Die rätselhafte W.: Allmächtig und missverstanden

Nr. 8 –

Wieder einmal ist sie sehr im Gespräch. Und allenthalben wird diskutiert, wie es ihr wohl geht. «Wacht die W. jetzt endlich auf?», lautete unlängst die Überschrift zu einer abendfüllenden Fernsehdiskussion. Müssen wir uns Sorgen machen? Aus oberen Etagen wird jedenfalls darauf hingewiesen, dass wir jetzt besonders geflissentlich auf sie aufpassen müssten.

Allem Anschein nach handelt es sich bei dem Geschöpf, das wir an dieser Stelle W. nennen wollen, um ein überaus pflegeintensives Wesen. Zu befürchten ist offenbar auch eine gewisse Gefrässigkeit, verbunden mit latenter Unbarmherzigkeit. Aus den Zwischentönen in all den Gesprächsrunden hören wir eine ernst zu nehmende Drohung: dass wir schon noch auf die Welt kommen werden, wenn wir die Bedürfnisse dieser W. nicht pünktlich und grosszügig genug befriedigen.

Aufgrund der allgegenwärtigen Warnungen ist davon auszugehen, dass sie zurückschlägt, wenn wir ihren Forderungen nicht brav Folge leisten. Fast scheint es, als läge es in ihrer unsichtbaren Hand, uns umgehend aufs Schlimmste zu bestrafen. Verlangt wird, so erfahren wir aus zahlreichen Leitartikeln, eine Art weltliche Gottesfurcht. Denn auch das ist aus all den Warnungen, Brandreden und Pamphleten derer zu lesen und zu hören, die sich als die offiziellen HüterInnen der W. ausgeben: dass jene, die ihr nicht voll und ganz zu Diensten stehen, früher oder später den Boden unter den Füssen verlieren und verhungern werden.

Geht es nach den vereinigten FreundInnen der allmächtigen W., so haben es Normalsterbliche mit einer seltsamen Logik zu tun: Je mehr sie ihr schenken, desto weniger wird sie ihnen stehlen. Damit die W. uns also die Existenzgrundlage nicht nimmt und – selber kollabierend – uns nicht in den Abgrund reisst, müssen wir uns für sie aufopfern. So funktioniert diese W. nach Angaben ihrer HüterInnen: Je weniger Dank du von ihr als Lohn in Anspruch nimmst, desto eher darfst du ihr dienen. Kurzum: Das Verhältnis der normalsterblichen Bevölkerung zur W. besteht in einer ewigen Schuld.

Wer aber ist diese W. in Wirklichkeit? Muss man sie sich tatsächlich als gottähnliches Wesen vorstellen, das gleichsam über uns schwebt und über unser Wohlverhalten wacht? Sind jene, die sich selber zu ihren SprecherInnen machen und demonstrativ für ihr Wohlergehen sorgen, tatsächlich ihre legitimierten HohepriesterInnen? Wird man dem Wesen der W. gerecht, wenn man solche wortreichen und gut verdienenden Gestalten als ihre VertreterInnen – und damit als eigentliche «Stützen der Gesellschaft» – akzeptiert? Handelt es sich bei der viel diskutierten W. nicht vielleicht nur um eine primitive Abstraktion, die für einen Zusammenhang steht, der zwischen uns allen floriert oder eben dahinwelkt? Ist die W. – um der Dogmatik ihrer PriesterInnen eine modernere, lebensnahe Theologie entgegenzusetzen – nicht gerade all das, was die gesamte Bevölkerung mit-, gegen-, durch- und füreinander arbeitet, handelt und unternimmt?

«Wacht die W. jetzt endlich auf?» – Es ist jedenfalls Zeit, sie auf den Boden der Realität zu holen. Sie steht nicht über uns und sorgt für unser Wohlergehen, damit wir ihr dienen. Wir selber sind die W.: die schlecht versicherte albanische Putzfrau, der halsbrecherisch arbeitende portugiesische Bauarbeiter zum Beispiel. Die Grossmutter, die für die Betreuung ihrer Enkel gratis sorgt. Die W., das ist der polnische Feldarbeiter, der die schweizerische Landwirtschaft vor ihrem Untergang bewahrt, die ukrainische Hausangestellte, die dem ehemaligen Direktor einen schönen Lebensabend ermöglicht, die philippinische Krankenschwester, die slowakische Pflegerin, die 22 Stunden pro Tag die demente Ehefrau des ehemaligen Direktors bewacht. Und ja: Auch der Direktor selber, der weiterhin erfolgreich mit Aktien handelt, gehört in gewisser Hinsicht zur W. Wie übrigens auch die Politikerin, deren Arbeit darin besteht, den Glauben zu verbreiten, dass die W. ein Phänomen sei, dem die Putzfrau ihre Existenz zu verdanken habe.

Wenn es allen gut geht – dann floriert die W. Seien wir freundlich mit ihr. Seien wir wirtschaftsfreundlich!