Türkisches Tagebuch: Weggesperrt und vergessen

Nr. 14 –

Ece Temelkuran über Erdogans Realitätskonstruktion

29. März: Präsident Recep Tayyip Erdogan besucht während seiner aggressiven Kampagne für das Präsidialsystem ein Lokal der Opposition. Die GegnerInnen der Verfassungsreform sind schockiert über sein Erscheinen. Das peinliche Gespräch, das dann folgt, wird von den staatsnahen Medien zum Teil zensiert. Erdogan fragt seine GegnerInnen: «Weshalb wollt ihr Nein stimmen?» Einer antwortet: «Wir wollen ein modernes Land bleiben.» Erdogan erwidert wenig präsidial: «Was fehlt euch denn! Wir sind doch modern!» Dann fährt er fort: «Der Chef der Sozialdemokratischen Partei lügt!» Dies, weil Letzterer über die umstrittene Verfassung sagte, sie würde den Präsidenten dazu ermächtigen, das Parlament aufzulösen.

Viele interpretieren den Überraschungsbesuch als gezielte Provokation zur Entfachung neuer Feindseligkeiten. Einige meinen gar, Erdogan exponiere die AktivistInnen bewusst, um sie zum Ziel seiner eigenen AnhängerInnen zu machen.

Heute vor 150 Tagen wurden die JournalistInnen der Zeitung «Cumhurriyet» inhaftiert. Eine Anklage wurde noch immer keine erhoben. All die Journalisten und Beamtinnen, die nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 verhaftet wurden, hat man allem Anschein nach in ihren Zellen vergessen.

30. März: Als US-Präsident Donald Trump Mitte März den Staatsanwalt Preet Bharara feuerte, war dies eine erfreuliche Nachricht für die türkische Regierung, die sich noch immer um den von Bharara betreuten Fall Reza Zarrab sorgt. Zarrab war im März 2016 verhaftet worden. Ihm wird vorgeworfen, einen Schieberring zur Umgehung der Sanktionen gegen den Iran betrieben zu haben. Darin sollen auch türkische Minister involviert gewesen sein, die Erdogan in seinem damaligen Amt als Premierminister unterstanden. Nun wird ein Vorstandsmitglied der mutmasslich ebenfalls in den Fall involvierten türkischen Halkbank in den USA strafrechtlich verfolgt. In jedem normalen Land müssten solche Ereignisse eine riesige öffentliche Debatte auslösen. Nicht jedoch in der Türkei; zum einen gibt es keine Massenmedien, die kritisch darüber berichten würden, und zum anderen sind alle vom Verfassungsreferendum abgelenkt.

31. März: Die inhaftierten kurdischen Parlamentarier, unter ihnen der Kopräsident der HDP, Selahattin Demirtas, sind in den Hungerstreik getreten, um gegen die Menschenrechtsverletzungen in den Gefängnissen zu protestieren. Ich weiss wirklich nicht, was ich dazu sagen soll. Kaum zwei Jahre ist es her, dass Demirtas zum Hoffnungsträger einer jungen, energischen Opposition wurde. Nun ist er hinter Gittern, wo ihn wohl selbst seine AnhängerInnen bald vergessen werden. Noch ist er guten Mutes. Er schreibt neuerdings Kurzgeschichten, die natürlich von internationalen Medien und nicht in der Türkei publiziert werden.

1. April: Zwei meiner FreundInnen sagten heute unabhängig voneinander dasselbe zu mir: «Niemand machte heute einen Aprilscherz!» Alle sind deprimiert. Laut einem Bericht von «Cumhurriyet» wurde die Anklageschrift zum Putschversuch vor der Veröffentlichung dem Justizminister vorgelegt. Passagen, die politische Verbindungen thematisierten, seien gestrichen worden. Gemeint sind die Verbindungen der GülenistInnen zur AKP. Darüber hinaus behandelt die Anklageschrift die Geziparkproteste vom Sommer 2013 als ersten Putschversuch. Dies führt dazu, dass allen, die die Proteste damals unterstützten – und das sind Tausende – ein Gerichtsverfahren droht.

2. April: Es bleiben noch vierzehn Tage bis zum Verfassungsreferendum, und noch immer sind zentrale, die Reform betreffende Fragen ungeklärt. Alle, die auch nur zu fragen wagen, ob denn die neue Verfassung dem Präsidenten die Befugnis einräumt, das Parlament aufzulösen oder nicht, werden von der Regierung und den regierungsnahen Medien als TerroristInnen verunglimpft.

3. April: Ich bin anlässlich der Veröffentlichung meines Buches «Stumme Schwäne» in Zürich. WOZ-Leute besuchten meine Lesung. Es ist das erste Mal, dass ich die Zeitung sehe, für die ich seit Monaten schreibe, und sie anfassen kann. Es ist lange her, dass mich eine Zeitung «unsere Kolumnistin» nannte. Der Gedanke entlockt mir ein bitteres Lächeln – ausgerechnet in Zürich! Ich bin dankbar.

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt derzeit in Zagreb. Gerade ist ihr Roman «Stumme Schwäne» bei Hoffmann und Campe erschienen. An dieser Stelle führt Temelkuran bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Roman Enzler.