Flüchtlinge in Serbien: Kein Recht auf sichere Reise

Nr. 3 –

Die «Balkanroute» gilt als geschlossen. Trotzdem sitzen in Belgrad Hunderte Menschen fest. Der Journalist Benjamin von Wyl war als Helfer vor Ort.

Minus sieben Grad Celsius. 13 Uhr. Vorbei an den grossen Baracken und der langen Schlange, in der Flüchtende für eine der tausend Mahlzeiten anstehen, die Hot Food Idomeni jeden Tag verteilt. Die Hilfsorganisation hat sich vom Schreiben des serbischen Arbeitsministeriums nicht einschüchtern lassen, das im November jede Unterstützung für Flüchtende in Belgrad untersagt hatte. Einige AktivistInnen und ich sind zum Mittagessen eingeladen, links der Hauptbahnhof, rechts der erste Rohbau des Belgrade Waterfront, eines neuen Stadtviertels mit Luxuswohnungen und Shoppingmeile. Letzten Sommer waren bis zu 20 000 Menschen immer wieder gegen das Gentrifizierungsprojekt auf die Strasse gegangen. Gebaut wird trotzdem.

Vorbei an Garagen und Containern. Davor bauen sich Flüchtende gerade Öfen aus alten Fässern, die sie mit Bahnschwellen befeuern. Vorbei an ausrangierten Güterwaggons, die als Behausungen dienen. Das Parterre des «Turms» ist mit Dreckwasser geflutet. Über Hölzer gelangt man zur Treppe. Der Raum im ersten Stock ist vom Ofen in der Mitte gut gewärmt. Es wird geraucht und Tee getrunken. Es ist die wohl komfortabelste Wohnmöglichkeit, die Flüchtende in Belgrad zurzeit haben. Seit zwei Monaten leben hier vierzehn Männer und vier Buben. Sie stellen sich darauf ein, länger bleiben zu müssen.

«Die sind wie Tiere»

Etwa 2000 der 8000 afghanischen, irakischen, pakistanischen und syrischen Flüchtlinge in Serbien leben im Zentrum von Belgrad – weil die sechzehn Camps des Landes heillos überfüllt sind, weil Serbien die Flüchtenden nicht mehr registriert, weil Gerüchte über illegale Ausschaffungen aus den Camps nach Mazedonien und Bulgarien vom UNHCR bestätigt wurden, weil es nur in Belgrad möglich ist, mit Schmugglern in Kontakt zu kommen. Die Schmuggler nennen ihre Dienste «Game». Ein Glücksspiel mit besonders miesen Chancen: Viele haben es schon zehn-, zwölfmal probiert. In Kroatien, in Ungarn.

Wer es schafft, erlebt die Schwerfälligkeit von Asylverfahren. Wer seine Fingerabdrücke in Bulgarien abgegeben hat, muss die Dublin-Ausschaffung fürchten. In Belgrad betreut Médecins Sans Frontières (MSF) etwa einen chronisch Kranken, der sechs Monate lang in Österreich hospitalisiert war und dann nach Bulgarien ausgeschafft wurde. Nun lebt er wieder in Belgrad, in einem der grossen Lagerhäuser. Viele der nach Bulgarien Ausgeschafften haben jetzt Spanien oder Italien zum Ziel. Da könne man wenigstens illegal leben.

Im Turmzimmer gibt es Eintopf. Es ist heimelig. Das Gespräch dreht sich ums Essen und die Schläge, die die kroatische Polizei einem Anwesenden aufs Kreuz gegeben hat. Wie Tiere seien sie, die kroatischen Polizisten, ist zu hören. Später am selben Tag berichtet ein Flüchtender, wie er das letzte Mal von der ungarischen Polizei behandelt wurde: Man habe ihn bei minus vierzehn Grad ausgezogen, kaltes Wasser über ihn gegossen und dann verprügelt. Wie Tiere sei auch die Polizei in Ungarn. Auch die in Bulgarien. Ich stimme zu. Wenigstens in Gesprächen lässt sich die Entmenschlichung umkehren.

Geschäfte mit der Flucht

MSF-Mitarbeiter Andrea Contenta berichtet von sieben Frostbeulefällen in den letzten 48 Stunden, darunter bei einem Baby. «Alle sieben waren unterwegs von der Grenze nach Belgrad. Die europäische Grenzpolitik hat sie auf diese gefährliche Route getrieben.» Contenta sieht vonseiten der serbischen Behörden – und vor allem auch auf internationaler Ebene – keine Versuche, Grundrechte zu gewährleisten. Zu diesen Grundrechten gehört auch das Recht auf sichere Reise.

«Einer, Geflüchteter wie ich, hat dem Fernsehen gesagt, dass wir alle aus wirtschaftlichen Gründen hier seien. Wie kann er das tun?!», meint Hujat Meirzada aus Afghanistan. «Mein Vater wurde von den Taliban getötet. Unsere Geschichten sind so unterschiedlich wie wir selbst.» Sein Freund Syed Khan doppelt nach: «Für die Wechselstubenbesitzer und Kleiderverkäufer auf dem Markt gibt es uns nur aus wirtschaftlichen Gründen! Sie machen ein gutes Geschäft damit, dass wir nichts haben.»

Die Flüchtenden haben keinen Zugang zu Duschen und Toiletten, zu Nahrung, Wasser oder medizinischer Versorgung. In den Camps ist die Situation höchstens teilweise besser. Manche werden von Privaten betrieben – ihnen geht es um Gewinnmaximierung. Was nach dem Camp kommen soll, bleibt ungewiss. Asyl? Integration? In zwei Camps leben noch immer aus dem Bosnienkrieg Geflüchtete. Dieser endete 1995.

Minus vierzehn Grad Celsius. 3 Uhr. Alles ruhig. Zwei Nächte davor trafen wir auf sechs Buben, die aus Verzweiflung ihr kaputtes Zelt angezündet hatten. Es brannte dreissig Sekunden, danach war es wieder kalt und der Windschutz weg. Keiner von ihnen besass eine Decke. Im gedeckten Parkplatz winkt jemand. Wie viele wach liegen, lässt sich nur erahnen. Hier schlafen etwa sechzig Menschen. Er ist taghell erleuchtet, der Boden feucht.

Ein Werbebildschirm berichtet vom ersten Nationalfeiertag der Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina. Mein serbischer Begleiter flucht darüber. Der Konflikt schwelt wieder: Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, hat bereits ein Unabhängigkeitsreferendum angekündigt. Serbien wurde in fünf Jahren vom Auswanderungs- zum Transitland – und wenn die «Balkanroute» geschlossen bleibt, zum informellen Ankunftsland. Dabei ist das Land noch mit der eigenen Traumabewältigung beschäftigt.