Schwarze Frauen in Biel: «Der Blick der anderen, das ist entscheidend»

Nr. 9 –

Die Stimmen, Geschichten und Ideen nichtweisser Frauen sind in der Schweiz kaum hörbar. Ein Buchprojekt über schwarze Frauen in Biel wollte dies ändern, doch es fanden sich keine Geldgeber. Die WOZ publiziert hier eine «Miniausgabe» des Buchs.

  • Vier schwarze Frauen aus Biel, vier verschiedene Geschichten: Juliet Bucher, Myriam Diarra, Fork Burke und Serwah Rejoice Latzoo.
  • Juliet Bucher: «Wenn meine Söhne mit ihren weissen Freunden unterwegs sind, sind sie die Einzigen, die von der Polizei kontrolliert werden.»
  • Serwah Rejoice Latzoo: «Als Schwarze sollst du aber dankbar sein, bescheiden. Das macht mir oft zu schaffen.»
  • Myriam Diarra: «Ich musste mich doch nicht ‹integrieren›. Ich war schon immer hier.»
  • Fork Burke: «Warum sollen sich nicht auch diejenigen, die in der Mehrheit sind, anpassen, verändern?»

Als wir vor einigen Jahren über den Bieler Weihnachtsmarkt spazierten, fiel unser Blick auf ein romantisch-altmodisches Karussell. Auf dem Karussell befand sich eine menschengrosse Holzfigur: Ein schwarzer Mann mit wulstigen Lippen und breiter Nase – gekleidet als Diener – schob einen Wagen vor sich her, in den sich Kinder während der Karussellfahrt setzen konnten. Es handelte sich um eines jener klassischen Motive aus der Zeit des Sklavenhandels.

Wir waren konsterniert: Konnte das wirklich wahr sein? Konnte es sein, dass eine solch kolonialrassistische Darstellung den Weihnachtsmarkt schmückte? Wir beschlossen, eine öffentliche Kritik zu formulieren, und forderten, dass die Figur entfernt würde, da sie verletzend sei.

In der Stadt gab es einen kleineren Aufstand. Man beschuldigte uns, politisch überkorrekt zu reagieren, wir sollten uns gescheiter um Flüchtlinge und «echte» Probleme kümmern, warf man uns auch von links vor. In der lokalen Presse erschienen ablehnende Kommentare. Während Nachtschichten formulierten wir Repliken: dass auch uns selbstverständlich klar sei, dass das Problem des Rassismus damit nicht gelöst würde, dass wir aber ein Nachdenken über kulturelle Symbole anregen wollten. Auch argumentierten wir, dass wir uns wünschen würden, die Definition darüber, was als verletzend empfunden wird und was nicht, doch Betroffenen zu überlassen. Anstatt vom hohen (weissen) Ross zu definieren, was «echter» und was «unechter» Rassismus sei. Unsere Replik wurde nie gedruckt. Man lachte über uns, Myriam und Fork riet man, «wieder nach Afrika zu gehen», wenn es ihnen hier nicht passe.

Es wurde spürbar, wie riskant es für nichtweisse Frauen ist, die Stimme zu erheben. Es wurde spürbar, wie gross das Unverständnis und die Abwehr gegenüber unserem Anliegen, Kulturgeschichte zu hinterfragen, waren. Wir konnten uns auf keinen gewachsenen Wissensstand, keine gemeinsame Sprache, keine «Black History» berufen – wie Fork es aus den USA kannte –, es fühlt sich an, als müssten wir bei null beginnen.

Schwarze Frauen sichtbar machen

In Biel, muss man wissen, leben viele Menschen afrikanischen Ursprungs. In der Innenstadt ist es unübersehbar: Die schwarze Diaspora hat hier ein Zuhause. Umso bedenklicher ist es, dass es bisher kaum Forschung über ihre Lebensumstände gibt, wenig Geschichtsschreibung über die bereits Jahrzehnte währende Migration aus afrikanischen Ländern. Diese reichhaltige Geschichte, die verschiedenen Communitys, Aktivitäten und Perspektiven sind nicht nur in Biel kaum sichtbar, sondern in der Schweiz insgesamt. In den Medien wird oft ein pauschalisierendes Bild vermittelt oder nur über «Probleme» berichtet.

Natürlich gibt es in Biel auch Gruppen und Institutionen, die sich gegen Rassismus einsetzen und wichtige Arbeit leisten. Aber über subtile Formen des Rassismus herrscht in der Schweiz, besonders in ländlichen Regionen, grosses Unverständnis. Eng damit verknüpft sind eine systematische Ausblendung der kolonialen Verstrickungen der Schweiz und der Umstand, dass sich diese Ausblendung bis heute auf die Wahrnehmung und Darstellung schwarzer Menschen und auf ihr Leben auswirkt. Über den Schweizer «Kolonialismus ohne Kolonien» gibt es wenig Bewusstsein, die Forschung dazu ist erst in den letzten Jahren in die Gänge gekommen.

Nach der Karussellgeschichte waren wir zwar ernüchtert, aber nicht entmutigt. Was konnten wir tun? Inspiriert vom Buch «Terra incognita? Der Treffpunkt Schwarzer Frauen in Zürich», das 2013 von Shelley Berlowitz, Elisabeth Joris und Zeedah Meierhofer-Mangeli herausgegeben worden war, beschlossen wir, die Geschichte der schwarzen Diaspora in Biel aufzuschreiben, unter Berücksichtigung der Migrations- und Kolonialgeschichte. Vor allem die Geschichte der schwarzen Frauen interessierte uns. Es ging uns um weibliche Perspektiven.

Und so machten wir uns an die Arbeit, formulierten ein Konzept und stellten Anträge an Stiftungen. Die Idee: schwarze Frauen sichtbar machen, ihre Ideen, Biografien und Erfahrungen. Diese sind nicht nur nicht hörbar, sie sind auch divers – es gibt so unterschiedliche Erfahrungen, so vielfältige Geschichten, die weder an Schulen – trotz der vielen schwarzen Kinder – gelehrt werden noch in Medien wirklich vorkommen.

Wir erhielten Absage um Absage, niemand wollte das Projekt unterstützen. Schliesslich legten wir die Sache auf Eis. Vor kurzem kam die Anfrage von der WOZ, ob wir nicht eine «Miniausgabe» des geplanten Buchs zum 8. März publizieren möchten. Wir organisierten einen Abend mit schwarzen Frauen aus Biel. Hier sind ihre Geschichten:

Juliet Bucher

Ich bin gerade fünfzig geworden. Ich kam 1996 in die Schweiz und habe drei erwachsene Söhne. Wir lebten erst in Grenchen, dann sind wir nach Evilard gezogen, später nach Biel. Vor meiner Pflegeausbildung machte ich beim Roten Kreuz verschiedene Kurse, jetzt bin ich Fachfrau Gesundheit im Krankenhaus. Mir gefällt dieser Beruf, ich mag den direkten Kontakt mit Menschen, ich mag es zu helfen.

Am Anfang war es schwer, das Wetter, der Nebel, die Dunkelheit. Ich habe so gelitten, ich kam aus der Sonne! Mein Sohn sagte morgens: «Mami, warum soll ich in den Kindergarten? Es ist doch mitten in der Nacht?»

Er musste sich anpassen an all diese strengen Regeln. In Ghana war alles viel freier, es ging ums Spielen, einfach frei spielen. Hier musste man still sitzen. Stundenlang. Er wurde immer beurteilt: Er sei zu laut, zu aggressiv. Das hatte schlimme Effekte auf ihn. Die ganze Zeit diese negativen Feedbacks. Immer war er schuld an allem.

Und ich war hilflos, weil ich die Sprache nicht konnte: Wie willst du mit Lehrerinnen über diese Probleme sprechen? Ich weinte viel, versteckte mich, ich wollte nicht, dass mein Kind es sieht oder mein Mann. Es gab Zeiten, da klingelte es an der Tür, aber ich machte nicht auf, ich dachte: Was soll ich mit der Person reden, die da vor der Tür steht? Ich konnte ja nichts sagen! Ich habe durch das Guckloch geschaut und gehofft, dass die Person wieder weggeht. Mein Selbstbewusstsein war im Keller.

Aber ich beschloss, die Sprache zu lernen, etwas für mich zu tun. Ich bekam ein zweites Kind, da ging ich raus, habe bei Mutter-Kind-Angeboten und Spielgruppen mitgemacht, das hat geholfen. Es gibt kein Zuhause ausser in dir selber. Es ist ein langer Weg, sich damit zu arrangieren. Ich glaube, ich habe das jetzt ganz gut hinbekommen, auch dank der Unterstützung meines Mannes. Ich habe aufgehört, zu sehr auf das Urteil anderer zu hören. Es zieht dich runter.

Aber der Rassismus hat nie aufgehört. Zum Beispiel beim Einkaufen: Vor dir steht ein weisser Mann, der zahlt mit hundert Franken, alles geht schnell, die Kassiererin nimmt das Geld und wechselt. Als ich an der Reihe bin und ebenfalls mit hundert Franken zahle, inspiziert sie die Note von allen Seiten, als ob sie gefälscht wäre. Einmal ging ich Schuhe kaufen. Ich bat um den zweiten Schuh. Und die Verkäuferin fragt: «Haben Sie den Preis gesehen?» – «Ja, habe ich. Steht doch überall dran!» Aber sie unterstellte mir automatisch, dass ich mir das nicht leisten könne. Das ist sehr verletzend. Als Oprah Winfrey dasselbe passierte, als sie an der Zürcher Bahnhofstrasse eine Handtasche kaufen wollte, wurde endlich mal darüber gesprochen, was uns schwarzen Frauen täglich passiert. Uns nicht bekannten Frauen glaubt man aber nicht.

Wenn meine drei Söhne mit ihren weissen Freunden unterwegs sind, sind sie die Einzigen, die von der Polizei kontrolliert werden. Und wenn sie dann eines Tages explodieren? Ich meine: Diese kontinuierliche Gewalterfahrung mündet irgendwann in Gewalt. Wen wundert das? Ich habe immer wieder Leserinnenbriefe geschrieben über Rassismus. Es kamen erschreckende Antworten: Ich solle das Land verlassen, ich solle mich zufriedengeben und dankbar sein. Ich erhielt zahlreiche anonyme Drohbriefe. Ich ging zur Polizei, und sie sagten, ich solle mir Pfefferspray besorgen, für alle Fälle. Aber was nützt Pfefferspray dagegen, auf der Strasse ständig als Prostituierte behandelt zu werden? Wie reagiert man auf Männer im Alter der eigenen Söhne, wenn sie fragen, was es kostet?

Wir haben viel dafür gekämpft, dass unsere Söhne ihre Schulkarriere machen konnten. Der älteste beendete kürzlich seinen Master an der Uni St. Gallen, der jüngste steht kurz vor der Berufsmatura, und der mittlere holt die Matura nach. Ich möchte weitergeben, was ich gelernt habe. Als Mutter von schwarzen Kindern. Aber auch sonst.

Ich möchte in die Politik und mitentscheiden. Ich bin heute in einer guten Ausgangslage, um Stadträtin für die SP zu werden. Ich will die Stimme all jener sein, die nicht so eine günstige Ausgangslage haben wie ich. Ich weiss, dass die Schwarzen nicht dasselbe Gehör finden, wie wenn mein weisser Ehemann und ich uns zusammen Gehör verschaffen.

Meine Strategie, zu überleben, ist zu helfen. Leute kommen zu mir, wenn sie Hilfe brauchen. Mein Mann und ich helfen vielen Leuten, vor allem Frauen, die neu in die Schweiz kommen. Sie sind wahnsinnig verletzlich, vor allem wenn sie keine Papiere haben oder Männer, die sie nicht unterstützen. Es ist nicht geklärt, wo sich ankommende Menschen zuallererst hinwenden müssen, um sich im dichten Dschungel der Regeln dieser Gesellschaft zurechtfinden zu können. Oft scheint es die reformierte Kirchgemeinde Biels zu sein, die schnell unbürokratisch helfen kann. Zu helfen hilft mir selber, den Rassismus und die Negativität zu vergessen und gegen das Gefühl anzugehen, dass wir als Schwarze nichts tun können. Es stimmt nämlich nicht: Wir tun viel. Die ganze Zeit! Und das zu spüren, die eigene Tätigkeit, das gibt mir viel.

Myriam Diarra

Ich bin vierzig Jahre alt und in Biel geboren. Mein Vater kommt aus Mali, meine Mutter ist Schweizerin. Ich war eines der ersten schwarzen Kinder in Biel. Man könnte sagen: Ich bin Schweizerin. Ich bin hier gross geworden. Aber der Punkt ist: Ich werde nicht als Schweizerin betrachtet. Die Leute urteilen schnell anhand des Aussehens. Ich bekomme so viele Bemerkungen: «Oh, du sprichst aber gut Französisch!» Oder: «Du bist aber gut integriert!» Das ist nicht schmeichelhaft. Weil, ich musste mich ja nicht «integrieren». Ich war schon immer hier. Aber ich musste, im Unterschied zu meinen weissen Freundinnen und Freunden, beweisen, dass ich Schweizerin bin.

Man kann natürlich auch paranoid werden. Wenn mich jemand anstarrt, dann denke ich sofort: Diese Person beurteilt mich anhand meiner Hautfarbe. Ich bin nicht «afrikanisch» aufgewachsen oder erzogen worden, ich weiss eigentlich nicht so viel über diesen Hintergrund. Meine Eltern waren eher isoliert. Ihre wenigen Freunde waren sehr jung, Leute mit eher offenem Geist. Insgesamt aber, wie meine Mutter mir erzählte, waren «gemischte» Paare nicht wirklich akzeptiert.

Die Familie mütterlicherseits fand es nicht gut, dass meine Mutter mit einem Schwarzen zusammen war. Auch in der Schule habe ich viel Rassismus erfahren. Ich habe als Kind versucht, den anderen zu beweisen, dass ich auch Schweizerin bin. Ich habe erzählt, dass ich gern Fondue mag, dass ich Ski fahre. Naja, ich mag diese Dinge ja schon. Aber ich habe es eben immer total betont. Ich musste braver sein, angepasster. Sobald ich etwas falsch machte, wurde das viel mehr beachtet als bei anderen Kindern.

Der Blick der anderen, das ist entscheidend. Man beginnt, sich über diesen Blick zu definieren. Klar, da gibt es auch positive Äusserungen: «Schöne Hautfarbe» oder «Schöne Locken!», «Du tanzt aber gut!». Aber es waren oft diese positiven Klischees, die es schwer machten, zu reagieren, sich zu wehren, überhaupt zu verstehen, was für subtile Mechanismen da wirksam sind. Ich war mit so vielen Schubladen konfrontiert, die überhaupt nichts mit mir zu tun hatten. Zum Beispiel mag ich keine Reggaeveranstaltungen. Aber alle schrieben mir das zu und wunderten sich, dass ich nach Finnland in die Ferien gehe und nicht nach Jamaica, dass ich nicht an diese Art Partys ging.

Ich arbeite mit Kindern, habe verschiedene Ausbildungen gemacht, auch eine Tanzausbildung. Damit wurde ich natürlich erst recht kategorisiert. Myriam, die afrikanische Tänzerin! Als ich mich auf eine Stelle als Erzieherin bewarb, sagten sie mir: «Wir brauchen keine Tänzerin.» Obwohl ich mich ja als Erzieherin beworben hatte. Ich wurde aber auch von anderen schwarzen Menschen komisch angeschaut, mit meinem weissen Freundeskreis oder meinem weissen Ehemann. «Du gehörst wohl eher zu den Weissen? Bist nicht ganz so schwarz?»

Es ist schwierig zu wissen, wo man hingehört, das ist bis heute eine tägliche Herausforderung für mich: Wo gehöre ich hin? Und mich zu befreien von den Zuschreibungen von aussen. Ich muss die ganze Zeit kämpfen.

Serwah Rejoice Latzoo

Ich kam 1996 von Ghana in die Schweiz. Das Leben war am Anfang nicht einfach. Die Sprache war ein grosses Problem. Ich musste alles neu lernen und war isoliert. Du kannst nichts machen. Nicht kommunizieren. Ich ging also in den Deutsch- und den Französischunterricht.

Als ich Kinder bekam, wurde es besser. Da fand ich Kontakt zu anderen Müttern, ging raus. Wenn man Mutter ist, hat man ein anderes Ansehen. Ich glaube, ich bin heute gut integriert. Aber dieses Gefühl, dass etwas fehlt, ist geblieben. Es ist einfach sehr anders hier. Die Gesellschaft, die Mentalität, die Gastfreundschaft. Es braucht wahnsinnig viel Zeit, sich daran zu gewöhnen. Ich fühle mich zu sechzig Prozent zu Hause in der Schweiz. Der andere Teil fehlt. Es hilft, dass ich immer noch Kontakt nach Ghana habe und immer wieder hinfahre.

Als ich in die Schweiz kam, habe ich Toiletten geputzt. Aber ich sagte mir: Ich will das nicht auf Dauer, ich muss etwas ändern, ich will etwas lernen. Und so habe ich begonnen, mit Kindern zu arbeiten, zuerst ohne Ausbildung, dann ging ich zur Schule und habe mein Diplom als Kleinkinderzieherin gemacht. Ich musste viel kämpfen, aber ich sagte mir: Nein, ich will nicht aufgeben, alle schauen auf mich. Und alle denken, die will nur einen Mann, die will nur die Papiere.

Ich habe meine Nichte adoptiert, sie hat ihre Eltern verloren. In der neuen Schule sagten sie: «Ihr IQ ist nicht so wie bei den anderen.» Ich ging zu einem Gespräch und sagte: «Sie braucht Zeit! Sie hat ihre Eltern verloren!» Sie wollten sie in eine Sonderschule schicken. Dann bin ich wieder mit meinem Schweizer Mann hin, und da lief alles anders: Sie haben uns ernsthaft zugehört, alles lief sehr korrekt, sie haben sich völlig anders verhalten. Und meine Nichte wurde nicht versetzt. Etwas später war sie eine super Schülerin! Der Lehrer war total überrascht.

Man fängt an, an sich selbst zu zweifeln: Kann das sein? Habe ich etwas nicht richtig verstanden? Bin ich paranoid? Aber die haben sich bei dem Gespräch mit meinem Mann völlig anders verhalten. Manchmal stelle ich mir vor, was aus meiner Nichte geworden wäre, wenn ich allein gewesen wäre oder einen schwarzen Mann gehabt hätte, einen, der sich ebenfalls nicht auskennt im System, die Sprache schlecht spricht.

Man muss viel kämpfen, sich beweisen. Lautes Lachen wird nicht gern gesehen, oder Humor. Aber ich lache so gern! Als Schwarze sollst du aber dankbar sein, bescheiden. Das macht mir oft zu schaffen.

Fork Burke

Ich glaube, ich kam 2008 aus New York nach Biel. Himmel, ich bin so schlecht mit Daten. Jedenfalls war mein erster Eindruck: In welchem Jahr leben wir hier? Aus den USA hierherzukommen, fühlte sich an, wie zurückzugehen in eine Zeit, in der Kämpfe gefochten werden, wie meine Mutter sie gefochten hat.

Ich hatte dieses Gefühl, dauernd angestarrt zu werden. Als Fremde, als Schwarze. Ich brauche hier wirklich viel Energie, um aus dem Haus zu gehen. Du wachst auf, bist in einer guten Stimmung, dann gehst du raus, und die Leute starren, und das zieht mich runter. Verglichen mit Amerika ist es unfreundlich hier.

Ich muss mich viel mehr vor negativen Energien schützen. Auch mein Kind muss ich schützen. Einmal wollte ein Kind in der Klasse die Hand meiner Tochter nicht halten. Es war schrecklich. Ich dachte: Leben wir im Jahr 1960?! Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet. Alle sagten: «Du musst dich integrieren und die Sprache können!» Ich antwortete: «Und ihr müsst freundlicher sein!» Ich habe mich bis heute geweigert, Deutsch zu lernen. Womöglich eine Trotzreaktion.

Ich habe keine Lust, mich zu beweisen, zu beweisen, dass ich jemand anders sein kann als die, die ich bin. Integration wird immer nur in die eine Richtung gefordert, warum nicht auch in die andere? Warum sollen sich nicht auch diejenigen, die in der Mehrheit sind, anpassen, verändern? Es ist komisch, wenn man aus den USA kommt, mit Integrationsanforderungen konfrontiert zu sein, man kommt ja doch auch aus der «westlichen Welt». Mir kommt diese Integrationsforderung so vor, als weigerten sich diejenigen, die sie stellen, ebenfalls etwas für das gemeinsame Zusammenleben zu tun.

Am einschneidendsten ist, dass ich hier eine andere Art Mutter bin: Ich muss dauernd alles alleine im Kopf haben, weil ich keine Community habe. Ich habe dieses starke Gefühl, dass ich wirklich Anwältin für mein Kind sein muss. Viel mehr als in den USA. Und die Schulen sind so unglaublich kolonisiert, es wird kein alternatives Wissen angeboten, die Kinder werden stumpf gemacht mit Grammatik und Disziplinierung und einer rein weissen Geschichte. Wie können wir die Diaspora stärken? Ich merke, dass ich älter werde. Das ist schwierig in einer mehrheitlich weissen Community, die nichts für dich vorsieht. Hier will niemand etwas von uns lernen, das Alter hat keinen Wert, die Älteren spielen keine Rolle, anders als in afrikanischen oder afroamerikanischen Gesellschaften.

In der Schweiz habe ich meine Rolle verloren. Ich hatte eine Rolle als junge Frau in den USA, als Künstlerin, als Mutter und als Aktivistin, aber wie soll meine Rolle hier aussehen als ältere, schwarze Frau? Wie soll ich etwas weitervermitteln, wenn niemand etwas wissen will? Diese Fragen und Kämpfe hatten schwarze Menschen in den USA auch, und sie sind natürlich längst nicht ausgefochten, aber wir haben gleichwohl die «Black History», es gibt eine «legacy», ein Vermächtnis, und es gibt Ältere, auf die man hört, auf die man sich beruft. Das müssen wir hier alles erst aufbauen. Es gibt ja auch keine «Black Liberation»-Buchläden, ich muss alles mühselig auftreiben, zum Beispiel Kinderbücher, in denen nicht nur weisse Menschen vorkommen, in denen auch schwarze Geschichte erzählt wird.

Ich merke auch, wie meine Tochter beginnt, sich von mir zu distanzieren. In ihren Augen bin ich die Verrückte, die so anders ist als die anderen Eltern, die laut lacht und gestikuliert und extravagant gekleidet ist. Ich bin die Komische in meinem eigenen Haus! Ich habe niemanden, der auch nur ansatzweise mein Denken und meine Lebensweise teilt und meiner Tochter vermitteln könnte, dass das normal ist. Dass radikale Intellektualität und die Lebensweise von Künstlerinnen und schwarzen Aktivistinnen normal und verbreitet sind.

Meine Tochter hat das Recht, sich abzugrenzen, das ist ja klar, aber in diesem Kontext ist die Abgrenzung eine andere Geschichte, weil es mit der vorherrschenden Norm zu tun hat, die weiss und kleinbürgerlich ist.

Ich überlebe, indem ich lerne. Und mein Wissen vertiefe. Das ist mein Mittel, um nicht durchzudrehen: die Mechanismen verstehen. Und die Schweiz immer wieder verlassen, in andere Künstlerinnenszenen eintauchen, die – wie ich – im Widerstand verankert sind. Hier ist die Aussenseiterinnenposition als Künstlerin auch ein Stück weit Programm. Dies aber gleichwohl gemeinsam zu erfahren und zu leben, das fehlt mir in der Schweiz. Es gibt in der Schweiz wenig Verständnis dafür, dass es in der Kunst auch um einen Kampf gegen das System geht.