Türkisches Tagebuch: Anspielungen statt Worte

Nr. 6 –

Ece Temelkuran über kleine Flaggen der Humanität

1. Februar: Während der Termin für die Abstimmung über das Präsidialregime näher rückt – vermutlich Anfang April –, nimmt die Nervosität im Land immer weiter zu. Viele, die Nein stimmen wollen, ziehen es heute schon vor, ihr Vorhaben nur flüsternd kundzutun. Es ist unheimlich und seltsam zugleich, dass man seine politische Haltung andeuten muss, anstatt offene Statements abgeben zu können.

Manche veröffentlichen Bilder von Staatsgründer Kemal Atatürk auf Instagram oder singen militärische Lieder, die aus den ersten Jahren der Republik stammen. Man verschleiert seine Angst durch Lieder und Witze. Sogar die grössten Zeitungen verraten ihre Besorgnis nur, indem sie auf den Titelseiten über den US-amerikanischen Richter berichten, der sich Donald Trump widersetzt hatte. Anspielungen ersetzen Worte.

2. Februar: Das Video eines Arbeiters dominiert die Schlagzeilen. Der arme Mann legt darin seinen Mantel um einen streunenden Hund, um ihn vor der Kälte zu schützen. Kleine Liebesbekundungen wie diese werden durch die sozialen Medien derart vervielfacht, dass ich das Gefühl bekomme, die Menschen hätten ein gewaltiges Verlangen danach, in diesen schlimmen Zeiten das Gute in der Menschheit zu sehen.

3. Februar: Eine neue bizarre Figur ist aufgetaucht: die Urenkelin des letzten osmanischen Sultans. Überall ist sie dieser Tage in den Medien, gibt komische Interviews, in denen sie Präsident Recep Tayyip Erdogan und den von ihm angestrebten Regimewechsel unterstützt. Heute verlangt sie die kleine Bosporusinsel Suada, weil ihre Familie eine entsprechende Urkunde habe. In einem normalen Land mag das lustig klingen. Doch was würde geschehen, sollte der Präsident entscheiden, dass ihr die Insel tatsächlich gehören soll? Wer würde ihn aufhalten?

Heute ist Angela Merkel bei Erdogan zu Besuch. Wie bereits bei Theresa May erwartet die internationale Presse auch von ihr ein paar ernsthafte Äusserungen über Menschenrechtsverletzungen und antidemokratische Praktiken. Doch nichts passiert. Stattdessen ist Erdogan wütend, weil Merkel von «islamistischem Terror» spricht. «Sie hat ihre Lektion gelernt», steht später in den Zeitungen.

4. Februar: Wie erwartet sind die Schlagzeilen voll von Erdogan, der Merkel eine Lektion erteilt. Derweil erscheint ein Video, in dem ein kleines Mädchen einer Ziege bei der Geburt eines Zickleins im Schnee hilft. Die verzweifelte Entschlossenheit, diese Videos zu verbreiten, kommt dem Hissen von lauter kleinen Flaggen der Humanität gleich.

5. Februar: Die Parteien links und rechts der Mitte geben ihre Erklärungen zum Referendum ab, bemühen sich um eine gemeinsame Front gegen den Regimewechsel. Doch wer soll schon von dieser politischen Aktion erfahren, wenn die grossen Medien die Nachricht nicht verkünden? Die einzige Zeitung, in der die Meldung in den Schlagzeilen auftaucht, ist die «Cumhuriyet», deren Redaktoren und AnwältInnen die letzten hundert Tage ohne Anklage im Gefängnis verbracht haben.

6. Februar: In meiner Heimatstadt Izmir gab es mal die Patisserie Joy – ein legendärer Ort und wichtigster Treffpunkt in einer Zeit, als wir noch keine Handys besassen. Heute habe ich erfahren, dass die Patisserie bald zumacht. Mittlerweile sind viele Orte, die der Lebenslust der Mittelschicht eine Heimat waren, geschlossen worden. Juristische, politische und soziale Institutionen sind durch die dramatischen Veränderungen in der Türkei paralysiert, wenn nicht komplett zerstört worden. Doch manchmal bedeutet der Verlust solch schöner Orte wie des «Joy» emotional einen tieferen Einschnitt als die Schliessung fundamentaler Institutionen.

Sie wollen ein Land aufbauen, in dem die Menschen vor ihren betäubenden und indoktrinierenden TV-Bildschirmen Sonnenblumenkerne essen und ihre Stimme abgeben, wenn die Regierung es von ihnen verlangt. Gibt es für mich in dieser neuen Türkei überhaupt noch Platz? Ich bin nicht die Einzige, die sich diese Frage stellt.

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul. An dieser Stelle führt sie bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Anna Jikhareva.