Besetzt!: Was ist schon eine Hausbesetzung gegen den Besitz eines Hauses?

Nr. 47 –

Wenn Besetzungen wie jüngst die des Koch-Areals in Zürich skandalisiert werden, entzündet sich die Debatte nur noch an Lärm und Abfall. Da drängt sich die Frage auf: Sind Hausbesetzungen als politische Projekte eigentlich passé?

  • Politik und hipper Partyscheiss zugleich: «Brotäktschen» – die dreitägige Besetzung des alten Hardturmstadions im Sommer 2008. Foto: Brotaktion, AKI
  • Das Binz-Areal (besetzt von 2006 bis 2013): Wie lassen sich Besetzungen entpolitisieren? Mit dem moralischen Verweis auf ihre Abfallsünden! Foto: Familie Schoch

Der wahre Skandal um das Koch-Areal in Zürich liegt ja darin, wie die Polemik ihren Anfang nahm: mit Lärmklagen. Besetzte Häuser scheinen bereits so weit in den städtischen Alltag integriert zu sein, dass sie das Leben in der Stadt nur noch als Quelle von Lärm zu stören vermögen. Dabei sollten doch gerade Besetzungen in der Lage sein, den behördlichen Appell «Erlaubt ist, was nicht stört» so zu wenden, dass die transformative Kraft des Städtischen wahrnehmbar bleibt: «Nur was stört, ist erlaubt!» Der Skandal besteht also darin, dass es gelingt, mit dem schieren Hinweis auf Lärm die Daseinsberechtigung von Besetzungen infrage zu stellen.

Selbstverständlich erscheint diese Interpretation zuerst als naiv. Es ist offensichtlich, dass die FDP und die SVP den Lärm als Vorwand benutzt haben, um Stadtrat Richard Wolff (AL) mit Blick auf die Wahlen 2018 zu destabilisieren. Sie stören sich nicht (nur) am Lärm, sondern an Richard Wolff. Und trotzdem: Die Skandalisierung des Koch-Areals konnte mit dem Hinweis auf eine an sich banale Abweichung vom ansonsten wunderbar reglementierten Alltag entfacht werden. Dies ist kein Einzelfall: «Binz-Besetzer hinterlassen tonnenweise Abfall», titelte der «Tages-Anzeiger» im Sommer vor einem Jahr. Die Räumung kostete die Stadt dann 5000 bis 10 000 Franken. Um die Kosten geht es nicht, klar. Sondern darum, Besetzungen mit dem moralischen Verweis auf ihre Abfallsünden zu entpolitisieren. Man stelle sich vor, eine Gewerkschaftsdemonstration könnte allein mit dem Hinweis auf die mehrfache unerlaubte Querung von Strassen diskreditiert werden. Im Unterschied zu Demonstrationen werden Besetzungen nicht mehr als legitime politische Projekte wahrgenommen und – mindestens so erstaunlich – auch nicht mehr als solche verteidigt.

Die Parteien links der Mitte sind zu sehr damit beschäftigt, ihre Stadträte zu verteidigen oder die Gunst der Stunde zu nutzen, um sie gar zu stärken. So wettern sie in der Debatte um das Koch-Areal gegen «Füdlibürger» und «Bünzlinorm», aber die Besetzung, die ja eigentlich eine reglementierte Zwischennutzung ist, wird seitens der Parteien politisch kaum gewürdigt. Besetzungen, so der Eindruck, der dadurch entsteht, scheinen als politische Projekte tatsächlich passé zu sein. Oder wie könnten sie ihren politischen Charakter wahren?

Die Stadt als Ware

Es war zuletzt ausgerechnet ein Artikel in der NZZ, der die politische Potenz von Besetzungen zumindest im Ansatz berührt hat. In einem Kommentar zur Dialektik des Eigentums beklagte NZZ-Feuilletonredaktor Thomas Ribi, dass die Stadtregierung ihre Machtmittel nicht gegen Besetzungen einsetze, um das Eigentum zu schützen: «Die Eigentumsgarantie gilt absolut und nicht von Fall zu Fall.» Diese Forderung ist Ideologie pur und verdeutlicht, worin die politische Kraft von Besetzungen liegt: nämlich darin, den gesellschaftlichen Nutzen von Privateigentum am städtischen Raum fundamental infrage zu stellen.

Besetzungen, in ihrer baulich-sinnlichen Präsenz, sind mehr als Landnahmen. Sie sind immer auch Provokationen, die dazu zwingen, antagonistische Verhältnisse zu benennen: Stadt als Ware, in die investiert wird, oder Stadt als Ort intensiver Heterogenität. Formelhaft auf den Punkt gebracht: Tauschwert versus Gebrauchswert. Dahinter stehen zwei gegensätzliche Ideen von Stadt. Auf den Tauschwert hin betrachtet, ist die Stadt nichts weiter als die Summe einzelner privater Güter, die für sich produziert, gehandelt und konsumiert werden können. Im Fokus steht der Mehrwert, der bei einem Verkauf oder einer Vermietung erzielt werden kann. Die entgegengesetzte Sichtweise versteht die Stadt als Allmende oder kollektives Gut, das von vergangenen Generationen geschaffen und jetzt von den StädterInnen belebt, repariert und konstant erneuert wird. Wird der städtische Raum jedoch in einzelne handelbare Stücke zerlegt, zerfällt die Stadt als solche. In urbanen Konflikten ist die Stadt selten nur Bühne, sondern immer auch Gegenstand.

Party ohne Mehrwertsteuer

Aber wir sollten die Trennlinie, die den sozialen Raum entlang des Antagonismus Tauschwert/Gebrauchswert teilt, nicht voreilig zeichnen. Eigentum bringt nicht zwingend die Ausrichtung am Tauschwert mit sich. Kein Zweifel, es gibt zahlreiche Einfamilien- und MehrfamilienhausbesitzerInnen, die ihr Handeln nicht am Tauschwert oder der Rendite ihrer Liegenschaft ausrichten, sondern an Anliegen, die den Gebrauchswert der NutzerInnen verbessern. Andererseits ist es alles andere als abwegig, dass Besetzungen den Tauschwert bestimmter Orte direkt oder indirekt steigern. Dies ist speziell in Zürich der Fall, wo temporäre Nutzungen leer stehender Gebäude und Areale staatlich sanktioniert und bereits bruchlos in die Stadtentwicklungspolitik integriert sind.

Die Praxis der vorsorglichen Nichträumung, also der Ermöglichung von reglementierten, temporären Besetzungen, wird in Zürich hauptsächlich mit zwei Argumenten begründet: Konfliktvermeidung und Standortmarketing. Tatsächlich werden die temporären Nutzungen elegant in den urbanen Wirtschaftskreislauf integriert: Boden und Liegenschaften, die temporär nutzlos sind, also für eine gewisse Zeit dem Eigentümer keinen Nutzen bringen, können im Sinn eines Zwischenspiels angeeignet werden und symbolischen Mehrwert schaffen. Eine politische Aktion wie etwa die Besetzung des leer stehenden Hardturmstadions («Brotäktschen», 2008) ist gleichzeitig der hippste Partyscheiss des Wochenendes. Das ist das Dilemma. Die Befriedung der Besetzungen (das «Ende des Katz-und-Maus-Spiels», wie es Stadtpräsidentin Corine Mauch genannt hat) ist offenbar nur zum Preis ihrer Entpolitisierung zu haben. Müssen wir uns also damit abfinden, dass Besetzungen nun nichts weiter sind als Partylokale anderer Art, zwar mit lauter Musik, aber ohne Mehrwertsteuer und Security?

Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein kurzer Abstecher in die Geschichte. Die frühere Stadträtin Ursula Koch hielt 1988 anlässlich der Hauptversammlung des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA) eine weitsichtige Rede. Darin bemerkte sie nicht nur, dass die Stadt Zürich gebaut sei, sondern wies auch darauf hin, dass die Urbanität in der Stadt gefördert werden müsse. Damit meinte sie, die Stadt als öffentlichen Begegnungsraum zu verstehen und sie «nicht länger bloss als Kulisse zu gebrauchen». Kulisse wofür? Vor dreissig Jahren bestand die Gefahr, dass die Stadt zum Central Business District einer immer ausgedehnteren Agglomeration verkümmert – die Stadt als Kulisse der Dienstleistungsunternehmen und ihrer Angestellten. Jetzt besteht die Gefahr, dass sich die Stadt zur reinen Kulisse für Niederlassungen globaler Unternehmen und Investoren entwickelt. «Kulisse» trifft es haargenau: Die Ansammlung von Gebäuden sieht zwar nach Stadt aus, tönt nach Stadt und riecht nach Stadt – aber ohne Stadt zu sein: Stadt minus städtische Gesellschaft. Kulisse wofür?

Die Aufgabe progressiver Stadtpolitik

Inwiefern gelingt es Besetzungen, städtische Gesellschaft zu aktivieren? Brechen Besetzungen die Kulisse tatsächlich auf, indem sie den kulissenhaften Charakter der gebauten Stadt offenbaren? Oder sind sie nichts weiter als eben jener Farbtupfer, der die Kulisse realitätsnäher, authentischer macht? Das Problem von Privateigentum besteht nicht darin, dass Personen ein exklusives Recht an der Warennutzung zugesprochen wird, sondern in den sozialen Beziehungen, die, daraus abgeleitet, entstehen. Oder mit Bertolt Brecht gesprochen: «Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?» Frei nach dieser Provokation aus der «Dreigroschenoper» könnte man auch formulieren: Was ist schon eine Hausbesetzung gegen den Besitz eines Hauses? Der Schluss daraus besteht eben nicht darin, alle Eigentümer zu enteignen, sondern im Versuch, Beziehungen und Praktiken zu etablieren, die sich der Eigentumslogik entziehen. Dies ist die Aufgabe progressiver Stadtpolitik. Formen der Politisierung des städtischen Alltagslebens – dazu gehören auch Besetzungen – haben daran wichtigen Anteil.

Gemeinschaftlich organisierte Alltagspolitik verändert die Wahrnehmung und Nutzung des städtischen Raums. Sie kann zudem aufzeigen, dass Stadt als Werk kollektiver Handlungen entgegen der dominanten politischen Haltung nicht zwangsläufig auf die beiden Organisationsprinzipien «Privateigentum» und «staatliche Autorität» angewiesen ist. Sie ist nicht gegen «den» Staat oder «das» Kapital gerichtet, sondern entzieht sich dieser Dualität.

Gut möglich, dass diese Form eines politischen Aktivismus, der sowohl vor als auch hinter den Kulissen stattfindet, manchmal mehr Konfusion als Opposition verbreitet. Aber in diesen verstreuten Experimenten lokaler Autonomie werden performativ diejenigen sozialen Ordnungen unmittelbar verwirklicht, die sie selber einfordern.

Philippe Koch (39) lehrt und forscht am Institut Urban Landscape an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften in Winterthur (ZHAW) und ist im Vorstand von umverkehR. Weder er noch seine Kinder verkehren auf dem Koch-Areal, und auch zu Ursula Koch bestehen keine verwandtschaftlichen Bande.

Die Koch-Posse : 171 Klagen von 5 Leuten

Nach einer Fraktionserklärung der FDP im Zürcher Gemeinderat wegen «unhaltbarer Zustände» auf dem besetzten Koch-Areal rollt im September 2016 eine Medienkampagne an. NZZ und «Tages-Anzeiger» berichten von einer massiven Häufung von Klagen aus dem Quartier. Der Partylärm mache den AnwohnerInnen «das Leben zur Hölle», schreibt der «Tages-Anzeiger».

Am 9. Oktober macht die «Schweiz am Sonntag» publik, dass fast alle der bis dahin eingegangenen 171 Lärmklagen von den gleichen vier bis fünf Personen stammen.

Am 28. Oktober gibt der zuständige Stadtrat Richard Wolff (AL) das Koch-Dossier ab, weil Gerüchten zufolge seine Söhne auf dem Areal leben. Der Polizeivorsteher räumt ein, dass er, entgegen seiner früheren Einschätzung, womöglich doch befangen sei. Neu ist Wolffs Kollege Daniel Leupi (Grüne) für das Koch-Areal zuständig. Am 21. November landet auch die «Weltwoche» noch einen «Coup»: Offenbar haben auch Leupis Kinder schon Partys auf dem Koch-Areal besucht.

Das Koch-Areal in Zürich Albisrieden ist seit 2013 besetzt, heute leben dort zwischen 100 und 150 Menschen. Das Areal gehört der Stadt Zürich, die es vor drei Jahren für siebzig Millionen Franken der UBS abgekauft hat. Die Stadt will auf dem Gelände gemeinnützige Wohnungen, Gewerberäume und einen Park errichten, kann allerdings frühstens 2020 mit dem Bau beginnen.

Florian Keller