Von oben herab: Supermarktwirtschaft

Nr. 6 –

Stefan Gärtner über das neue Aldi-Kind

Das Schöne an dieser Kolumne ist für mich, dass ich Woche für Woche etwas über die Schweiz lerne, zum Beispiel, dass es da «Migros-Kinder» und «Coop-Kinder» gibt, und der Unterschied, verstehe ich den Kabarettisten Gabriel Vetter recht, wäre, dass die Coop-Kinder die mit dem biologisch abbaubaren Holzspielzeug sind.

Ein Coop-Kind wäre also auch die deutsche Jungjournalistin, die irgendwann mal bei einer Sind-Lebensmittel-zu-billig-Diskussion im Fernsehen mitteilte, sie verstehe diesen Billigdrang schon emotional kein Stück, habe sie doch als Kind bereits gelernt, dass Einkaufen auch mit «Sinnlichkeit» zu tun habe. Sie dürfte, das stellt das deutsche Klassensystem sicher, nie mit Kindern gespielt haben, für deren Eltern es beim Einkaufen eher darum ging, dass der Kühlschrank voll wurde. Coop und Migros, das ist, übersetze ich mir das richtig, wie Adidas und Puma, bevor Puma cool war.

In Deutschland, so war zu lesen, habe Aldi sein Sinnlichkeitsdefizit erkannt und verabschiede sich jetzt von Betonfussboden und Nudeln aus dem Pappkarton. Das hat, wie auch nicht, aber bloss mit dem Geschäft zu tun, das nicht mehr ganz so von selbst läuft, seit der immerwährende Preiskampf auf dem Lebensmittelmarkt, der Discountpreise auch in den regulären Supermärkten erlaubt, das Alleinstellungsmerkmal des Billigstanbieters erschüttert hat. In der Schweiz nun, wo es billige Lebensmittel nach deutschem Verständnis ja sowieso nicht gibt, ist Aldi dabei, das «Aldi-Kind» zu etablieren. In der Kleinstadt meiner Kindheit gab es keinen Aldi, aber wenn es ihn gegeben hätte, wäre ein Aldi-Kind eins gewesen, das weder Adidas noch Puma, sondern die Schuhe mit den zwei (oder vier) Streifen gehabt hätte, Marke «Spardirdas», wie der böse Kindermund das nannte. Das Schweizer Aldi-Kind dagegen soll etwas sehr Cooles sein: «Die Schweiz hat ein neues Kind. Und plötzlich sehen andere Kinder alt aus», heisst es in der Werbekampagne. Denn die anderen Kinder kaufen teuer ein, das schlaue Aldi-Kind hingegen will «nicht alles, sondern nur das Beste».

Das ist wirklich schlau, denn was Aldi jedenfalls mir immer mitverkauft hat, ist das gute Gefühl, in einem sozialistischen Supermarkt unterwegs zu sein: Jedes Produkt gibt es genau einmal, es trägt keinen Markennamen, sondern allenfalls dessen quatschige Simulation («Knusperone»), und man wird es anderswo keinesfalls billiger kriegen; es ist also so konkurrenzlos wie ein sozialistisches Lebensmittel eo ipso. Was kapitalistisch ein Mangel ist, war bei Aldi immer eine Tugend und der Gegenentwurf zu einer konsumistischen Konkurrenzwelt, wenn man davon absah, auf wessen Rücken Dauertiefpreise veranstaltet werden müssen.

In Deutschland war Aldi eine Zeit lang cool und es der snobistische Akt schlechthin, seinen Champagner dort zu kaufen. Diese öd ironischen Zeiten sind vorbei, und auch im Reich muss der Konzern unter dem Slogan «Einfach ist mehr» einen Lifestyle erst wieder behaupten. Einerseits müssten wir es begrüssen, wenn Billigkaufen kein Stigma mehr wäre, grad auf dem Pausenhof nicht; andererseits haben wir halt keinen Sozialismus und ist ein Discounter keine soziale Tat, sondern verschiebt nur die sozialen Kosten kapitalistischer Wirtschaft. Und dass es eine Sache des Marketings sein soll, die Klassengesellschaft zu überwinden, kaufen wir Aldi Suisse natürlich erst recht nicht ab.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.