Der Hoffnungsträger: Ein linker Jesaja für die Niederlande

Nr. 12 –

Jesse Klaver ist das Gesicht der Partei GroenLinks, die bei der Wahl vergangene Woche einen grossen Erfolg feierte. Auch jenseits der etablierten Politik will der Dreissigjährige für Bewegung sorgen.

Kurz vor den niederländischen Parlamentswahlen sagte Jesse Klaver einen bemerkenswerten Satz: «Ich habe nicht mal vor dem Teufel Angst.» Um seine Worte zu untermauern, beschrieb der GroenLinks-Spitzenkandidat im Interview mit der Tageszeitung «Algemeen Dagblad» sich selbst wie folgt: «Ich stehe für grosse Veränderungen. Die Lobbys der Tabakproduzenten, der Pharmazeuten und der Autoindustrie kümmern mich nicht. Ich lasse mich von meinen Idealen leiten.»

Die Niederlande scheinen reif für einen wie Jesse Klaver. Auch das ist ein Ergebnis der Parlamentswahlen vergangene Woche – neben der Bestätigung der Rechtsliberalen als stärkste Partei und dem Sprung der fremdenfeindlichen PVV auf den zweiten Platz, knapp vor den ebenfalls zur patriotischen Rhetorik neigenden Christdemokraten und den liberalen Democraten 66. Die grösste Wahlgewinnerin ist GroenLinks, die von vier auf vierzehn Parlamentssitze sprang und damit das beste Ergebnis ihrer Geschichte erzielte.

Jesse Klaver, gerade dreissig, hat auch keine Angst vor grossen Zielen. Seine Ambitionen sind Teil eines klaren Plans, den er als Senkrechtstarter beharrlich verfolgt. Mit 24 Jahren wurde er ins Parlament gewählt, mit 29 übernahm er den Fraktionsvorsitz von GroenLinks. Dass er in diesem Frühjahr unverhohlen sagte, er wolle Premier werden, überraschte vielleicht noch zu Beginn des Wahlkampfs. In dessen Verlauf beschrieb er dann das «Türmchen», den Amtssitz des Regierungschefs, so: «Nicht der Endpunkt einer politischen Laufbahn, sondern der Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderung.»

Ein scharfes Profil

Genau dieses Selbstverständnis strahlt nun auch seine Partei aus. In den gut zweieinhalb Jahrzehnten ihrer Existenz war GroenLinks meist eine kleine Oppositionspartei, die ab und an über sich hinausgewachsen ist – wie das so ist, wenn man aus einer gemeinsamen Liste vier kleiner Linksparteien entstand: der niederländischen Kommunistischen Partei (CPN), der Pacifistisch-Socialistische Partij (PSP), der progressiv-christlichen Evangelische Volkspartij (EVP) und der ursprünglich links-katholischen Politieke Partij Radikalen (PPR).

Inhaltlich geht der jüngste Erfolg von GroenLinks auf zwei Faktoren zurück: Zunächst hat man das inhaltliche Profil gegenüber dem früheren linksliberalen Kurs deutlich geschärft. Im Wahlprogramm standen Chancengleichheit für alle Kinder und die Bekämpfung der Kluft zwischen Arm und Reich an vorderster Stelle. Man will Schluss machen mit den Steuergeschenken an internationale Unternehmen und die Marktelemente im Gesundheits- und Pflegebereich deutlich einschränken. Ausserdem sollen Kohlekraftwerke geschlossen und ein ambitioniertes Umweltgesetz verabschiedet werden, das jährlich neue Klimaziele definiert.

Zugleich peilt man damit eine Verbreiterung der WählerInnenschaft an – ein Bruch mit dem alten Selbstverständnis, dass linke Inhalte zwar auf grundlegende Bedürfnisse aller Menschen zurückgeführt werden können, es zugleich aber als realpolitische Gegebenheit zu akzeptieren ist, dass die eigenen Forderungen nun einmal nicht mehrheitsfähig sind und folglich vorbestimmt für eine Nischenexistenz. Heute verkündet GroenLinks ihre Agenda mit ausgebreiteten Armen. «Eine Gesellschaft» lautete ein zentraler Slogan des Wahlprogramms: ein Bekenntnis zu Inklusion und Zusammenhalt sowie eine scharfe Abgrenzung zu den Fliehkräften, die in der latenten Identitätsdebatte oft das Klima in den Niederlanden dominieren.

Occupy, Sanders, Piketty

Gerade Jesse Klaver hat in den vergangenen Wochen keinen Hehl daraus gemacht, dass er an einer Bewegung arbeitet, die über die Parteibasis hinausreichen soll. Wer sich in den vergangenen Wochen mit GroenLinks-Mitgliedern unterhielt, hörte unweigerlich Verweise auf die Occupy-Bewegung, den linken US-Senator Bernie Sanders und den Ökonomen Thomas Piketty, den Klaver 2015 in die Tweede Kamer des Parlaments eingeladen hatte, um mit den Abgeordneten zu diskutieren.

Der Fraktionsvorsitzende selbst veröffentlichte damals ein Buch mit dem Titel «Der Mythos des Ökonomismus». Darin kritisiert er, dass «alle möglichen Themen einer finanziell-ökonomischen Sichtweise unterworfen werden». Die Konsequenz: «Mehr Markt, weniger Staat, mehr Wachstum.» In einem Interview plädierte er einmal dafür, dass anstelle des Bruttoinlandsprodukts andere Indikatoren für gesellschaftlichen Reichtum treten sollten: CO2-Ausstoss, Luftqualität, Kinderarmut, Ungleichheit, die Chancen für Kinder, einen höheren Bildungsgrad zu erreichen.

Politik und Ekstase

Die Kampagne von GroenLinks basierte auf dem Einsatz mehrerer Tausend Freiwilliger und ihrem Enthusiasmus für «Veränderung». Jedes Wochenende zogen Grüppchen in knallgrünen Regenjacken los, um in insgesamt fünfzig Städten ihre Flugblätter an den Haustüren abzugeben. Ihre Motivation holten sie sich bei «meetups» genannten Zusammenkünften in Konzerthallen, die US-amerikanischen «conventions» ähnelten. Klaver versprühte dort im weissen Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln so viel Optimismus, dass ihn auch manche linke NiederländerInnen ironisch «Jesaja» nannten.

Eine etwas evangelikal anmutende Atmosphäre kann man diesen Events tatsächlich nicht absprechen. Zugleich aber sind begeisterte Säle im Wahlkampf ja durchaus erwünschte Bilder. Und dann gab es in diesem Frühjahr immer wieder Momente, in denen Klaver unterstrich, dass er nun wirklich den Teufel nicht fürchtet.

Anfang März etwa bei der Debatte der Spitzenkandidaten im Amsterdamer Carré-Theater. Der christdemokratische Kandidat Sybrand Buma, nach Kräften in Wilders’ WählerInnenschaft fischend, hatte ihn mit folgendem Statement herausgefordert: «Die Niederlande haben ihre eigene Kultur unzureichend beschützt.» Klaver sollte antworten, indem er einen Ja- oder einen Nein-Knopf drückte.

Das Publikum wunderte sich wohl, als sein Ja aufleuchtete. Doch dann erzählte Klaver von den vielen Beleidigungen in den sozialen Netzwerken, von Menschen, die ihn, den Sohn eines marokkanischen Vaters, «nicht wählen, weil du Marokkaner bist». Die ihn aufforderten, er solle sich «in sein Herkunftsland verpissen», oder mutmassten, Jesse sei nicht sein wirklicher Name. «Und so geht es vielen in diesem Land. Darum sage ich, unsere Kultur ist nicht genug geschützt: In diesem Land sollte man nicht nach seiner Herkunft beurteilt werden, sondern nach seiner Zukunft!» Das Publikum überzeugte diese Argumentation – und Klaver gewann die Debatte.

Was Klaver auszeichnet, ist diese Mischung: Einerseits gewinnt er Sympathien durch sein charmantes Auftreten; doch andererseits blitzt es dann plötzlich in seinen Augen, und man glaubt förmlich zu sehen, wie er seine rhetorischen Messer wetzt. Am Wahltag stand er mittags auf dem sonnenüberströmten Platz vor dem Parlament in Den Haag. Schulkinder standen um ihn herum und johlten, längst hatte sich ein Hype um den charismatischen Kandidaten entwickelt – und was sagt er in ein Mikrofon? «Wir dürfen die Populisten nicht imitieren. Wir müssen aufrecht unsere eigenen Werte vertreten.»

Regierung oder Opposition?

Eins der grössten Komplimente, die Klaver in letzter Zeit bekam, stammt von einem, den er vom desillusionierten Beobachter zum Weggefährten gemacht hat: Zihni Özdil, bis dato Kolumnist des «NRC Handelsblad», hatte seine früheren GroenLinks-Sympathien in der Enttäuschung über den immer liberaleren Kurs eigentlich längst begraben. Bis er Klaver im Fernsehen sah: «Endlich war da jemand, der nicht mehr mitlaufen wollte mit diesem Diskurs der Rechten. Jemand, der sagte: ‹Es geht nicht um Identität und Moscheen, sondern um ökonomische Ungleichheit.› Das war der Moment, als mein Zynismus zu schwinden begann.» Und jetzt ist Özdil auf Listenplatz acht für GroenLinks ins Parlament eingezogen.

In welcher Rolle die Partei dort auftreten wird, in der Opposition oder doch als Teil einer Regierungskoalition, steht zurzeit noch in den Sternen. In der Wahlnacht, als im Amsterdamer Konzerthaus Melkweg die Euphorie mit den Händen zu greifen war, gab es dazu verschiedene Ansichten. «Einige aus der Fraktion wollen gerne regieren», sagte ein lokales GroenLinks-Mitglied des Stadtparlaments. «Ich denke aber, dass es besser ist, noch vier Jahre in der Opposition zu wachsen und dann voll anzugreifen.»