Saul Friedländer: «Den Sinn einer Epoche begreifen»

Nr. 6 –

Der Holocaustforscher Saul Friedländer erzählt im zweiten Band seiner Autobiografie aus seinem Leben ab 1948. Er tut das ganz ohne Eitelkeit – auch dort, wo es um seine wegweisenden wissenschaftlichen Verdienste geht.

Unter den lebenden HistorikerInnen des Holocaust ist der 84-jährige Saul Friedländer der wohl bedeutendste. Sein erzählerischer Stil hat auch einem breiten Publikum den Zugang zu seinem schwierigen und belastenden Thema eröffnet. Jetzt ist der zweite Teil von Friedländers Autobiografie erschienen – die Bilanz eines aussergewöhnlich produktiven Forscherlebens.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs, als er zwölf Jahre alt ist, steht Saul Friedländers Berufswunsch fest: Er will katholischer Priester werden. Als Sohn deutschsprachiger Juden 1932 in Prag geboren, hat er in einem katholischen Internat in Frankreich überlebt. Im Februar 1946 erfährt Saul von einem Jesuitenpater, dass seine Eltern in Auschwitz ermordet worden sind und was dieser Ort bedeutet, dessen Namen er zum ersten Mal hört. Wenig später verlässt er das Internat und zieht zur Familie seines jüdischen Vormunds. Hier hört er weitere Berichte über die Vernichtungslager, erfährt von der bevorstehenden Gründung eines jüdischen Staates und wird Zionist.

Kein Heimatgefühl, nirgendwo

Erzählt hat Friedländer diese Geschichte im Buch «Wenn die Erinnerung kommt» (2007). Der nun erschienene zweite Teil seiner Autobiografie trägt den Titel «Wohin die Erinnerung führt». Er reicht bis ins Jahr 2015 und beginnt im Juni 1948, mit der gefährlichen Reise nach Israel. Einen Monat nach der Staatsgründung betritt der nun fünfzehnjährige Saul Friedländer israelischen Boden: «Nach ‹Erez› zu gehen, hiess mein persönliches Schicksal an das Los einer Gemeinschaft zu binden, hiess von Gemeinsamkeit und Gemeinschaft zu träumen, hiess in der Begeisterung einer Gruppe persönliche Ängste zu verlieren.»

Später erkennt er, dass ihm Gemeinschaft auch Angst macht und dass er durch mehrere «kulturelle Identitäten» geprägt ist. Ein Heimatgefühl entwickelt er nirgendwo, weder in Israel, wo er später für sich und seine Familie ein Haus baut, noch in Kalifornien, wo er heute mit seiner Frau lebt. Schon früh zieht es ihn zurück nach Frankreich. Er studiert politische Wissenschaft, arbeitet für die israelische Botschaft in Paris, dann ein Jahr als Krankenpfleger in Schweden. In New York wird er 1958 politischer Sekretär von Nahum Goldmann, dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses und der Zionistischen Weltorganisation.

Friedländers erster politischer Artikel, 1962 im «Figaro» veröffentlicht, ist ein «Loblied auf Israel». Die «nationalistische Hochstimmung» nach dem Sechstagekrieg von 1967 stört ihn, aber kritische Solidarität mit Israel bleibt eine Konstante in seinem Leben. Immer wieder mischt er sich in Debatten ein, unterstützt den Friedensprozess mit den PalästinenserInnen, bekennt zugleich seine Ratlosigkeit, wenn Hoffnungen wieder einmal «brutal zerstört» werden. Heute überwiegt der Pessimismus, die «Entwicklung hin zu einer zunehmend nationalistisch-religiös geprägten Gesellschaft» stösst ihn ab.

Friedländer erzählt sein Leben ohne Eitelkeit, bekennt persönliche Schwächen: Panikattacken, Phobien und, mit zunehmendem Alter, Gedächtnisschwächen. Erstaunlich wenig Aufhebens macht er um seine wissenschaftlichen Leistungen. Dabei sind diese kaum zu überschätzen. 1984 hält er die zentrale Rede auf dem Stuttgarter Kongress «Der Mord an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg». Im Streit der «Intentionalisten», die von einer Entscheidung durch Hitler ausgehen, mit den «Funktionalisten», die eine «kumulative Radikalisierung» verschiedener Instanzen als Ursache für den Völkermord ansehen, schlägt Friedländer eine Synthese beider Positionen vor: So enthalte die Position der Intentionalisten «das Schlüsselelement der Vorsätzlichkeit. Planung und Vorsatz an der Spitze führen zwangsläufig zu Planung und Vorsatz auf verschiedenen Ebenen der Hierarchie», worauf von den Funktionalisten zu Recht hingewiesen werde.

Dass sich Saul Friedländer ganz auf die Holocaustforschung konzentriert, hat mit Erfahrungen zu tun, die er 1986 in Westberlin macht. Ein privates Abendessen beim deutschen Historiker Ernst Nolte endet mit einem Eklat. Der Gastgeber provoziert mit Thesen, die den Holocaust relativieren, wie er sie ähnlich wenig später in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» veröffentlicht. Mit ihnen beginnt im Juni 1986 der «Historikerstreit». Für Friedländer ein weiterer Anlass, sich «von jetzt an voll und ganz der Geschichte des Holocausts zu widmen». Anfang 1987 übernimmt er den dafür neu geschaffenen Lehrstuhl an der University of California in Los Angeles. Seine wissenschaftliche Arbeit sieht er als Versuch, «den Sinn einer Epoche zu begreifen und die Vergangenheit, nämlich meine eigene Vergangenheit, in einen logischen Zusammenhang zu stellen».

Vor allem zwei Begriffe sind mit Saul Friedländers Forschungstätigkeit untrennbar verbunden: «integrierte Geschichte» und «Erlösungsantisemitismus». «Integrierte Geschichte» bedeutet für ihn zum einen die «Verknüpfung von Täter- und Opfergeschichte». Hier liegt ein wesentlicher Unterschied zu den Arbeiten von Raul Hilberg, den auch Friedländer bewundert. Hilberg konzentrierte sich weitgehend auf die Täter, er führte nüchtern Buch über ihre Verbrechen. Friedländer dagegen gibt den Opfern eine Stimme, indem er ausführlich aus ihren Briefen, Tagebüchern und Erinnerungsbüchern zitiert. «Integrierte Geschichte» bedeutet für ihn aber auch, «die Behandlung der Juden unmittelbar ins Zentrum der Weltanschauung des Regimes und seiner Strategien zu rücken». Er tut das vor allem in seinem zweibändigen Hauptwerk «Das Dritte Reich und die Juden» – einer bis heute unübertroffenen Gesamtdarstellung. Im ersten Band (1998) erläutert er den von ihm selbst geprägten Begriff des «Erlösungsantisemitismus». Darunter versteht er die Ideologie, die Hitler mit Millionen von Deutschen teilte: die Vorstellung von der zersetzenden jüdischen Weltmacht, der das Germanentum im Endkampf entgegentreten müsse; nur der endgültige, totale Sieg würde zur «Erlösung» führen. Zugleich sei Hitler durchaus in der Lage gewesen, seine Wahnvorstellung vom apokalyptischen Endkampf mit den Juden «in moderne Politik, moderne Organisationsformen und moderne Konzepte zu ‹übersetzen›».

Noch immer fassungslos

An seinem Hauptwerk arbeitet Friedländer von 1990 bis 2006. Im Jahr 2007 wird ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen: «Meine Arbeit zum Holocaust war an ein Ende gekommen.» Zugleich hebt er hervor, dass ihm auch nach Jahrzehnten intensiver wissenschaftlicher Arbeit verschiedene «Aspekte des Geschehens eine fortwährende Quelle der Fassungslosigkeit» sind – etwa die Tatsache, dass «in Deutschland nicht eine einzige Persönlichkeit von Format bereit war, sich zu Wort zu melden», um öffentlich gegen die Ermordung der Juden zu protestieren.

Im letzten Kapitel seiner Autobiografie versucht Friedländer ein Fazit. Die Frage, «ob man, nach eigenen Massstäben, wenigstens einen Teil dessen wirklich zustande gebracht hat, was man erreichen wollte», lässt er offen. Seine LeserInnen werden nicht zögern, sie zu beantworten: Saul Friedländer hat Grosses geleistet.

Saul Friedländer: Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben. Verlag C. H. Beck. München 2016. 329 Seiten. 36 Franken