Frankreich: Die Wut hat eine reale Basis

Nr. 15 –

In kaum einem Land Europas ist das Misstrauen gegenüber der etablierten Politik so gross wie in Frankreich. Warum ist das so? Und wohin führt das noch?

Alice Cotte, Camille Laplanche und Adhal Bara haben den herrschenden Verhältnissen den Krieg erklärt. Wie zornige RevolutionärInnen wirken sie trotzdem nicht – eher wie typische VertreterInnen der urbanen und gebildeten Mittelschicht. Die drei sitzen in einem Pariser Café in der Nähe des Louvre, wo sie sich viel Zeit nehmen, um von À nous la Démocratie! (Her mit der Demokratie!) zu erzählen, einer Organisation, die sie vergangenen November mitgegründet haben. Deren Mission: die Umwälzung eines politischen Systems, das in der Wahrnehmung vieler FranzösInnen von korrumpierten PolitikerInnen in Beschlag genommen worden ist.

Schub durch Fillons Skandale

«Es geht darum, dem Gemeinwohl wieder Geltung zu verschaffen», sagt Alice Cotte und wirkt dann doch ein wenig wütend. Die Anliegen der meisten BürgerInnen fänden innerhalb der bestehenden Strukturen kaum noch Gehör, sagt Cotte, weil eine Kaste von BerufspolitikerInnen sich in diesen breitgemacht habe, die vor allem an ihrer persönlichen Bereicherung interessiert seien. À nous la Démocratie! streitet daher für die Umsetzung von sechs institutionellen Reformen. So soll etwa der Senat durch eine BürgerInnenversammlung ersetzt werden, die per Losverfahren besetzt würde. Die FranzösInnen sollen sich so die demokratischen Prozesse wieder aneignen. «Wir glauben fest daran: Wenn man den Leuten die Möglichkeit gibt, selbst zu entscheiden, werden sie das auch tun und die entsprechenden Fähigkeiten entwickeln», sagt Cottes Mitstreiterin Camille Laplanche.

Noch zählt die Organisation nur rund 150 AktivistInnen. Sie wächst aber kontinuierlich, was nicht zuletzt daran liegt, dass sie Missstände anprangert, die durch den französischen Präsidentschaftswahlkampf in den vergangenen Monaten in aller Munde sind. Verantwortlich dafür war nicht nur, aber vor allem der konservative Kandidat François Fillon, der mit einer bemerkenswerten Serie von Affären für Aufsehen gesorgt hat.

Rückblick: Ende Januar hatte die Wochenzeitung «Le Canard enchaîné» Vorwürfe veröffentlicht, denen zufolge Fillon jahrelang seine Ehefrau mit öffentlichen Mitteln als Assistentin bezahlt haben soll, ohne dass diese tatsächlich gearbeitet habe. Wenig später kam ans Licht, dass er auch zwei seiner Kinder unter ähnlich zweifelhaften Voraussetzungen beschäftigt hatte. Es folgten immer weitere Enthüllungen – kürzlich etwa wegen einiger teurer Anzüge, die sich Fillon hatte schenken lassen –, sodass man sich an Tagen, an denen der Politiker nicht in den Schlagzeilen war, fast schon Sorgen machte, ihm könnte etwas zugestossen sein.

Dennoch dürften die meisten FranzösInnen diese Skandale kaum überrascht haben, genauso wenig wie der Umstand, dass François Fillon keine Anstalten macht, von seiner Kandidatur zurückzutreten. Das Misstrauen gegen die «classe politique», in die Berufspolitiker, ist inzwischen nicht nur bei AktivistInnen wie denen von À nous la Démocratie!, sondern im ganzen Land beispiellos gross. Bei einer Studie im vergangenen Jahr gaben über neunzig Prozent der Befragten an, den Parteien «eher nicht» oder «überhaupt nicht» zu vertrauen – Zahlen, die den Schluss aufdrängen, dass das politische System in Frankreich in einem desolaten Zustand ist. Abzulesen ist dies auch daran, dass die in den Umfragen führenden PräsidentschaftskandidatInnen – die Rechtspopulistin Marine Le Pen, der Sozialliberale Emmanuel Macron und der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon – allesamt ihre Kampagnen auf der Ansage aufbauen, das herrschende «System» zu bekämpfen.

Die etablierten Kräfte dagegen liegen am Boden. Weder der Konservative Fillon noch der Sozialist Benoît Hamon haben realistische Chancen, die Stichwahl Anfang Mai zu erreichen; der traditionsreiche Parti Socialiste droht wegen interner Flügelkämpfe sogar in der Versenkung zu verschwinden.

Populismus und Deregulierung

Woher rührt dieses Unbehagen gegenüber Organisationen, die zuvor jahrzehntelang das politische Geschehen in Frankreich bestimmt haben?

Ein möglicher Ansatz wäre es, die Schuld bei PopulistInnen zu suchen, die die Menschen aufzuwiegeln versuchen. So polemisiert Le Pen seit Jahren schon gegen das politische Establishment, das jeden Bezug zur Realität der gewöhnlichen Menschen verloren habe und in einer von Seilschaften beherrschten Parallelwelt lebe. Lange sprach Le Pen nur vom «UMPS», ein Spottbegriff, der sich aus den Namen des PS und der UMP – so hiess die konservative Partei, bis sie sich 2015 in Les Républicains umbenannte – zusammensetzt. Derlei Stimmungsmache verfängt offenkundig bei vielen FranzösInnen, aber nicht nur, weil Le Pen eine talentierte Demagogin ist.

Denn tatsächlich war in den vergangenen Jahrzehnten eine immer weiter gehende Annäherung der beiden grossen Parteien zu beobachten. «Egal wer an der Macht war – der PS oder die Konservativen –, wir hatten es letztlich mit einer ähnlichen Politik zu tun», sagt der deutsche Politikwissenschaftler Felix Syrovatka, der an der Universität Tübingen unter anderem zur Entwicklung in Frankreich forscht. So haben beide grossen Parteien eine Politik der wirtschaftlichen Deregulierung betrieben. Dadurch wurden zum einen die Unterschiede zwischen den politischen Lagern verwässert, zum anderen gingen die besagten Deregulierungen vor allem zulasten der ärmeren Bevölkerung, was wiederum grosse Sozialproteste provozierte. Dennoch wurde 2010 eine umstrittene Rentenreform und 2016 eine nicht minder polarisierende Reform des Arbeitsrechts durchgesetzt – das eine Mal unter dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy, das andere Mal unter dem Sozialisten François Hollande. «Seit der Finanzkrise 2007 agiert die Politik zunehmend autoritär», sagt Syrovatka.

Zudem kommt das politische Führungspersonal in Frankreich tatsächlich fast ausschliesslich aus der heutigen Elite: Wer es in dem Land politisch zu etwas bringen will, muss in aller Regel eine der Grandes Écoles besuchen. Dass viele PolitikerInnen dadurch einen ähnlichen Lebenslauf aufweisen, provoziert Argwohn, zumal nur vier Prozent der Studierenden an Institutionen wie der École nationale d’administration in Strassburg aus den «classes populaires» stammen, wie Syrovatka betont. Die Wut auf «die Eliten» oder «das Establishment», das Gefühl, längst nicht mehr wirklich repräsentiert zu werden, ist folglich nicht nur Ergebnis der Hetze von PopulistInnen, sondern hat eine reale Basis.

Gleichwohl ist diese Krise der repräsentativen Demokratie nicht ein rein französisches Phänomen. So gab es in den vergangenen Jahren fast in aller Welt Bewegungen, die von der Ablehnung etablierter Institutionen getragen wurden. Wenn auf den Wahlkampfveranstaltungen Mélenchons Tausende den etablierten PolitikerInnen «Dégagez!» (Haut ab!) entgegen rufen, wirkt dies wie ein Echo der grossen Proteste des Jahres 2011, als weltweit unter der Parole «Sie repräsentieren uns nicht!» öffentliche Plätze besetzt wurden. Das Ziel all dieser Bewegungen war die Errichtung einer «wahren Demokratie», weswegen sich die BesetzerInnen exzessiv in basisdemokratischen Verfahren übten.

Der ideale Bürgerpolitiker

«Es handelt sich wirklich um eine riesige Welle radikaldemokratischer Massenbewegungen, die wir in den vergangenen Jahren beobachten konnten – auch im arabischen Raum oder in Asien», meint Samuel Hayat von der Universität Lille. Schon die globalisierungskritischen Proteste um die Jahrtausendwende hätten ähnliche Forderungen artikuliert, sagt der Sozialwissenschaftler, der zur Geschichte und Theorie politischer Repräsentation forscht. Hayat zufolge wohnt repräsentativen Systemen stets die Tendenz inne, Oligarchien hervorzubringen; das Problem der dagegen gerichteten Bewegungen sei allerdings, dass sie früher oder später an Dynamik verlieren.

Dieses Phänomen war auch bei den Platzbesetzungen in Frankreich («Nuit debout») im vergangenen Jahr zu beobachten. Zurück bleiben stets unerfüllte Hoffnungen und viel Enttäuschung, was wiederum RechtspopulistInnen die Chance bietet, auf Stimmenfang zu gehen. «Demokratische Massenbewegungen stehen immer vor der schwierigen Herausforderung, wie sich ihre Forderungen in die bestehende Ordnung übersetzen lassen», sagt Hayat.

À nous la Démocratie! versucht, dieses Problem pragmatisch anzugehen – nicht durch spektakuläre Platzbesetzungen, sondern indem BürgerInnen dazu gebracht werden sollen, die bestehenden Institutionen zu kapern. Für die im Juni anstehenden Parlamentswahlen stellt die Organisation eigene KandidatInnen auf – BürgerInnen, die einen normalen Job ausüben, statt Politprofis, die seit dem Studium verbissen an einer Laufbahn in den Apparaten arbeiten.

Einer davon ist Adhal Bara, der im Wahlkreis Val-d’Oise antritt, einer Banlieue im Norden von Paris. Bara ist leitender Angestellter einer Arbeitsagentur. Früher war er Mitglied der Sozialisten. «In Parteien wie dem PS ist es schwierig, Veränderungen anzustossen», sagt der 39-Jährige in dem Pariser Café. Auch er hat von den etablierten PolitikerInnen genug: «Egal ob rechts oder links – es ist bei allen dasselbe. Sie kennen sich untereinander und haben vor allem das Ziel, an der Macht zu bleiben. Das gehört in Frankreich inzwischen schon zur Definition eines Politikers.» Es komme deswegen darauf an, erst einmal einen institutionellen Rahmen zu schaffen, in dem Sachfragen überhaupt ernsthaft diskutiert werden können. Bara selbst ist in seinem Wahlbezirk aufgewachsen, engagiert sich schon lange vor Ort, er kennt die Leute und ihre Probleme – und stellt damit so etwas wie das Ideal eines Bürgerpolitikers dar.

Sozialwissenschaftler Hayat sieht diesen Ansatz dennoch kritisch. «Bei aller Bewunderung und Sympathie, die ich für die Arbeit von À nous la Démocratie! habe, ist es doch ein Problem, dass sie sich nur auf Verfahrensfragen konzentrieren», sagt er. Der Krise der Repräsentation lasse sich nicht allein mittels institutioneller Reparaturarbeiten beikommen. Tatsächlich thematisiert À nous la Démocratie! nicht die seit Jahren wachsende soziale Ungleichheit in Frankreich, ein ebenfalls nicht nur auf dieses Land beschränktes Phänomen.

Bürgerpolitiker Adhal Bara.   Foto: Emanuelle Corne

Eine wirkliche demokratische Erneuerung müsste aber auch die ökonomischen Widersprüche angehen. Hayat hofft deshalb, dass der Zyklus der Massenbewegungen noch nicht zu Ende ist, sondern derzeit nur eine Pause eingelegt hat. «Wir wissen noch nicht, wie das Neue aussehen würde, das diese Bewegungen schaffen könnten», sagt er. «Aber wir sollten Vertrauen in die Kreativität der Menschen haben.»