacht, sagt Abdul Quader. Und dann, vielleicht schon leicht genervt: «Wenn du kein guter Polizist sein kannst, solltest du diesen Job nicht machen.» – «Ja, du bist auch nicht eingeladen worden in die Schweiz. Wenn es dir hier nicht gefällt, kannst du ja zum IS gehen.»

Daraufhin legen ihn die Polizisten in Handschellen und nehmen ihn mit auf den Posten. Zwei Stunden muss er in der Zelle warten. Er fragt immer wieder nach dem Namen der Polizisten. «Wir haben alles protokolliert», sollen sie gesagt haben. «Du kannst uns ja anzeigen. Dann weisst du unsere Namen.» Genau das tut Karzan Abdul Quader. Nachdem sie ihn haben gehen lassen, geht er nach Hause, schreibt auf, was vorgefallen ist, und erstattet Anzeige.

Im Verhaftungsrapport heisst es: «Obengenannter, in Begleitung von (…), sind den Fahndern aufgefallen, wie sie sich ohne erkennbares Ziel im Bereich der Tramhaltestelle Bad Allenmoos aufhielten. Mit Verdacht auf Widerhandlung AuG [Widerhandlung gegen das Ausländergesetz] wurden die beiden einer Personenkontrolle unterzogen.» Weiter ist zu lesen: «Der Beschuldigte verweigerte jegliche Mitwirkung in der Kontrolle und bezeichnete die Polizisten als Rassisten sowie den Grund der Kontrolle als rassistisch motiviert und fern jeglicher juristischer Legitimation.» Wegen des Vorfalls mit dem Handy leitete die Polizei ein Verfahren wegen «Nichtbefolgen einer polizeilichen Anweisung» gegen Quader ein.

In allen Instanzen verloren

«Wir dachten, dass das ein idealer Fall ist, um Racial Profiling mal zu überprüfen», sagt Noëmi Erig. Sie ist Quaders Anwältin. «Bislang gibt es dazu noch keinen Präzedenzfall, es ist noch niemandem gelungen, einen Prozess gegen die Polizei wegen Racial Profiling zu gewinnen. «Es müsste endlich mal in der Rechtspraxis festgestellt werden, dass man Ausländer nicht einfach kontrollieren kann, weil sie Ausländer sind.»

Die Ausgangssituation in diesem Fall schien günstig: Erigs Mandant und sein Freund wurden in einem Wohnquartier kontrolliert, und der einzige erkennbare Anlass für die Kontrolle war ihr Aussehen. Zudem habe Abdul Quader sich ausweisen können. Kurz: Ein klarer Fall einer diskriminierenden Polizeikontrolle. Noëmi Erig und Karzan Abdul Quader legten Einsprache ein gegen den Strafbefehl und erstatteten parallel Anzeige gegen die beiden Polizisten. Doch aus Abdul Quaders Verfahren gegen die Polizei wurde kein Präzedenzfall für Racial Profiling. Sondern ein Beispiel dafür, wie aussichtslos es ist, gegen PolizistInnen wegen Verfehlungen im Dienst gerichtlich vorzugehen. Damit die Staatsanwaltschaft gegen sie Ermittlungen aufnehmen kann, braucht es zunächst eine Ermächtigung des Gerichts. «Wir sind nicht über das Ermächtigungsverfahren hinausgekommen. Wir haben in allen Instanzen verloren», sagt Erig, die den Fall ans Bundesgericht weiterzog, nachdem das Obergericht die Ermächtigung abgelehnt hatte.

Mit seiner Begründung, keine Ermächtigung zu erteilen, habe es sich das Obergericht «ziemlich einfach gemacht», findet die Anwältin: Die beiden Personen hätten sich «ohne ersichtliches Ziel» getroffen, das sei verdächtig und rechtfertige eine «Abklärung der Identität». «Es ist schon verwunderlich», sagt Erig. «Es kann doch tatsächlich passieren, dass man Leute zufällig trifft.» Das Bundesgericht wiederum geht gar nicht erst auf die Sachlage ein, sondern argumentiert schlicht: Das Gesetz gebe der Polizei die Möglichkeit zu Personenkontrollen, also dürfe die Polizei diese auch durchführen. Dabei seien Personenkontrollen laut Gesetz nur erlaubt, wenn sie notwendig seien, so Erig. Schliesslich gehörten die Kontrollen zu den Zwangsmassnahmen. «Ansonsten wäre das Gesetz ja ein Freipass, alle Ausländer zu kontrollieren.» Das Bundesgericht habe mit dieser Argumentation auch das Diskriminierungsverbot völlig aussen vor gelassen.

«Es gibt kein Gesetz, das mich schützt»

«Vor dem Recht sollten alle gleich sein», sagt der Anwalt Peter Nideröst, der bereits zahlreiche Fälle von Racial Profiling begleitet hat. «Selbst wenn man politisch oder gesellschaftlich diskriminiert wird. Aber der Justizapparat schwebt nicht im luftleeren Raum, er funktioniert auch realpolitisch.» Nideröst spricht von Systemversagen: «Der Justizapparat, der eigentlich die Polizei kontrollieren sollte, schützt die Polizisten.» Die Gerichte würden PolizistInnen, wenn sie angeklagt seien, kaum je verurteilen, da diese sonst wegen Amtsmissbrauch ihren Job verlieren würden.

Die Polizei wiederum schützt sich auf ihre Art: Sie versucht, die Opfer zu kriminalisieren, etwa indem sie sie wegen Hinderung einer Amtshandlung anzeigt. «Das Reservat der Polizeigewalt ist fast nicht zu knacken», sagt Nideröst. Vor Gericht seien gerade Polizeiakten «praktisch in Stein gemeisselt». Zudem würden sich die Wahrnehmungsprotokolle, die nach einem eskalierten Polizeieinsatz von den einzelnen PolizistInnen angefertigt werden, meist praktisch aufs Wort gleichen. Dies, weil die PolizistInnen die Geschehnisse jeweils vor diesen Berichten gemeinsam mit Vorgesetzten besprechen würden. Ein solches Debriefing findet immer dann statt, wenn bei einem Einsatz etwas ausser Kontrolle geraten ist.

«Wir linken Anwälte sehen uns je länger, je mehr in der Situation, ganz bürgerlich die Grundrechte zu verteidigen», sagt Nideröst, «aber mittlerweile sind wir ja die Einzigen, die noch für die Grundrechte kämpfen – jedenfalls wenn es um die Grundrechte von Personen ohne Schweizer Pass geht.»

Racial Profiling – die Erfahrung der diskriminierenden Kontrollen sowie der Machtlosigkeit gegenüber dem Polizeiapparat beeinflusst das Verhältnis der Betroffenen zur Polizei nachhaltig. «Ich mache ja nichts Böses hier», sagt Richard Hairte, «ich bin nur wegen dieser Arbeit gekommen. Ich verkaufe keine Drogen.» Karzan Abdul Quader ist seit seinem Prozess überzeugt: «Es gibt kein Gesetz, das mich schützt. Ich muss das Verhalten der Polizisten wohl einfach hinnehmen.» Yvonne Brändle-Amolo sagt: «Ich habe das Vertrauen in die Schweizer Polizei verloren. Wäre ich an einer Party und zwei Männer würden anfangen, sich zu prügeln – wenn dann jemand die Polizei riefe, würde ich so schnell wie möglich verschwinden. Auch wenn ich die Gastgeberin wäre. Um die Polizei als Freund und Helfer zu sehen, dafür habe ich einfach die falsche Hautfarbe.»

* Name geändert.

Racial Profiling vor Gericht

Mohamed Wa’Baile hatte sich 2015 bei einer Personenkontrolle am Zürcher Hauptbahnhof geweigert, seinen Schweizer Pass zu zeigen – und wurde wegen «Nichtbefolgen einer polizeilichen Anordnung» angezeigt. Wa’Baile erhob Einsprache mit der Begründung, er sei nur wegen Racial Profiling kontrolliert worden.

Am Montag verurteilte ihn CVP-Richter Claudio Maira trotzdem zu hundert Franken Busse. Wa’Baile solle zwar weiterhin gegen Rassismus kämpfen, aber der Anordnung eines Beamten sei Folge zu leisten, sogar wenn diese rechtswidrig wäre, so Maira.

Mohamed Wa’Baile zieht den Fall nun ans Zürcher Obergericht weiter.

Testimonials : «Habe ich heute Zeit, kontrolliert zu werden?»

Karan M.*, 30
Meine erste Kontrolle in Zürich erlebte ich am Tag meiner Ankunft. Die Polizei fuhr heran, stoppte, Personenkontrolle. Ich hatte gerade meine Koffer ins Hotel gebracht und wollte kurz nach draussen. Seitdem haben sie nicht aufgehört, mich zu kontrollieren.

Einmal war ich mit Freunden auf dem Fahrrad unterwegs. Ein Polizeiwagen ist uns gefolgt und hat uns angehalten. Die Frauen haben sie nicht interessiert. Mein Kumpel war ziemlich Punk, ihn haben sie auch kontrolliert. Ich aber musste mich mit dem Gesicht zur Wand hinstellen, die Arme ausgestreckt, und sie haben alles durchsucht. Anwohner fingen an, mit der Polizei zu diskutieren. Die meinte: «Das ist eine Routinekontrolle, mischen Sie sich nicht ein.» Ich fand es gut, dass die Nachbarn etwas gesagt haben.

Am Anfang bin ich ausgeflippt, wenn ich die Polizei gesehen habe. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Ich komme aus der Türkei und hatte sowieso schon ein schlechtes Bild von der Polizei. Dort macht die Polizei wirklich schlimme Sachen, aber ich wurde nie kontrolliert, nur weil ich auf der Strasse ging.

Lisa C.*, 26
Vor anderthalb Jahren kontrollierte mich die Polizei zusammen mit Freunden. Sie nahmen uns mit, weil wir keine Aufenthaltsbewilligung hatten. Wir mussten uns ausziehen, sie kontrollierten und befragten uns. Ich war drei Tage im Gefängnis. Danach haben sie mir eine Rechnung von 1400 Franken geschickt.

Seit dieser Erfahrung habe ich Angst vor der Polizei. Ich gehe einmal pro Woche zu einer Psychologin. Ich habe Schlafstörungen seit zwei Jahren, seit ich meinen negativen Asylentscheid erhalten habe. Seit der Kontrolle sind die Schlafstörungen schlimmer geworden. Ich muss jetzt Medikamente nehmen, sonst kann ich nicht schlafen. Pro Tag nehme ich zwei Tabletten, eine gegen den Stress und eine zum Schlafen. Wenn eine allein nicht hilft, nehme ich eine zweite, bis ich schlafe.

Rasul O.*, 32
Ich bin schon so oft von der Polizei kontrolliert worden, dass ich nicht mehr sagen kann, wie oft. Die Polizisten auf der Strasse schauen so: Je dunkler, desto ärmer, also kontrollieren sie. Es ist normal geworden, dass wir die Langstrasse langgehen und sehen, wie die Polizei einen Schwarzen an die Wand stellt und durchsucht.

Einmal haben sie mich rausgepickt, als ich an eine Reggaeparty gehen wollte. Ich stand in der Schlange vor dem Club Kanzlei, als die Polizei kam und die Schwarzen kontrollierte. Ich bin das gewohnt. Ich habe mich nicht beschwert. Ich dachte nur: «Bö!» Wir sind abgehärtet. Ich habe mich auch schon geweigert, meinen Ausweis zu zeigen. Also nahmen sie mich mit auf die Wache, dann fanden sie den Ausweis natürlich.

Wenn ich ein Problem hätte, würde ich die Polizei nicht rufen. Das wäre das Letzte, was ich tun würde. Vielleicht in einem Worst-Case-Szenario, nur dann. Die Polizei ist da, um die Reichen vor den Armen zu beschützen. Und je schwärzer, desto ärmer, das ist ein globales Phänomen. Das Problem geht tiefer als Racial Profiling.

Jayden L.*, 34
In der Stadt Zürich wurde ich bis jetzt noch nie kontrolliert. Die Polizei fährt immer sehr langsam an mir vorbei und mustert mich, aber ich glaube, sie halten mich mehr so für einen IT-Expat aus Indien. Da passe ich nicht in ihr Raster, obwohl das ja einfach positiv rassistisch ist. Unwohl fühle ich mich trotzdem. Es ist auch das Geräusch von diesem VW, der hinter einem fährt, das man im Nacken hat. Ich überlege mir dann, was ich dabeihabe, und versuche, normal auszusehen.

Im Fernbus oder im Zug werde ich oft kontrolliert, wenn ich über die Grenze fahre. Dann kommt die Schweizer Polizei rein und kontrolliert die Pässe von Leuten, die offensichtlich nicht weiss sind. Manchmal macht es mich wütend. Du siehst all die anderen Leute, die dich anschauen.

Ich streite aber nicht mit der Grenzwache, ich bin ja kein Schweizer und will einreisen können. In die Gegenrichtung, nach Deutschland, habe ich weniger Hemmungen, weil ich einen deutschen Pass habe. Da sage ich auch etwas, wenn mir eine andere Polizeikontrolle auffällt. Das finde ich wichtig.

Aicha N.*, 24
Auf der Strasse werde ich nie von der Polizei herausgepickt. Trotzdem zucke ich jedes Mal zusammen, wenn Polizisten in der Nähe sind. Ich überlege mir: «Habe ich Zeit, kontrolliert zu werden? Wie bin ich angezogen?» Dadurch, dass einen ja schon die Hautfarbe verdächtig macht, wird man zwangsläufig nervös. «Kann ich jetzt aufs Tram rennen, oder gehe ich besser langsam an der Polizei vorbei und grüsse freundlich?» Ich weiss immer noch nicht, wie man sich unauffällig verhält.

Früher hatte ich als junge Frau wohl den «Süssheitsbonus», aber aus dieser Kategorie wachse ich nun heraus. Dass ich im Zug kontrolliert werde, hat zugenommen, das stört mich. Mein Onkel hat mir mal empfohlen, in den Zug eine Zeitung mitzunehmen. Das sieht nach Studentin aus, was ich ja auch bin.

Ich habe nie das Gefühl: Jetzt bin ich sicher. Wenn in der Debatte um mehr Polizeipräsenz immer von mehr Sicherheit gesprochen wird – für mich ist das nicht so.

Ahmad F.*, 38
Einmal wurde ich am Bellevue kontrolliert. Nachdem ich meinen Ausweis gezeigt hatte, musste ich mich bis auf die Unterwäsche ausziehen. «Warum?», fragte ich. Ich hatte keine Drogen, kein Messer, keine Pistole, gar nichts. «Du bist ein Ausländer», haben sie gesagt. Bleib ruhig, habe ich mir gesagt. Dann haben sie mir Handschellen angelegt. Sie haben eine halbe Stunde lang telefoniert. Dann konnte ich wieder gehen.

Als ich bereits illegal war, war ich am Stadelhofen unterwegs. Die Polizei kam zu mir, als ich eine Zigarette rauchte. «Marlboro», sagten sie, «die kosten acht Franken, hast du die geklaut?» Ich sagte, das würde ich nicht machen. «Schöne Kleider hast du auch an», sagten sie. Dabei habe ich die secondhand gekauft. Dann wollten sie mein Ticket sehen. «Oh, ein Abo hast du auch!» Was wollen sie? Ich esse nur Pasta, ich gehe nie in ein Café. Ich kaufe nur Zigaretten. Ich musste mit in die Kaserne. Dort war ich vier Tage. Ich bekam eine Gefängnisstrafe von einem Monat und musste 700 Franken Busse bezahlen.

Oumar K.*, 49
An eine Kontrolle erinnere ich mich besonders gut. Es war ein Samstagmorgen, und ich wollte mit zwei Schweizer Kollegen an der Limmat joggen gehen. Wir trafen uns um 8 Uhr am Bahnhof. Beim Platzspitz kreuzte uns ein Streifenwagen, drehte um, und die Polizisten kontrollierten uns. Der eine Kumpel hatte seinen Ausweis dabei, wir anderen nicht. Die Polizisten sagten, ich sei illegal und müsse mitkommen. Ich habe alles versucht, um zu erklären, dass ich mitten im Asylverfahren sei – sie glaubten mir nicht.

Sie brachten mich ins Gefängnis bei der Kaserne. Nach zwei Tagen kamen zwei Polizisten mit mir nach Hause, wo ich ihnen die Dokumente zeigen konnte, die mein laufendes Asylverfahren bestätigten. Dann brachten sie mich wieder zurück ins Gefängnis. Ich musste Fingerabdrücke und DNA abgeben und kam in eine andere Zelle, in der viele Leute darauf warteten, nach Italien zurückgebracht zu werden. Ich dachte, ich werde ausgeschafft. Niemand erklärte mir, warum ich dort war. Am nächsten Morgen kamen sie und sagten, ich sei frei. Also ging ich nach Hause.

Adnan K.*, 33
Polizei bedeutet für mich: Angst, Stress, Fremdenhass. Ich habe ständig ihre Fragen im Kopf: «Was machst du hier, hast du eine Waffe, Drogen …?» Ich fühle mich unwillkommen in der Schweiz, wie eine Spinne. Dabei arbeite ich mit Kindern zusammen. Wie kann ich gut zu ihnen sein, wenn ich ständig gedemütigt werde?

Einmal hielten mich drei Polizisten auf der Brücke zwischen Central und Hauptbahnhof an. «Was machst du hier?», fragten sie. «Ich war in der Kirche zum Tanzen eingeladen», sagte ich. «Schön! Wir Schweizer haben keine Zeit, tanzen zu gehen. Wir müssen arbeiten.» Ich antwortete, er könne ja tanzen gehen, wenn er freihabe. «Wenn ich in dein Land komme und den Koran kaputt mache, wie würdest du reagieren?», sagte einer der Polizisten. Ich sagte, ich fände solche Fragen demütigend. Seine Antwort: «Ja, es ist demütigend. Das ist Absicht.» Dann zeigte er auf sein Namensschild: «Schreib meinen Namen auf, und mach eine Anzeige.»

Ich glaube, die Polizisten haben die stille Erlaubnis vom Staat, rassistisch zu sein. Wer soll sie schon anklagen?

Samir Z.*, 32
Sie kontrollierten alles, sogar Schuhe und Socken musste ich ausziehen. Es machte mich wütend, dass alle Leute einfach vorbeigelaufen sind. Die Passanten denken automatisch, dass wir kriminell sind, wenn sie uns mit den Händen an der Wand stehen sehen.

Ich war überrascht, wie Flüchtlinge in der Schweiz behandelt werden. Ich sage nicht, alle Polizisten sind rassistisch. Aber die meisten. Sie behandeln Flüchtlinge auf der Strasse wie Tiere. Sie könnten einen Schweizer nie so kontrollieren. Vielleicht, wenn er ein Drogendealer ist. Aber die Flüchtlinge kontrollieren sie auch, wenn sie gar nichts gemacht haben.

* Alle  Namen geändert.

Stellungnahme : «Das würde internen Weisungen widersprechen»

Marco Cortesi, Sprecher der Zürcher Stadtpolizei, will sich zu den konkreten Fällen nicht äussern. Die Polizei untersuche das Problem von Racial Profiling aber sowieso – vorerst aber noch ohne die Sicht der Betroffenen.

WOZ: Herr Cortesi, sind Sie selbst schon einmal privat in eine Polizeikontrolle geraten?
Marco Cortesi: Ja, ich bin schon mehr als einmal kontrolliert worden. Ich werde immer wieder kontrolliert, zum Beispiel wenn ich mit dem Auto unterwegs bin.

Während unserer Recherche haben wir mit Personen gesprochen, die teilweise zweimal pro Woche von der Polizei angehalten werden. Ich kann mir schwer vorstellen, dass es Ihnen auch so ergeht.
Ja, das ist so. Das hat man erkannt, und dem muss nachgegangen werden. Bei der Stadtpolizei ist Racial Profiling ein Thema, bei dem wir genau hinschauen. Es ist aber auch so, dass der Drogenhandel häufig in der Hand von schwarzen Leuten ist. Wenn Sie nachts um drei an der Langstrasse unterwegs sind, finden Sie Leute aller Kulturen und Hautfarben, und es kann durchaus passieren, dass Polizist A nicht weiss, dass Polizist B diese Person bereits kontrolliert hat.

Das heisst, um kontrolliert zu werden, reicht es, als Schwarzer die Langstrasse entlangzugehen? Stehen dunkelhäutige Personen dort etwa unter Generalverdacht?
Nein, das reicht nicht, es muss ein Verdacht vorhanden sein. Wir kontrollieren die Leute nicht aufgrund ihrer Hautfarbe, sondern aufgrund ihres Verhaltens oder unserer Beobachtungen.

Die WOZ hat mit zwanzig betroffenen Personen über Racial Profiling und diskriminierende Erfahrungen mit der Polizei in Zürich gesprochen …
Ja, das kann ich bestätigen, Sie haben mir viele Beispiele zugeschickt. Weil die geschilderten Fälle aber alle ohne Ort und Zeitangabe und anonym sind, ist es mir nicht möglich, entsprechende Abklärungen zu tätigen. Darum kann ich zu den einzelnen Fällen keine Stellung nehmen.

Racial Profiling ist nichts Neues. Die Ombudsfrau weist seit gut zehn Jahren darauf hin, dass dieses Problem in Zürich existiert. Wie stark ist sich die Polizei dieses Problems bewusst?
Personenkontrollen geben immer wieder Anlass zu Vorwürfen wegen Rassismus. Deswegen haben das Sicherheitsdepartement und der Polizeikommandant bereits vor mehreren Monaten das Projekt «Polizeiarbeit in urbanen Spannungsfeldern» (Pius) ins Leben gerufen. In der Pius-Arbeitsgruppe werden Themen wie Racial Profiling, Umgang mit Personenkontrollen, Beschwerdemöglichkeiten, verbale oder physische Übergriffe auf Polizistinnen und Polizisten und die Möglichkeit, dass Polizisten Kameras am Körper tragen, fundiert und von allen Seiten angeschaut. Damit die Stadtpolizei auch eine objektive Aussensicht bekommt, befinden sich in der Arbeitsgruppe auch externe Partner und Wissenschaftler aus Hochschulen.

Sind auch Betroffene von Racial Profiling in dieser Arbeitsgruppe vertreten?
Nein, bisher nicht – weil wir in der Vorprojektphase stehen. Der Austausch mit Minderheiten in allen Fragestellungen liegt im Interesse der Projektgruppe. Es wäre also zu einem späteren Zeitpunkt durchaus wünschenswert.

Sie haben gesagt, man habe bei der Stadtpolizei das Problem erkannt. Können Sie das etwas genauer erklären?
Nein. Ich kann Ihnen aber sagen, dass man das Problem ernst nimmt und angeht. Es ist nicht immer schwarzweiss. Es gibt Vorwürfe, die zutreffen, aber auch solche, die entkräftet werden. Man muss bei jedem Fall beide Seiten anhören, um zu einem objektiven Ergebnis zu kommen. Kritische Fragen zu diesem Thema sind durchaus berechtigt. Aber ich bin auch überzeugt, dass unsere Mitarbeitenden einen guten Job machen und mit dem nötigen Fingerspitzengefühl vorgehen. Und es ist für jede Person, egal welcher Hautfarbe, unangenehm, wenn eine Personenkontrolle stattfindet.

In der Schweiz gibt es keinen Präzedenzfall zu Racial Profiling. Noch nie wurde ein Polizist oder eine Polizistin deswegen verurteilt. Woran liegt das?
Ich denke, dass es daran liegt, dass wir in Zürich eine fundierte, vielseitige Ausbildung haben, in der die Leute seit Jahren in solchen Themen geschult werden. Bei unserem Selektionsverfahren achten wir darauf, dass unsere Polizistinnen und Polizisten ein grosses Mass an Sozialkompetenz und Kommunikationsfähigkeiten mitbringen.

Anwälte, mit denen wir gesprochen haben, sagen, dass sich die Polizisten nach einer eskalierten Kontrolle absprechen und dann die Wahrnehmungsprotokolle aufeinander abstimmen. Auch deshalb sei es so schwierig, vor Gericht gegen Racial Profiling vorzugehen. Was sagen Sie dazu?
Das kann ich mir nicht vorstellen, ein solches Verhalten würde unseren internen Weisungen klar widersprechen.

Interview: Merièm Strupler

Nachtrag vom 24. November 2016 : «Warum verlangen Sie unseren Ausweis?»

Juristisch gegen Racial Profiling und Polizeigewalt vorzugehen, ist praktisch aussichtslos. Am Montag standen nun zwei Polizisten und eine Polizistin von der Stadtpolizei Zürich wegen Amtsmissbrauch und Körperverletzung vor dem Bezirksgericht.

Ihr Opfer, Wilson A., geriet 2009 mit einem Bekannten in eine Polizeikontrolle. Jetzt wurde er als Zeuge befragt. «Warum verlangen Sie unseren Ausweis?», habe er die Polizei damals gefragt. «Weil wir dunkelhäutig sind?» Er wollte sich nicht sofort ausweisen. Die Situation eskalierte. A. habe die Polizei ausdrücklich gebeten, ihn nicht anzufassen, da er herzkrank sei und gerade eine Operation hinter sich habe. Aber die PolizistInnen hätten ihm Pfefferspray ins Gesicht gesprüht, ihn mit Fäusten und Schlagstöcken traktiert – und sie verhafteten ihn. «Der eine Polizist hat mich minutenlang am Hals gepackt», sagt A. aus. «Lass mich atmen», habe er mehrmals gesagt. Prellungen im Gesicht und am Hals, einen gebrochenen Lendenwirbel, Zerrungen und eine ernsthafte Knieverletzung trägt A. davon. In Polizeijargon und einander ergänzend geben die Angeklagten zu, Pfefferspray, «rohe Körperkraft» und Schlagstöcke eingesetzt zu haben. Aber niemand will A. gewürgt haben.

«Dieser Fall ist exemplarisch für die systematische Gewalt der Behörden», sagt A.s Anwalt Bruno Steiner. «Letztlich werden Polizisten praktisch nie wegen Gewalt an dunkelhäutigen Personen verurteilt. Kommt dies etwa nicht vor? Oder wird dies unter den Teppich gekehrt?» Er kritisiert die zuständige Staatsanwältin scharf: Sie wollte das Verfahren bereits zweimal einstellen, die Anklage wegen «Gefährdung des Lebens» hat sie in «einfache Körperverletzung» umgewandelt – trotz A.s Herzkrankheit. Die Verhandlung am Montag wurde abgebrochen, eventuell soll nun doch auch wegen «Gefährdung des Lebens» Anklage erhoben werden.

«Wilson A. ist kein Einzelfall», sagt Tarek Naguib, «es geht dabei um institutionellen Rassismus.» Naguib ist Teil der «Allianz gegen Racial Profiling» – das Bündnis will Betroffene stärken und fordert schweizweit unabhängige Anlaufstellen mit Beschwerderecht. Denn Racial Profiling ist nicht nur in Zürich ein Problem: Wegen mehrerer Fälle von rassistischer Polizeigewalt haben am Samstag in Lausanne rund 600 Menschen demonstriert.

Merièm Strupler

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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