Gudrun Ensslin: «Wir sehen ihren Rücken, aber nicht ihr Gesicht»

Nr. 15 –

Sie gehörte zur Führungsspitze der RAF und gilt als kaltblütige Terroristin. Ein viel zu einfaches Bild, wie Ingeborg Gleichauf mit einer mutigen neuen Annäherung an Gudrun Ensslin zeigt.

«Gudrun Ensslin hätte Schriftstellerin werden können, Wissenschaftlerin, Musikerin, Journalistin, Lehrerin», bilanziert Ingeborg Gleichauf in ihrer kürzlich publizierten Biografie über das Gründungsmitglied der Roten Armee Fraktion (RAF). «Es ist anders gekommen. Und niemand kann genau sagen, warum.» Erklärt hier gerade eine Autorin ihr Projekt rückblickend für gescheitert?

Nimmt man das Versprechen auf dem Buchumschlag zum Massstab, dann lautet die Antwort: ja. Gleichauf zeigt eben nicht, «wie aus dem intellektuellen Bürgertum des Nachkriegsdeutschlands gewaltbereite Radikalisierung möglich war». Aber ihr Versuch, sich Ensslin über deren literarischen Nachlass zu nähern, ist nicht nur mutig – er ist, gerade wo er scheitert, auch produktiv. Das allerdings ist nicht von Beginn weg offensichtlich in dieser durchweg linear erzählten Biografie, die geradezu obsessiv um eine Frau kreist, über die kaum Persönliches eruierbar ist. Die noch lebenden Geschwister und Ensslins Sohn Felix schweigen.

Die Stationen und Ereignisse in Gudrun Ensslins Leben – sie sind im Buch nur flüchtig hingetuscht: Kindheit im evangelischen Pfarrhaushalt, Gymnasium und Austauschjahr in den USA, Studium und dann, ab 1964, Dissertation in Literatur an der TU Berlin. Irgendwann 1962 tritt Bernward Vesper in ihr Leben – man verlobt sich ganz bürgerlich –, im Sommer 1967 taucht Andreas Baader auf, mit dem sich alles verändert: Ensslin lässt im März 1968 ihren Mann, den 1967 geborenen Sohn und die Diss in Berlin zurück. Einen Monat später begehen Ensslin, Baader und zwei weitere Freunde einen Brandanschlag auf ein Kaufhaus in Frankfurt am Main.

Es folgen Haft, Flucht, eine Odyssee durch Europa, im Sommer 1970 eine Ausbildung zu GuerillakämpferInnen in Jordanien, danach zahlreiche Banküberfälle und fünf Sprengstoffanschläge in Deutschland. Im Verlauf des Jahres 1972 werden Ensslin, Baader, Ulrike Meinhof und andere RAF-Mitglieder verhaftet. Ab 1974 Aufenthalt im eigens für die RAF konstruierten Sicherheitstrakt in Stuttgart-Stammheim und Gerichtsverhandlung im dort errichteten Prozessbunker. Hungerstreiks. Am 18. Oktober 1977 erhängt sich Gudrun Ensslin in ihrer Zelle, wie auch ihre RAF-Mitinsassen Andreas Baader und Jan-Carl Raspe.

Was heisst schon «folgerichtig»?

Eine Rekonstruktion der Motive, Hintergründe, Tathergänge – all das interessiert Gleichauf nicht. Sie will einen Zugang zu Ensslins Innenleben finden, den Schlüssel dazu sucht sie in deren schriftlichen Äusserungen, in Briefen, Studienberichten, Texten aus dem Gefängnis. Wo das Material fehlt (und viel gibt es nicht), beginnt sie zu fragen, stellt Mutmassungen an, spekuliert. Dabei nimmt sie Ensslin mit einer Anwaltschaftlichkeit in Schutz, die mitunter irritiert. «Es wäre dringend erforderlich, dass sich jemand aus dem akademischen Bereich ihrer kontinuierlich annähme», schreibt sie im Kontext der Studienzeit. «Ein Professor müsste her, der in das Gespräch tritt mit dieser literarisch und literaturwissenschaftlich so begabten Studentin.» Auch Ensslins Verlobter passt nicht in Gleichaufs fast schon matriarchal anmutendes Schutzkonzept: «Vesper ist mit Sicherheit nicht der Gesprächspartner, den Gudrun Ensslin gerade jetzt bräuchte.»

Andernorts möchte man ihr auf die Schulter klopfen, wenn sie Ensslin gegenüber all jenen «selbsternannten Experten» der Nach-RAF-Zeit verteidigt, die in ihr schon früh nur die «gewaltbereite, kalte, kompromisslose junge Frau» sahen. Die «Geburtsstunde dieses Bildes» ist der 2. Juni 1967 – der Tag, an dem der Student Benno Ohnesorg an einer Demo von der Polizei niedergeschossen wurde. Seither hält sich hartnäckig die Legende einer jungen, blonden Frau, die in eine Versammlung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes platzte und schrie, man müsse sich bewaffnen, da habe die Tätergeneration von Auschwitz gehandelt, mit der könne man nicht reden. Dass es sich dabei um Ensslin handelte, ist keineswegs klar, wie Gleichauf zeigt. Auch gebe es zu diesem Zeitpunkt keinerlei Anhaltspunkte «für eine gedankliche Hinwendung zur Gewalt», betont sie. «Von einem Aufbruch in den Terrorismus kann noch keine Rede sein.»

In den Wochen vor dem Kaufhausanschlag beginnt ihr Ensslin zu entgleiten: «Wir sehen ihren Rücken, aber nicht ihr Gesicht.» Ein Jahr später, im Sommer 1969, fühlt sich Gleichauf erstmals richtig ausgeschlossen. «Gudrun Ensslin hat nach aussen hin aufgehört, ‹Ich› zu sagen. Sie übt sich im ‹Wir›.» Schuld ist also das Kollektiv, die RAF – für Gleichauf eine totalitäre Struktur, die jeden Individualismus auslöscht. Dabei, so beharrt sie, sei Ensslins Entwicklung hin zu einer gewaltbereiten Terroristin «nicht folgerichtig». Bloss: Wie will sie das beurteilen können, wenn sie sich an keiner Stelle des Buchs inhaltlich mit den politischen Anliegen und den frühen Schriften der RAF auseinandersetzt? Und was heisst schon «folgerichtig» in einer Biografie? Ist es nicht gerade diese kausale Determiniertheit, die Gleichauf mit ihrem Zugang zu durchbrechen sucht? Vor allem aber: Verweigert sie so ihrem biografischen Subjekt nicht die Freiheit, sich in jedem Moment entscheiden zu dürfen – ja, sich vielleicht entscheiden zu müssen?

Totale Erschöpfung

«Wir gehen grausam mit uns selbst um, jeder, man zwingt uns, getrennt», schreibt Gudrun Ensslin in einem Brief an Andreas Baader während der U-Haft nach dem Kaufhausanschlag, «und ein Ergebnis wird sein: dass wir mit jedem andern genauso grausam und kalt verfahren. Viell. hat mir genau das gefehlt, egal, jetzt hab ich’s, bis in die Knochen.» Ausgerechnet an dieser Stelle verzichtet Gleichauf darauf, Ensslins Worte zu befragen, Mutmassungen anzustellen, zu spekulieren.

Etwa dazu, was die Überreaktionen des Staats aus Ensslin machen, insbesondere in ihrer letzten Station, Stammheim. Stattdessen zieht Gleichauf immer wieder Ensslins Briefe an ihre Schwester Christiane heran, um festhalten zu können: «Wir haben es nicht mit einer kalt kalkulierenden und emotional verarmten, die Gewalt verherrlichenden Politik-Kriminellen zu tun.» Leider zitiert sie dafür kaum je direkt aus den Briefen – und wo sie es doch tut, handelt es sich gerade nicht um «Zeugnisse einer hart ringenden und sich an der Gesellschaft und an der eigenen Person abarbeitenden Person». Im Frühling 1973 etwa schreibt Ensslin über einen Brief, den sie von ihrem Vater erhalten hat, «grade so gut kann man sich mit dem papier den arsch abwischen».

Wenn die von ihr verfassten Pamphlete aus dem Gefängnis zunehmend wirr sind und von totaler geistiger Erschöpfung zeugen; wenn ihre Briefe an die Schwester nur noch eine erschütternde emotionale Verkümmerung spiegeln – dann hört auch die Biografin auf, Fragen zu stellen und Mutmassungen zu äussern. Zum Selbstmord fällt ihr nur noch ein, damit seien Gudrun Ensslin die Worte ganz abhandengekommen. Und beschreibt dabei ebenso auch sich selbst als Biografin.

Kann also sein, dass Ingeborg Gleichauf mit ihrem Projekt gescheitert ist. Wichtiger ist die Erkenntnis, die man trotzdem aus der Lektüre gewinnt: dass man Gudrun Ensslin nicht festschreiben kann. Vor allem aber – und hier liegt die vielleicht sogar beabsichtigte Nachwirkung der Lektüre – dass man selber beginnt, Fragen zu formulieren und Mutmassungen anzustellen.

Ingeborg Gleichauf: «Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin». Verlag Klett-Cotta. Stuttgart 2017. 350 Seiten. 30 Franken.