Türkisches Tagebuch: Rituale des Hasses

Nr. 9 –

Ece Temelkuran über den Verlust der Sprache

22. Februar: Ilham Alijew, der Präsident von Aserbaidschan, hat kurzerhand seine Frau Mehriban Alijewa zur Vizepräsidentin ernannt. Die kritischen Medien in der Türkei warnen, dass derartige Vorgänge auch der Türkei bevorstehen könnten, falls das anstehende Referendum für das Präsidialsystem zugunsten Erdogans ausfallen sollte. Natürlich werden jetzt viele zynische Witze über die First Lady Emine Erdogan gemacht.

23. Februar: Ein neues Gesetz erlaubt es Frauen im Militär, Kopftuch zu tragen. Die Armee, scheinbar ein Bollwerk des Säkularismus, steht nun vor dem Übergang in die «neue Türkei» Recep Tayyip Erdogans. Die grösste türkische Zeitung, «Hürriyet», hat darüber unter dem Titel «Das Militär ist eingeschüchtert» berichtet. Obwohl die Zeitung bislang ihr Bestes getan hat, um nicht ins Visier des Präsidenten zu geraten, provoziert sie damit Verärgerung in Regierungskreisen. Niemand darf Kritik an der «neuen Türkei» auch nur andeuten.

Der bekannte Pianist Dengin Ceyhan ist wegen eines Tweets aus dem Jahr 2015 verhaftet worden. Er ist bekannt als der «Gezi-Pianist», da er während der landesweiten Proteste im Jahr 2013 auf dem Taksimplatz Klavier spielte. Fotos von ihm in Handschellen werden genauso verbreitet wie Bilder von inhaftierten IS-Kämpfern, die darauf sehr entspannt wirken und keine Handschellen tragen müssen.

24. Februar: Der Energieminister Berat Albayrak, Erdogans Schwiegersohn, ruft den Präsidenten Aserbaidschans an, um ihm zur Beförderung seiner Frau zu gratulieren. Derweil hat Figen Yüksekdag, die verhaftete Kovorsitzende der kurdischen Partei HDP, ihren Status als Parlamentarierin verloren. Die neue türkische Demokratie, die bereits schwer verwundet ist, dürfte nach dem Referendum Aserbaidschan noch ähnlicher werden.

25. Februar: Präsident Erdogan hält Kundgebungen ab, um das Präsidialsystem zu bewerben. Seine populärste Forderung ist die nach der Einführung der Todesstrafe. Immer wenn er sagt: «Wenn das Volk die Todesstrafe will, dann ist das das Ende der Debatte!», jubelt die Menge. Es ist eine Qual, dieses Ritual des Hasses zu beobachten.

Ich habe für die BBC einen Essay darüber geschrieben, wie es sich anfühlt, wenn die eigene Sprache schwer beschädigt wird durch den Missbrauch politischer Macht. Darin frage ich: «Wohin kann eine gehen, wenn ihre Sprache von einer barbarischen Macht erobert wird?» Ich habe keine Antwort darauf gefunden.

26. Februar: Ich bin in Stuttgart bei einer Ausstellung zu Gast. Im vergangenen Jahr habe ich den Begleittext für die Schau zeitgenössischer Kunst verfasst, aber dieser fiel in Istanbul der Zensur zum Opfer. Es ist seltsam, die zensierte Ausstellung nun hier zu eröffnen. In der Türkei unterdrücken sie politische Äusserungen und machen diese damit umso bedeutsamer, während deine Worte in Europa, wo du alles sagen darfst, ihre Macht verlieren. Der palästinensische Künstler Yazan Khalili erwähnte einen Schriftsteller aus seinem Land, der der Regierung dafür dankte, dass sie seine Worte einer Zensur für «würdig» erachtete.

27. Februar: Heute sind es 120 Tage, dass elf Redaktoren, Reporterinnen und Anwälte der Zeitung «Cumhuriyet» in einem Hochsicherheitsgefängnis sitzen, ohne dass Anklage in auch nur einem Punkt erhoben worden wäre.

28. Februar: Ein türkisches Gericht urteilte, dass es keine Beleidigung ist, Erdogan einen «Diktator» zu nennen, sondern eine legitime Äusserung von Kritik, die sich im Rahmen des Rechts bewegt. Ich habe mir dabei zwei Dinge gedacht. Erstens: Der Richter wird sich schon bald in eine abgelegene Stadt absetzen müssen. Zweitens: Würde es Erdogan überhaupt noch stören, wenn ihn jemand als «Diktator» bezeichnete? Er hat inzwischen den öffentlichen Diskurs so sehr manipuliert, dass das Wort in den Ohren seiner AnhängerInnen einen positiven Klang haben könnte. Wohin sollst du gehen, wenn die Begriffe von Gut und Böse in deiner Muttersprache die Plätze getauscht haben?

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt in Istanbul. An dieser Stelle führt sie bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Daniel Hackbarth.