Durch den Monat mit Elisabeth Joris (Teil 3): Warum sind Sie nicht zur WOZ gekommen?

Nr. 46 –

Die Historikerin Elisabeth Joris über die Suche nach neuen Quellen und die Bedeutung von staatlichen und privaten Archiven. Und über Hauptwidersprüche und darüber, wie man gleichzeitig brav und aufmüpfig sein kann.

Elisabeth Joris: «Heute wollen manche Historiker gar nicht mehr in die Archive, es ist ihnen zu aufwendig, und es kommt für sie zu wenig dabei raus. Ich bin ein Quellenjunkie.»

WOZ: Elisabeth Joris, bekannt sind Sie vor allem im Zusammenhang mit Frauenthemen. Dabei forschten Sie auf vielen Gebieten. Ist das Label der feministischen Historikerin eine Einschränkung?
Elisabeth Joris: Die Spur scheint schmal, dabei ist sie sehr breit. Geschlechtergeschichte ist immer dabei, manchmal steht sie stärker und manchmal weniger stark im Fokus. Von Anfang an ging es um Bewegungsgeschichte. Damals, 1980, haben Heidi Witzig und ich beschlossen, «Frauengeschichte(n)» zu machen, also Material und Quellen zur Geschichte von Frauen herbeizuschaffen, und zwar nach dem Modell des Quellenbands zur Geschichte der Arbeiterbewegung, der 1975 erschienen war. Das Projekt wurde riesig.

Sie erschlossen Quellen, damit man sich mit Frauengeschichte beschäftigen konnte?
Ja, und wir machten das mit einem professionellen, wissenschaftlichen Ansatz und gleichzeitig aus persönlicher Betroffenheit als Mütter und feministische Linke. Aus der Bewegung heraus.

Und das neben einem Erwerbsberuf?
Wir machten es neben unserem Erwerbsberuf, das ist ganz wichtig. Wir hatten den Eindruck, dieses Buch schreiben zu müssen, damit Frauengeschichte überhaupt wahrgenommen würde. 1983 hielten wir darüber einen Vortrag bei einer Historikerinnentagung an der Universität Bern. Unser Thema machte Furore, und wir fanden sofort Kontakt zu anderen Historikerinnen. Bereits während der Entstehung führte «Frauengeschichte(n)» zu einer Vernetzung von sehr vielen Frauen, das Projekt wurde ein Einschnitt in meinem Leben.

Eine Plattform, auf der sich etwas aufbauen liess?
Es zeigte sich, dass man mit den unterschiedlichsten Frauen zusammenarbeiten konnte, selbst in Bereichen, die mir selber eigentlich fremd waren. Eine Frau kann vielleicht SVP-Frau sein, und trotzdem ist das frauenspezifische Interesse plötzlich wichtiger als die politische Zuordnung. Solche Erfahrungen machten wir. Eine Frau kann gleichzeitig brav und aufmüpfig sein, sie kann aufmüpfig werden, weil sie brav ihre Interessen oder jene ihrer Familie wahrnimmt. Das zweite Buch von Heidi Witzig und mir hiess «Brave Frauen, aufmüpfige Weiber».

Zum sozialen Widerspruch kommt der Widerspruch der Geschlechter, aber nicht, wie viele Achtundsechziger glaubten, als Nebenwiderspruch.
Alles ist widersprüchlich, es gibt keine Hierarchie der Widersprüche. In der Frauengeschichte sieht man das besonders gut. Die bürgerliche Frau wird lange Zeit einfach dem Status ihres Ehemanns zugeordnet, obwohl sie ja über das Eherecht in einem Abhängigkeitsverhältnis steht. Sie kann nicht über ihr Vermögen verfügen, obwohl genau das zum bürgerlichen Status gehören würde. Ihre gesellschaftliche Stellung ist mit den Prinzipien des Bürgertums nicht kompatibel. Das bedeutet aber keineswegs, dass sie die bürgerlichen Normen nicht weitergibt.

Solche Widersprüche erinnerten mich an den Widerspruch, den ich als Kind im Wallis selber empfunden hatte, zwischen dem Kampf meiner Mutter gegen die Kirche, den wir Töchter austrugen, und meinem eigenen Anpassungsbedürfnis. Um auf die «Frauengeschichte(n)» zurückzukommen: Alle offiziellen Quellen in den Staatsarchiven aus früheren Zeiten sind eigentlich Männerquellen, die Frauen hatten ja keine Unterschriftsberechtigung. Wir mussten also zuerst einmal Quellen über Frauen finden. In den Staatsarchiven hinterliess eine Frau vordergründig kaum Spuren.

Ausser wenn sie Witwe wurde und das Geschäft ihres Mannes übernahm!
Genau. Ich habe das im Tunnelprojekt «Tiefenbohrungen» gesehen. Wenn die Männer starben, gab es plötzlich Geschäftsfrauen. Die Witwen führten die Geschäfte weiter und hinterliessen jetzt dieselben Spuren wie ihre Männer. Schaut man näher hin, dann sieht man, dass sie schon zuvor die Gastwirtschaft oder den kleinen Laden betrieben hatten, allerdings unter seinem Namen. Dazu muss man aber in die privaten Archive.

Ich habe so viel gelesen über die Normierung von Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft, jahrelang, und dann ging ich in private Archive und fand heraus: Es ist alles ganz anders, viel differenzierter. Heute wollen manche Historiker gar nicht mehr in die Archive, auch Leute an der Universität, es ist ihnen zu aufwendig, und es kommt für sie zu wenig dabei raus. Ich bin ein Quellenjunkie.

Ihr Leben haben Sie als Lehrerin finanziert. War die Schule vor allem ein Job?
Es war ein Job, und gleichzeitig habe ich die Arbeit als Lehrerin als Privileg empfunden. Ich habe das sehr gerne gemacht. Einige Male bewarb ich mich um eine andere Stelle und bekam sie nicht. Einmal wollte mich die WOZ rekrutieren.

Wieso kamen Sie nicht zur WOZ?
Ich hätte nur fünfzig Prozent arbeiten können. Mein Mann und ich haben uns die Haus- und Familienarbeit immer geteilt. Fifty-fifty. Mit einem halben WOZ-Lohn hätte ich meine Ausgaben nicht mehr bezahlen können.

Elisabeth Joris (70) veröffentlichte als Historikerin unter anderem Bücher über Frauen- und Bewegungsgeschichte, Fabrik- und ArbeiterInnengeschichte, über Menschen im Tunnelbau und BildungsbürgerInnen in der Frühzeit des schweizerischen Bundesstaats.