Abtreibung in El Salvador: «Das ist nicht nur frauenfeindlich, das ist auch Klassenjustiz»

Nr. 14 –

Selbst aufgrund von Fehlgeburten werden Frauen in El Salvador wegen Mord verurteilt. Eine Filmemacherin hat dagegen ein sehr persönliches Zeichen gesetzt.

Marcela Zamora, Dokumentarfilmerin.

In Mitteleuropa wäre das eine Geschichte, die man der besten Freundin erzählt. Kein Geständnis und schon gar kein Bekenntnis, sondern einfach eine Geschichte, die man irgendwann einmal erzählen muss. Marcela Zamora hat sie öffentlich erzählt, in «El faro», Lateinamerikas ältester und viel beachteter Internetzeitung, die in El Salvador erscheint. Der Titel ihres Textes: «Ich habe abgetrieben».

In El Salvador ist das nicht nur ein Geständnis, es ist ein Fanal. Das Land gehört – neben dem Vatikan, Nicaragua oder der Dominikanischen Republik – zu den ganz wenigen Staaten, in denen ein Schwangerschaftsabbruch unter wirklich allen Umständen verboten ist. Selbst zwölfjährige Mädchen, die nach einer Vergewaltigung schwanger werden, müssen die Leibesfrucht austragen. Krebskranken Schwangeren wird eine Chemotherapie verweigert, weil diese den Fötus schädigen könnte. Es gibt selbst Fälle, in denen Frauen nach Fehlgeburten verurteilt wurden. Und das nicht nur zu acht Jahren Haft, der Höchststrafe für eine Abtreibung, zu der in den letzten zwanzig Jahren geschätzte 300 Frauen verurteilt wurden – 17 Frauen wurden in dieser Zeit zu dreissig bis vierzig Jahren verurteilt, weil das Absterben des Fötus vor Gericht als Mord bewertet wurde.

Dabei ist noch nicht einmal klar, was eine Abtreibung im juristischen Sinn eigentlich ist. Im Strafrecht ist weder die Grenze zwischen Schwangerschaftsabbruch und eingeleiteter Geburt definiert noch der Unterschied zwischen einer Abtreibung (spanisch: aborto provocado) und einer Fehlgeburt (aborto espontáneo). Der entsprechende Artikel 133a spricht einfach nur von «aborto».

«Ich war mir nicht im Klaren, ob das, was ich vor über zehn Jahren in einem anderen Land erlebte, mich hier ins Gefängnis bringen würde», schreibt Marcela Zamora. «Ich habe nachgeforscht. Ich kann es erzählen.» Wo der Eingriff vorgenommen wurde, sagt sie nicht. In El Salvador sind nationale Gefühle oft mit der Abwertung anderer lateinamerikanischer Länder verbunden. Dieses so einfache wie substanzlose Argument wolle sie ihren Gegnern nicht freiwillig liefern.

«Für mein Leben entschieden»

Ihr Text erzählt in ganz schlichten und eben deshalb ergreifenden Worten ihre Geschichte: dass sie sich unwohl gefühlt habe, zum Arzt gegangen sei, und der habe, obwohl sie damals die Pille nahm und regelmässig ihre Periode hatte, eine Schwangerschaft festgestellt. Bei einer Ultraschalluntersuchung stellte sich heraus: Der Fötus hatte ein grosses Blutgerinnsel am Kopf. Der Arzt riet zu einer sofortigen Abtreibung. Sollte der Fötus sich lösen und absterben, sei ihr Leben in Gefahr.

Sie fragte nach anderen Möglichkeiten. Ein Monat Bettruhe und dann eine weitere Untersuchung, meinte der Arzt. Nach einer Woche fühlte sie sich noch elender, ging wieder zum Arzt, und der stellte weitere Blutgerinnsel am Fötus fest. Am selben Nachmittag wurde der Eingriff vorgenommen. Kostenlos, von einem spezialisierten Arzt, in einem öffentlichen Krankenhaus. «Ich habe nicht geweint. Ich fühlte mich nicht wie ein schlechter Mensch», schreibt Zamora. «Ich habe nur entschieden, dass ich mein Leben und auch die Gelegenheit, irgendwann einmal Mutter zu sein, nicht verlieren wollte.» Sie hat heute eine vierjährige Tochter.

Zamora ist in El Salvador nicht irgendwer. Sie ist die bekannteste Dokumentarfilmerin des Landes, hat internationale Preise gewonnen. Die Lateinamerikaausgabe der Zeitschrift «Forbes» zählt sie in ihrem jüngsten Ranking zu den einflussreichsten Frauen Zentralamerikas. Die 36-Jährige hat ihre für zentralamerikanische Verhältnisse hellen Haare mit blondierten Strähnchen noch heller gemacht. Ihre Haut ist weiss, man sieht ihr europäische Vorfahren an. So etwas schätzt man in der lokalen Elite. Man sieht dann gerne darüber hinweg, dass diese weisse Haut voller Tattoos ist. Sie ist eben ein bisschen verrückt, Kinoleute sind so. Was zählt, sind Erfolg und ein guter Name. Sie ist die Tochter von Rubén Zamora, im Bürgerkrieg (1980–1992) einer der führenden Köpfe der zivilen Opposition. Gemeinsam mit ihrem Vater überlebte sie damals das Bombenattentat einer rechten Todesschwadron. Nach dem Krieg war Zamora der erste Präsidentschaftskandidat der Linken, heute ist er Botschafter El Salvadors bei den Vereinten Nationen. Marcela gehört zu den besseren Kreisen.

«Mangelnder Mutterinstinkt»

«Klar spielt es eine Rolle, wer diesen Text geschrieben hat», sagt sie. Abtreibung werde als Problem armer und ungebildeter Frauen dargestellt. Für die Töchter der Mittel- und Oberschicht gab es schon immer Möglichkeiten, für ein paar Hundert Dollar im Land abtreiben zu lassen, für Summen im vierstelligen Bereich auch ganz legal im Ausland. «Die Gesetzgebung ist nicht nur frauenfeindlich, es handelt sich auch um Klassenjustiz.»

Tatsächlich kommen die siebzehn Frauen, die wegen «Mord» an einem Fötus zu Haft zwischen dreissig und vierzig Jahren verurteilt wurden, allesamt aus Armenvierteln. Sie arbeiteten als Hausangestellte oder in einer der vielen Schwitzbuden der Textilindustrie, keine ging länger als drei Jahre zur Schule. Bei keiner ist klar, ob sie tatsächlich abtrieb. Bei etlichen ist offensichtlich: Es handelte sich um eine Fehlgeburt. Drei von ihnen konnten in langen juristischen Schlachten von Anwälten der Agrupación Ciudadana, die sich seit Jahren um die Opfer der Abtreibungsgesetzgebung kümmert, wieder befreit werden.

María Teresa (der Nachname wird zum Schutz ihrer Familie verschwiegen, sie selbst hat in Schweden politisches Asyl erhalten) ist eine von ihnen. Sie arbeitete in einer Textilfabrik in San Salvador und brach dort am 24. November 2011 auf der Toilette zusammen. Sie wurde mit schweren Blutungen ins Krankenhaus gebracht. Die behandelnde Ärztin zeigte sie wegen des Verdachts auf eine Abtreibung an. Ein Richter urteilte ohne jeglichen Beweis: Der Fötus sei «durch schlechte Behandlung und Aggression durch die Mutter» abgestorben. Vierzig Jahre Haft wegen Mord. Im Mai vergangenen Jahres urteilte ein Berufungsgericht: «Es gibt keine schlüssigen Beweise, dass sie ihren Sohn umgebracht hat.» María Teresa kam frei.

In San Francisco Gotera im Osten des Landes traten bei einer dort üblichen Hausgeburt Komplikationen auf. Die 22-jährige Gebärende wurde ins Krankenhaus gebracht, das Kind starb bei der Geburt. Das Gericht stellte «mangelnden Mutterinstinkt» fest, die Frau «hätte ihren Fötus beschützen müssen». Mord, dreissig Jahre Haft.

Manuela (auch ihr Nachname wird zum Schutz der Angehörigen verschwiegen) litt an Lymphkrebs, und wahrscheinlich hing ihre Fehlgeburt damit zusammen. Sie wurde trotzdem vom Personal des behandelnden Krankenhauses wegen Abtreibung angezeigt und starb ein paar Wochen später, mit Handschellen ans Krankenbett gefesselt. Eine Chemotherapie hatte man ihr verweigert.

Der Bischof und seine Kinder

Vor der jetzigen mittelalterlichen Gesetzgebung und ihrer Auslegung galt in El Salvador eine Indikationslösung: Frauen war nach einer Vergewaltigung bei Gefahr für ihre Gesundheit, bei schwerer Missbildung des Fötus und bei Schwangerschaften aufgrund von Zwangsprostitution ein Abbruch erlaubt. 1997 aber forderte der damalige Erzbischof von San Salvador, Fernando Sáenz Lacalle, ein Mann des elitistisch-reaktionären Opus Dei, eine Verschärfung. Er schickte so lange die Kinder der vielen katholischen Privatschulen zu Demonstrationen auf die Strasse, bis das Parlament einknickte und den «Schutz des Lebens vom Augenblick der Empfängnis an» in die Verfassung schrieb. Kurz darauf wurde das Strafrecht angepasst. Sogar ein paar Abgeordnete der ehemaligen Guerilla FMLN stimmten dafür. Es standen Wahlen an, und man glaubte, damit die Stimmen von stockkonservativen Gläubigen gewinnen zu können.

2010 monierte der Uno-Menschenrechtsrat die Gesetzgebung und ihre Auslegung in einer Resolution. Das Strafrecht müsse internationalen Abkommen über politische und zivile Rechte angeglichen werden, die von El Salvador ratifiziert worden sind. Die Regierung, seit 2009 von der FMLN gestellt, sass diese Resolution lange aus – wohl aus Angst vor katholischen Demonstrationen. Im Sommer 2016 brachte dann der Abgeordnete Ricardo Velásquez Parker von der ultrarechten Arena-Partei einen Gesetzesvorschlag ein, nach dem das Strafmass für Abtreibungen dem von Morden angeglichen werden soll. Die FMLN-Abgeordnete Lorena Peña konterte mit einem Gegenvorschlag, der zurück will zur alten Indikationslösung. Beide Gesetzesinitiativen liegen derzeit bei einer Parlamentskommission, die darüber entscheiden muss, ob sie im Plenum verhandelt werden.

«Ich bin eigentlich gar keine Feministin», sagt Marcela Zamora. «Ich habe immer Distanz gehalten zur Frauenbewegung.» Die entsprechenden Organisationen würden am Tropf europäischer Geldgeber hängen und sich von diesen beeinflussen lassen. Ihre Vorstellungen seien eher europäisch denn zentralamerikanisch: «Ich kann von Frauen, die misshandelt werden, nicht verlangen, dass sie ihre Männer anzeigen», sagt sie. «El Salvador ist ein gewalttätiges Land. Damit schickt man die Frauen direkt in den Tod.» In ihren Filmen beschäftigt sie sich mit sozialen Themen und Menschenrechten, mit dem Schicksal von Migrantinnen, mit dem von Folteropfern während der Militärdiktatur. Sie nähert sich ihren Sujets eher mitfühlend als analytisch an, und es war Mitgefühl mit den Frauen im Gefängnis, das sie zum Schreiben ihres Textes veranlasste.

«Drei Monate lang lag er auf meinem Schreibtisch», sagt sie. «Ich habe ihn immer wieder zusammen mit befreundeten Journalisten überarbeitet, habe den Titel dreimal geändert.» Dann habe sie ihr Partner überzeugt: Wenn sie sich oute, dann richtig: «Ich habe abgetrieben».

Über tausend Hassmails

An dem Tag, an dem der Text erschien – es war der 31. Januar –, verliess sie das Haus nicht und schickte ihre Tochter nicht in den Kindergarten. «Ich dachte, man würde mich in Stücke reissen.» Ihre Konten auf den sozialen Netzwerken und ihr Mailpostfach liefen über. Sie bekam weit über tausend Hassmails. «Hunderte wünschten, ich wäre besser abgetrieben worden, und alle argumentierten mit Gott.» Aber auf je zwei Hassmails kam eine nachdenkliche Zuschrift, sogar von evangelikalen Pastoren. «Ich verbrachte über eine Woche damit, diese Botschaften zu beantworten.»

«Das Thema Abtreibung wurde vorher nur sehr abstrakt behandelt oder als Problem, das es nur in den Armenvierteln gibt», sagt Sara García von der Agrupación Ciudadana. «Marcela gab ihm ein Gesicht, und das ist eine ganz neue Qualität.» Das Thema ist seither in der Öffentlichkeit präsent.

«Ich habe eine Debatte angestossen», sagt Zamora. An einen schnellen Erfolg glaubt sie nicht. So war das auch 1971, als im französischen «Nouvel Observateur» und im deutschen «Stern» Hunderte von Frauen in grossen Titelgeschichten bekannten: «Wir haben abgetrieben.» Bis zu einer wirklichen Liberalisierung des Abtreibungsrechts dauerte es dann noch Jahre. Aber ein Anfang war gemacht.

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Der Abbruch einer Schwangerschaft ist in El Salvador unter allen Umständen verboten. Gerichte im zentralamerikanischen Land legen dieses Verbot bisweilen so drastisch aus, dass sie Frauen, die eine Fehlgeburt erleiden, wegen Mord für Jahrzehnte ins Gefängnis schicken. Gegen diese absurde Praxis immerhin gibt es inzwischen selbst unter RichterInnen Widerspruch: Ende vergangener Woche hob der Oberste Gerichtshof ein entsprechendes Urteil auf. Die 36-jährige Teodora del Carmen Vásquez kam nach elf Jahren Haft frei.

Vásquez, Mutter eines damals zweijährigen Sohnes, hatte in der Kantine einer Schule als Köchin gearbeitet. Im achten Monat ihrer zweiten Schwangerschaft bekam sie bei der Arbeit Blutungen und erlitt kurz darauf eine Totgeburt. Ein Gericht verurteilte sie deshalb im Dezember 2007 zu dreissig Jahren Haft wegen Mord. Frauenrechtsorganisationen setzten sich für eine Aufhebung des Urteils ein, ein Berufungsgericht aber hat es Ende vergangenen Jahres bestätigt. Nun stellte der Oberste Gerichtshof fest, es gebe keine Beweise dafür, dass Vásquez die Schwangerschaft gezielt beendet habe. Mindestens fünfzehn weitere Frauen sitzen wegen ähnlicher Urteile in Haft.

Abtreibung ist in El Salvador selbst dann verboten, wenn der Fötus nach der Geburt keine Überlebenschance hat; genauso bei Schwangerschaften nach einer Vergewaltigung oder bei akuter Gefahr für das Leben der Mutter. Das absolute Verbot wurde erst 1997 auf Druck des damaligen Erzbischofs von San Salvador in der Verfassung verankert. Ähnlich harsche Gesetze gibt es in Lateinamerika in Nicaragua, Honduras, Haiti, der Dominikanischen Republik und Surinam. In Chile wurde im vergangenen Jahr das von Diktator Augusto Pinochet verordnete absolute Abtreibungsverbot in eine Indikationsregelung umgewandelt: Schwangerschaftsabbrüche sind nun nach Vergewaltigungen, bei Gefahr für die Mutter und bei schwerer Missbildung des Fötus erlaubt.

Frauenorganisationen in El Salvador bemühen sich um eine ähnliche Regelung. Zwei Gesetzesvorlagen liegen seit Monaten im dafür zuständigen Parlamentsausschuss – und werden vorerst dort bleiben. Keine Partei wird das Thema vor der Parlamentswahl im März und der Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2019 behandeln wollen. Alle fürchten um das Stimmenpotenzial der evangelikalen Kirchen und reaktionärer katholischer Kreise.

Toni Keppeler

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