Giovanni Orelli (1928–2016): So streitbar wie sprachmächtig

Nr. 49 –

Mit einem Paukenschlag hat Giovanni Orelli Mitte der sechziger Jahre die literarische Bühne betreten: Im Romanerstling «L’anno della valanga», auf Deutsch «Der lange Winter», über den gewaltigen Lawinenwinter 1951 im Nordtessin hat der zum Gymnasiallehrer ausgebildete Bauernsohn aus dem Bedretto seiner Herkunft ein bis heute frisch gebliebenes literarisches Denkmal gesetzt – eindringlich und aus naher Kenntnis der Verhältnisse, dabei unpathetisch genau jenseits aller Idyllik.

Orelli war von Anfang an ein politisch hoch engagierter Autor. Als ich ihn Ende der siebziger Jahre in Lugano kennenlernte, war er für den aufmüpfigen Partito Socialista Autonomo (PSA; links der SP) aktiv. Unerschrockenes, leidenschaftliches Eintreten für Schwache und gegen Unrecht hat ihn bis zuletzt ausgezeichnet. Von seinen BerufskollegInnen hat er stets mehr gesellschaftliche Präsenz und kritische Beiträge gefordert, die Auflösung der Gruppe Olten und die Verlagerung der Verbandsziele auf gewerkschaftliche Anliegen hat er vehement bekämpft.

Wann immer ich dem liebenswürdigen Kahlschädel mit den Augen voller Schalk begegnet bin: Orellis Passion für das Wort liess ihn sogleich aufblühen und mit klugem Witz und satirischer Schärfe über grossartige Poesie oder politische Dummheit debattieren, hellwach, neugierig, streitbar und wortgewaltig. Seine verblüffende Vitalität liess sein wahres Alter stets vergessen.

Zeitweise (zu Unrecht) im Schatten seines älteren Cousins Giorgio, des eminenten Lyrikers, hat Orelli mit dem Grossen Schillerpreis 2012 die verdiente Ehrung für sein eigenständiges, sinnliches Werk bekommen. Dessen Höhepunkt bildet wohl der 1991 vorgelegte, erst 2008 auf Deutsch erschienene Roman «Walaceks Traum», ein raffiniertes, kühnes Buch über die Schweiz, über Paul Klee und dessen Bild von Genia Walacek, dem Genfer Fussballer mit Migrationshintergrund, der an der WM 1938 die Schweizer Fussballnationalmannschaft zum historischen Sieg über Grossdeutschland führte. Ein Buch über die Opfer der Geschichte, gegen das Vergessen. Am 3. Dezember ist Giovanni Orelli gestorben. Wir werden ihn und seine Texte – auch die kunstvollen Sonette und heiteren Vierzeiler über seinen Enkel – nicht vergessen.