Schule: Schwänzen? Für immer abgeschafft

Nr. 6 –

Mit der «Schuladministrationslösung» SAL, die letztes Jahr in den Baselbieter Sekundarschulen eingeführt wurde, kann man online den Computerraum reservieren – oder SchülerInnen überwachen. Eine Polemik einer angehenden Lehrerin.

Baut Lars sich in der Mathestunde wieder einen Joint? Die Eltern werdens wissen, bevor er ihn angezündet hat. Foto: Adam Haglund, Alamy

Schwänzen ist nicht mehr, Mama und Papa wissen nun alles. Was für PädagogInnen, die besser PolizistInnen hätten werden sollen, und für Helikoptereltern nach einer guten Nachricht klingt, ist eigentlich himmeltraurig.

SAL, die Schuladministrationslösung: Das Administrationstool, das seit letztem August an den Baselbieter Sekundarschulen obligatorisch ist, verlangt von den LehrerInnen, dass sie alle Noten und Absenzen der SchülerInnen sofort eintragen. Und: Die Eltern haben Zugriff auf die Daten ihrer Jugendlichen. Klar, so ein Tool kann man praktisch finden. Mit solchen Argumenten wurde es auch eingeführt: Schaut her, nun könnt ihr online den Computerraum reservieren! Toll!

Aber Überwachung kommt immer freundlich daher, und die Freundlichkeit kann sich als trojanisches Pferd erweisen. Die SAL enthält auch eine speziell fragwürdige Spalte: Beobachtungen. Da können Lehrkräfte vermerken, wie sich Jan heute so angestellt hat in der Schule. Auch das können sich Jans Eltern ansehen, sofern die Lehrperson den Kommentar freigegeben hat. Du hast mit deinem Banknachbarn geredet?! Wehe dir, das schreib ich auf!

Die Beobachtungsspalte

LehrerInnen, die schon immer lieber über ihre SchülerInnen gelästert haben, statt deren guten Ruf zu verteidigen, haben nun das passende Tool und die Legitimation von ganz oben dazu. Noch ist das Ausfüllen der Beobachtungsspalte freiwillig, und nur die besonders zum Denunziantentum neigenden LehrerInnen schreiben da bisher rein. Lehrkräfte, die in vorauseilendem Gehorsam jede Spalte ausfüllen würden, wahrscheinlich auch wenn nach der vermuteten sexuellen Orientierung gefragt würde. Dürfte die Eltern schliesslich auch brennend interessieren. Die mühsamen Seiten der SchülerInnen werden nun also nicht mehr einfach im Lehrerzimmer besprochen und gehen dann vielleicht auch wieder vergessen. Nein, jetzt kann es einen offiziellen Eintrag geben, den Mama und Papa sofort per Mausklick anschauen können. Liebloser geht immer.

Was aber, wenn im kommenden Sommer das Ausfüllen der Beobachtungsspalte nicht mehr freiwillig ist? Irgendwann hat man sich an den Gedanken gewöhnt, dass es da eine Beobachtungsspalte gibt, dann stört es einen auch nicht mehr, wenn das Ausfüllen obligatorisch wird. Die reine Existenz dieser Spalte ist doch schon ein Hinweis darauf, dass sie bitte auch genutzt werden soll. Warum wäre sie sonst da? Verwaltungen machen nicht einfach so Spalten aus Freude an Spalten.

Und wenn es dann obligatorisch ist, könnte es plötzlich heissen, dass man bei Bewerbungen für eine Lehrstelle dem Zeugnis auch noch den PDF-Ausdruck des eigenen SAL-Dossiers beilegen muss. Dann sind das häufige Schwatzen mit der Banknachbarin, das Aus-dem-Fenster-Gucken und das gelegentliche Schwänzen nicht mehr Tempi passati, Strich drunter und neu anfangen. Nein, dies ist dann festgehalten im unerbittlichen Gedächtnis, in das nun auch der Lehrmeister Einblick hat.

Die Pubertät verteidigen

Ja, das ist Zukunftsmusik. Aber schon heute sind die Baselbieter SchülerInnen ein Stück gläserner geworden. Eltern sehen sofort, welche Note ihr Sohn im Mathetest hatte, ob er in Geo zu häufig schwatzte oder ob die Tochter überhaupt in der Schule war. Nun könnte man achselzuckend fragen, wo denn das Problem sei. Man kann die Jungen ja gar nicht früh genug an die systematische Überwachung und Sanktionierung gewöhnen. Man könnte aber auch die Pubertät verteidigen als Phase mit eigenen Gesetzen, irgendwo zwischen ultracool und hochsensibel.

Eine Phase, die zu schützen ist vor dem Zugriff der totalen Kontrolle durch Lehrkräfte oder Eltern. Und in Zeiten, in denen es als progressiv gilt, als Schule selbstorientiertes Lernen zu praktizieren und somit den SchülerInnen vorzugaukeln, sie selbst steuerten ihren Lernprozess, sie selbst setzten sich ihre Lernziele, da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass diese gleichzeitig so streng überwacht werden wie nie zuvor. Man nennt das in der Psychologie, glaube ich, Doublebind. Soll ungesund sein.

Und wenn jetzt Eltern sofort sehen, ob ihre Töchter und Söhne in der Schule waren, dann ist nichts mehr mit Schwänzen. Und Hand aufs Herz, hin und wieder schwänzen war eines meiner Highlights in der Schulzeit. Unterschriften der Eltern nachahmen und sich ureigene Zeit verschaffen, ein kleines Stück Freiheit verteidigen. Die List und Abenteuerlust gewinnt gegen den sanktionierenden Zugriff jener, die dir ständig sagen: «Tu dies!», «Lass jenes!». Schwänzen ist in erster Linie ein Gefühl. An einem Donnerstagnachmittag statt in der Geo am Rhein oder auf einem Dach zu sitzen und dort zu tun und zu lassen, was man will und mit wem man will, ist wirklich schön.

Und Schwänzen lehrt einen Handlungsmacht, es lehrt auch, solidarisch zu sein, seine Gspänli nicht zu verraten, aber auch nicht dann zu schwänzen, wenn die Gspänli auf einen angewiesen sind. Hängen lassen gilt nicht. Und wenn es doch rauskommt: hinstehen, sich entschuldigen und die Strafe absitzen.

Nun aber wissen die Mütter oder die Mütter der Freunde, dass ihre Töchter oder deren Freunde nicht in der Geo waren, noch bevor sich jemand eine Ausrede hätte einfallen lassen können. War die Botschaft der Schule – neben all den humanistischen Botschaften – schon immer auch: «Spuren sollst du!», dann ist diese Botschaft im Baselbiet nun lauter als je zuvor.

Liest man in der Schule eigentlich noch Orwell?

Anna Jungen ist freie Journalistin und besucht als angehende Sekundarlehrerin die Pädagogische Hochschule in Basel, wo sie auch lebt.