Minderjährige Flüchtlinge: Kindheit hinter griechischen Gardinen

Nr. 5 –

In Griechenland sind Hunderte allein reisende Flüchtlingskinder in Gefangenschaft. Malik Fajr wurde mit sechzehn Jahren eingesperrt. Seine Geschichte offenbart einen gravierenden Systemfehler.

Beim Abendessen auf dem Athener Strefi-Hügel entspannen sich Malik Fajrs Gesichtszüge. Eine leichte Brise weht über die Kalksteinfelsen; TouristInnen mit Sonnenhüten laufen umher, Tauben picken auf dem Boden herum. Von hier oben kann man die ganze Stadt sehen. Es ist 18 Uhr, und Malik isst zum ersten Mal an diesem Tag. Seine Hände umklammern das Sandwich, als er sagt: «Jetzt geht es mir besser, seit meiner Freilassung versuche ich zu überleben.» Drei Monate lang sass er mit anderen Flüchtlingen in einem griechischen Gefängnis für illegalisierte MigrantInnen. Das war im letzten Jahr, Fajr ist heute siebzehn Jahre alt.

Malik Fajr will in Deutschland leben und zur Schule gehen. Stattdessen sitzt er in einem Land fest, das für viele Flüchtlinge zur Falle geworden ist – vor allem für jene, die am meisten Schutz bräuchten. Beim Erzählen fällt es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder schaut er sich prüfend um. Will man verstehen, was dem Jungen aus Casablanca in Marokko widerfahren ist, stösst man auf ein Rechtssystem, das den europäischen Standards nicht gerecht wird.

Vom Übergangslager ins Gefängnis

Fajrs Reise begann im Dezember 2015. Er flog von Marokko nach Istanbul und gelangte von dort in einem Schlauchboot nach Griechenland. Nach der Ankunft glaubte er, nun das Schlimmste hinter sich zu haben; auf seinem Facebook-Account ist ein Foto zu sehen, wie er damals lächelnd mit Freunden am Strand posierte. Er sei jetzt auf dem Weg nach Deutschland, schrieb er dazu. Wenig später war Fajrs Account für mehrere Monate inaktiv. Es war die Zeit, die er in einer Haftanstalt für illegale MigrantInnen in Korinth verbrachte.

Der Fall offenbart eine Lücke im System. Denn wie viele andere gab sich Fajr als volljährig aus, als er von den griechischen Behörden registriert wurde: «Die Betroffenen wissen, dass Minderjährige festgehalten werden. Sie geben deshalb an, volljährig zu sein», erklärt Spyros Rizakos, der als Anwalt der nichtstaatlichen Organisation Aitima regelmässig griechische Gefängnisse besucht. Damit würden sie in einen Teufelskreis geraten: «Die Minderjährigen werden als Erwachsene registriert, und nach Ablauf ihrer Aufenthaltspapiere können sie als solche dann auch inhaftiert werden.»

Fajrs Lächeln wirkt gequält, als er erzählt, wie er nach der Ankunft in Griechenland ins Übergangslager Elliniko im alten Athener Flughafen gebracht wurde. Eines Abends tauchten dort Polizisten auf. Sie kontrollierten die Papiere und sagten, man werde ihn und ein paar weitere Flüchtlinge nun in ein Camp mit besserer Infrastruktur bringen. Während des Transports war Fajr aufgeregt. Erst als er den Stacheldraht und das Schild an der Einfahrt des Gefängnisses sah, war ihm klar, was wirklich mit dem «besseren Camp» gemeint war: ein Gefängnis für illegale MigrantInnen.

Die Bedingungen im Gefängnis seien brutal gewesen, erzählt Fajr, vor allem im Winter: «Warmes Wasser hatten wir nur, weil wir mithilfe der offenen Stromleitungen in unserem Trakt das Wasser erhitzten.» Einige Gefangene wagten einen Ausbruchsversuch. Mit Kaffeebechern stellt Fajr die Gebäudestruktur des Gefängnisses nach: «Es wurden Matratzen angezündet. Sie kamen bis zum äussersten Zaun, dann wurden sie geschnappt, und die Polizisten schlugen sie zusammen.» Alles sei voller Blut gewesen. «Obwohl sie Decken über den Stacheldraht geworfen hatten, schnitten sich die Menschen den gesamten Körper auf.»

Einige der Kinder und Erwachsenen fangen in Haft an, sich selbst zu verletzen. Sie ritzen sich mit Rasierklingen die Haut auf. «Am schlimmsten war es, wenn jemand ausgeschafft wurde. Ein Mann hat sich etwa den kompletten Bauch aufgeschnitten», erzählt Fajr. Das verzögerte zwar die Ausweisung, «aber letztendlich sass er dann doch im Bus Richtung Türkei». Fajr beisst auf seinen Fingernägeln herum, den Blick auf den Boden gerichtet.

Fälle wie derjenige von Fajr tauchen in keiner Statistik auf. Und seine Mitgefangenen seien zum Teil noch jünger gewesen als er selbst: «Da war ein Junge, der war vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt. Die Polizisten lachten ihn aus – sie sagten, er könne niemals zwölf sein, er habe ja sogar ein wenig Oberlippenbart», erinnert sich Fajr. Ist man erst mal als volljährig registriert, lässt sich im Nachhinein kaum noch das Gegenteil beweisen.

Kein Ort für Kinder

Allerdings: Hätte sich Fajr bei den Behörden schon von Beginn an als Minderjähriger zu erkennen gegeben, wäre er womöglich auch im Gefängnis gelandet. Seit einem knappen Jahrzehnt werden in Griechenland allein reisende minderjährige Flüchtlinge inhaftiert – zu ihrem eigenen Schutz, argumentieren griechische Behörden: Auf der Strasse würden sie Menschenhandel und Ausbeutung erwarten. Eigentlich sollten sie in Jugendheimen untergebracht werden. Doch es gibt nicht genügend Plätze, rund 1300 Minderjährige standen im Januar dieses Jahres auf der staatlichen Warteliste. Sie leben in überfüllten Camps und auf der Strasse. Werden sie von der Polizei aufgegriffen, kommen sie in sogenannte polizeiliche Schutzhaft.

«Es ist klar, dass eine Zelle kein Ort für ein Kind ist», sagt Giorgos Kyritsis, Sprecher des griechischen Flüchtlingskrisenstabs. «Doch in manchen Fällen gibt es keinen anderen Weg, die Sicherheit der Kinder zu garantieren», rechtfertigt er das Vorgehen. Gemäss Gesetz dürften Minderjährige für maximal 45 Tage festgehalten werden. Tatsächlich dauert die Haft in Einzelfällen jedoch bis zu einem Jahr.

Laut dem griechischen Sozialministerium hielten sich zuletzt etwa 300 unbegleitete Minderjährige in geschlossenen Einrichtungen auf. Die Zahl der inhaftierten erwachsenen Flüchtlinge wird hingegen nicht veröffentlicht. Schätzungen gehen von mehreren Tausend aus. Unter ihnen sind auch Minderjährige wie Fajr.

Gemeinsam mit einer Handvoll FreundInnen unterstützt Julia K., eine junge Sozialarbeiterin aus Deutschland, inhaftierte Kinder in Griechenland. Sie will anonym bleiben, weil sie Angst vor Anfeindungen durch die griechische Polizei hat. «Ich versuche, für die Jungen im Gefängnis da zu sein», sagt Julia. Vor allem, wenn diese nachts nicht schlafen können: «Sobald die Sonne untergeht, schreiben wir Nachrichten hin und her. Wir machen Witze und erzählen uns Geschichten.» Sie berichtet von Elektroschockern, die von PolizistInnen gegen die Kinder verwendet wurden. Und sie zeigt Bilder auf ihrem Handy, die ihr die Kinder zugeschickt haben. Da ist eine Zelle in einer Polizeistation im Norden des Landes zu sehen. Es ist eng, an den Seiten stehen Etagenbetten, aber man erkennt auch Menschen, die auf dem Boden schlafen. Die Wände sind schimmlig. Ein Foto zeigt eine Gruppe junger Afghanen, die sich aus Verzweiflung die Beine aufgeschnitten haben.

Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisierte in einem Bericht aus dem vergangenen Jahr die katastrophalen griechischen Haftbedingungen. Es gebe keinerlei Freizeitbeschäftigung, und mehrere Kinder hätten von Misshandlungen durch die Polizei berichtet. Sie seien von PolizeibeamtInnen geschlagen und regelmässig gefesselt transportiert worden. «Der Mangel an Betreuung, Versorgung und Schutz von Kindern in griechischer Haft bricht internationales und nationales Recht», sagt die Menschenrechtsbeobachterin Eva Cossé von Human Rights Watch.

Polizei und Sozialministerium führen Fajr mittlerweile als minderjährig. Deshalb wurde er vor einigen Monaten freigelassen. Nun wartet er auf seinen Termin bei der Asylbehörde, in der Hoffnung auf einen sicheren Platz im Jugendheim und auf die Möglichkeit, nach Deutschland zu reisen. Sobald er achtzehn wird, sind seine Chancen auf Asyl dort aber sehr schlecht. 2015 lag die Anerkennungsquote für marokkanische AsylbewerberInnen in Deutschland bei 3,7 Prozent.

Eine Zeit lang wohnte Malik Fajr in einem Zelt, das in einem Athener Stadtpark unter einer Pinie stand und gerade gross genug für ihn und seinen Rucksack war. Mittlerweile lebt er in der Wohnung eines Freundes und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch.

Die Recherche der Autoren wurde mit einem Stipendium von Netzwerk Recherche gefördert.

Tote im Flüchtlingslager

Seit Anfang Januar versinken die Flüchtlingszelte in Griechenland im Schnee – die Bedingungen in den überfüllten «Hotspots» sind katastrophal.

Anfang Woche ist ein etwa zwanzigjähriger Geflüchteter aus Pakistan in einem Zelt des Moria-Camps auf Lesbos gestorben. Erst wenige Tage zuvor waren im Flüchtlingslager bereits zwei Männer ums Leben gekommen. Vermutlich sind die Geflüchteten aufgrund giftiger Dämpfe einer improvisierten Heizung umgekommen.

Hotel City Plaza : Zeigen, dass es möglich ist

Jahrelang stand das Hotel City Plaza im zentralen Athener Stadtteil Agios Pandeleimon leer. Im April letzten Jahres besetzten es dann linke AktivistInnen, um es für fast 400 gestrandete Flüchtlinge bewohnbar zu machen. Die BewohnerInnen verwalten das Gebäude zu einem grossen Teil selbst, ein Kern von etwa zwanzig AktivistInnen ist ebenfalls ständig vor Ort.

Denn das «City Plaza» soll den Geflüchteten nicht nur ein Dach über dem Kopf bieten, sondern auch Grundlage für ein würdiges und selbstbestimmtes Leben sein. So werden in Arbeitsgruppen sämtliche Teilaspekte des Zusammenlebens organisiert und diskutiert, von Kochplänen über medizinische Versorgung, Kursangebote und Schulunterricht bis hin zur Kinderbetreuung. Weil in Athen Tausende Flüchtlinge festsitzen, müssen täglich Menschen abgewiesen werden, die sich nach einem freien Platz erkundigen. «In den ersten Monaten konnte ich deswegen kaum schlafen», sagt Aktivistin Olga Lafazani, die sich seit Beginn für das «City Plaza» engagiert. Doch das Hotel soll eben auch ein Modell sein. Die Botschaft an die Stadtbehörden und die griechische Staatsregierung sei eine eindeutige: «Wenn wir es ohne Ressourcen, ohne EU-Gelder, ohne Angestellte und Sozialarbeiter schaffen, Hunderte Menschen mitten in der Stadt unter guten Bedingungen unterzubringen, dann ist es eine politische Entscheidung von euch, dies nicht zu tun.»

Es ist kein Zufall, dass die AktivistInnen für diese Besetzung das Quartier Agios Pandeleimon ausgesucht haben. «Hier war das Zentrum der Faschisten von Chrysi Avgi», sagt die junge Aktivistin Niki Georgiou. Das Hauptquartier der 2013 verbotenen rechtsextremen Partei lag bloss wenige Hundert Meter vom «City Plaza» entfernt, sie erreichte hier erschreckend hohe Wahlresultate. Entsprechend oft kam es auch zu rassistischen Übergriffen. «Nun schaffen wir in dieser Gegend die Möglichkeit, dass sich Flüchtlinge und Anwohner täglich begegnen», sagt Georgiou. Und bisher funktioniere die Nachbarschaft sogar überraschend gut.

Unbegleitete minderjährige Asylsuchende würden im Hotel City Plaza im Normalfall nicht aufgenommen, erklärt Olga Lafazani: «Wir können diese Verantwortung schlicht nicht tragen. Der Staat ist dafür zuständig, dass die Jugendlichen in angemessenen Strukturen untergebracht werden. Unsere Kapazitäten erlauben es uns nicht, die Sorgepflicht für einen Fünfzehnjährigen zu übernehmen.»

Raphael Albisser

Das Hotel City Plaza wird durch Spenden finanziert. www.europas-bestes-hotel.eu