Was tun?: Bildet euch und bildet andere, denn nun tut Wissen not

Nr. 46 –

Wenn die Linke angesichts des Erfolgs der autoritären Rechten über Widerstand und Klassenkampf diskutiert, könnte sie auf einen neuen Schauplatz stossen.

In der Schweiz wohnen sie in der Agglomeration, in Britannien in walisischen Kleinstädten, in den USA in den Bundesstaaten, die den Rust Belt bilden. Wahlweise ist von ihnen abschätzig als «Globalisierungsverlierer» oder etwas romantisierend als «Arbeiterklasse» oder auch einfach als «Abgehängte» die Rede. Weisse, frustrierte, ältere Männer sollen jeweils den Ausschlag gegeben haben – bei der Abstimmung über die «Masseneinwanderungsinitiative», beim Brexit und jetzt also auch bei der Trump-Wahl.

Die Frage ist schon länger virulent, nun aber ist die Diskussion erst recht losgebrochen: Haben die Linken den Draht zum Milieu verloren, aus dem sie angeblich stammen? Linke Selbstkasteiung vermischt sich in den Kommentaren zur US-Wahl mit rechtem Hohn: Die Linke nehme die Sorgen der einfachen Leute nicht mehr ernst und übe sich stattdessen in ihren urbanen, abgehobenen Lebenswelten in politischer Korrektheit. Fast konnte man letzte Woche den Eindruck erhalten, die Linke sei schuld am Wahlerfolg von Donald Trump und am Aufstieg der autoritären Rechten in Europa insgesamt.

Als ob Trump nicht ein Milliardär wäre, der eine offen fremdenfeindliche Politik verfolgt, genau wie Christoph Blocher, und als ob für diese Politik nicht zuerst sie beide verantwortlich wären. Und als ob die WählerInnen von Trump, wie Laurie Penny in dieser WOZ (vgl. «‹Es ist nicht elitär, dem Faschismus ins Auge zu blicken und ihn zurückzuweisen›» ) schreibt, nicht doch zuerst ein rassistisches Votum abgegeben hätten, das andere treffen wird. Bereits hat Trump die Ausschaffung von «zwei bis drei Millionen» Papierloser angekündigt, wobei diese grobe Zahl schon alles über seine Geringschätzung dieser Menschen und ihres Schicksals aussagt. Auch in der Schweiz wäre es falsch, die WählerInnen der SVP als blosse Opfer zu stilisieren, die lediglich nach unten treten, weil ihnen sonst keine andere Möglichkeit bleibt, sich Gehör zu verschaffen: Dieser Tritt nach unten bleibt trotzdem rassistisch.

Will man die These, dass die Linke Schwierigkeiten mit ihrem Bezug zur Arbeiterklasse hat, trotzdem weiterverfolgen, so stellen sich zwei Probleme. Zum einen sind die politischen Gesellschaften der USA, Britanniens oder der Schweiz unterschiedlich in ihren politischen Systemen wie auch bezüglich der sozialen Sicherheit. Zum anderen ist der Begriff der Arbeiterklasse alles andere als präzis: Versteht man darunter die untersten Einkommenskategorien, dann hat in den USA die Arbeiterklasse für die demokratische Kandidatin Hillary Clinton gestimmt – weil die am schlechtesten bezahlte Arbeit nicht nur von weissen Männern, sondern vor allem von farbigen Frauen erledigt wird, und weil auch viele StudentInnen in prekarisierten Verhältnissen leben.

Das überhörte Kriterium

Und doch scheint in den Wahlanalysen über die Länder hinweg immer wieder ein Kriterium auf, das leicht übersehen wird, das aber für ein tieferes Verständnis wesentlich sein könnte: Es ist der Zugang zur Bildung. So besteht die Gruppe, die im Vergleich zur Wahl vor vier Jahren in den USA diesmal nicht demokratisch gewählt hat, gemäss einer Auswertung der «New York Times» nicht nur aus weissen Männern, ihre Mitglieder besitzen vor allem keinen höheren Schulabschluss. Auch die VOX-Analyse nach der «Masseneinwanderungsinitiative» kam zum Schluss: «Die Initiative profitierte von der aussergewöhnlich starken Mobilisierung der unteren Einkommens- und Bildungsschichten.»

Sicher ist es falsch, die eigene Politik an die Sorgen dieser Leute anzupassen, weil diese Sorgen schliesslich zu einem grossen Teil erst durch fremdenfeindliche Kampagnen geschaffen werden. Es ist aber auch etwas ignorant, sie einfach für dumm zu erklären. Am besten spricht man sowieso nicht über diese Leute, sondern mit ihnen und über sich selbst, begibt sich also ins Dickicht der biografischen Verstrickungen, wie es auch der französische Philosoph und Soziologe Didier Eribon getan hat.

In seiner biografischen Studie «Rückkehr nach Reims» beschreibt Eribon seine Flucht aus der damals in ihrem Selbstverständnis noch wohlgeordneten Arbeiterklasse in Nordfrankreich und geht der Frage nach, warum seine Familie, die einst konsequent kommunistisch wählte, heute für den Front National stimmt (siehe WOZ Nr. 42/2016 ). Das viel diskutierte Buch ist vor allem auch ein Essay über das Bildungswesen. Es ist der zentrale Schauplatz von Eribons Biografie, Instrument der Herrschaft und der Selektion wie auch der Schlüssel zu seiner Emanzipation: In Eribons Familie war es nicht vorgesehen, über die obligatorische Schulzeit hinaus zu studieren – aus ökonomischen Gründen und weil mögliche Bildungswege schlicht nicht bekannt waren. Als Eribon dennoch weitermachte, spürte er bald die feinen Unterschiede, die ihn als Arbeiterkind von den Bürgersöhnen unterschied: So fiel es ihm, der aus lauten, beengten Wohnverhältnissen kam, anfangs schwer, sich zu konzentrieren. Ein erfolgreicher Bildungsweg hat bis heute weniger mit der Intelligenz – oder wie es in der neoliberalen Sprache heisst: mit Ressourcen – zu tun, sondern in erster Linie mit der sozialen Herkunft eines Kinds.

Der doppelt «schiefe» Blick

Beleidigung ist ein zentrales Wort in Eribons Buch: die Beleidigungen, die er erst als Arbeiterkind in der Schule erfuhr, und die Beleidigungen, die man ihm später auf der Strasse der Kleinstadt als Schwulem nachrief. Wobei gerade die Möglichkeit, von der einen Identität in die andere zu wechseln, ihm letztlich den sozialen Aufstieg brachte. Längst nicht allen, die eine mehrfache Diskriminierung erfahren, ist das möglich, aber der doppelt «schiefe» Blick kann besonders scharf sein, wie auch die US-Wahlen zeigten: Die farbigen Frauen stimmten fast geschlossen für die demokratische Kandidatin.

Eribon holt also über die Beschreibung des Bildungswesens die in politischen und akademischen Diskussionen verschüttete Frage der sozialen Diskriminierung («Klasse») zurück. Allerdings nicht, um die Diskussionen über die sexuelle («Geschlecht») oder die kulturelle Identität («race») für nichtig zu erklären und vorschnell in eine Klassenkampfrhetorik zu verfallen. Eribons radikale politische Botschaft und ihr Nutzen für die gegenwärtige Debatte liegen vielmehr darin, dass er die Analyse der verschiedenen Diskriminierungsformen miteinander verknüpft.

Am Schluss des Buchs fragt sich Eribon, ob die vom Marxismus ausgehende Zensur unter anderem Kategorien wie das Geschlecht aus dem politischen und theoretischen Rahmen drängte. Und ob folglich das Verschwinden des Marxismus als vorherrschender Diskurs die notwendige Bedingung war, um die Mechanismen sexueller und rassistischer Formen der Unterwerfung überhaupt politisch zu denken. Eribon antwortet sich selbst rhetorisch: «Warum sollten wir zwischen verschiedenen Kämpfen gegen verschiedene Formen der Unterdrückung wählen müssen?»

Volksunis gründen

Angesichts des Durchbruchs der neuen autoritären Kräfte ist der Begriff der Kämpfe durchaus angebracht: Sicher werden sie um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums gefochten werden müssen, denn mit dem Pochen auf Grundrechte allein gewinnt man keine Freiheit. Diese entsteht erst mit der sozialen Sicherheit. Nimmt die Linke aber Eribons Überlegungen ernst, dann ist auch das Bildungswesen ein zentraler Schauplatz: Auch wenn sich ihre Qualität in den verschiedenen Ländern unterscheidet, so ist die Frage nach der sozialen Durchlässigkeit – oder schöner: nach der Emanzipation – das Ziel.

Eine Bildungsoffensive in diesen verwirrten Zeiten könnte sich für die Linke doppelt lohnen, wenn sie nicht nur die öffentliche, sondern auch die politische Bildung fördert. Wissen tut not im postfaktischen Zeitalter – warum sich nicht in Volksuniversitäten über die Verheerungen des neoliberalen Wirtschaftens in unseren Körpern und in unseren Köpfen austauschen? Das muss nicht nur abgehoben wirken, sondern durchaus praktisch: Ich würde schon lange gerne ein öffentliches Seminar darüber besuchen, wie man die Steuererklärung ausfüllt. Schliesslich gibt es kein anderes behördliches Formular, das derart transparent macht, wer profitiert und wer verliert – und wer also tatsächlich zur Elite zählt oder nicht.