Gewalt in Palästina: Aus dem Jeep. Auf ein Kind. Und niemand ists gewesen

Nr. 18 –

Im Flüchtlingslager al-Fawwar erschiesst ein israelischer Soldat den zehnjährigen Palästinenser Khalil Anati. Nach zweijähriger Untersuchung kommt die Militäranwaltschaft zum Schluss: Zwischen dem Schuss und dem Tod des Knaben gebe es keinen Zusammenhang. Eine Rekonstruktion.

  • Als wärens unordentlich gestapelte Schuhschachteln: Blick aus dem elterlichen Haus aufs palästinensische Flüchtlingslager al-Fawwar. Die Tragödie ereignete sich links die Gasse runter.
  • Was ihnen geblieben ist: Khalils Vater mit einem Bild seines erschossenen Sohnes.
  • Langes Warten auf die Ermittlungsakten: Die Eltern von Khalil.
  • Grossvater Ahmed Anati: «Khalil öffnete die Augen und lächelte mich an. Dreimal.»
  • Die Gasse, in der Khalil verschwand. Ungefähr dort, wo der telefonierende Mann steht, befand sich der Militärjeep.

Am frühen Morgen des 10. August 2014 steht Khaula Anati auf dem Dach ihres Hauses im Flüchtlingslager al-Fawwar ein paar Kilometer südwestlich von Hebron und schaut nach, weshalb kein Wasser fliesst. Ist die Pumpe defekt? Oder ist der Tank leer, weil Mekorot, die israelische Wasserbehörde, die Leitung zum Lager wieder einmal abgedreht hat? Das geschieht immer wieder in der heissen Jahreszeit, wenn die israelischen Siedlungen in der Umgebung mehr Wasser brauchen als sonst. Khaula rätselt noch, als ihr Sohn Khalil plötzlich neben ihr auftaucht. Das erstaunt sie. Am Vorabend hat der Ramadan geendet, und Khalil feierte wie alle das Ende der Fastenzeit. Zusammen mit Freunden spielte er im Gemeinschaftszentrum bis spät in die Nacht Tischfussball. Jetzt ist er bereits wieder auf.

Ob er etwas hinausdürfe, fragt Khalil, nur auf die andere Seite der Gasse zum Haus der Grosseltern, wo Arbeiter gerade ein weiteres Stockwerk aufsetzen. Das interessiert ihn; nun haben die Grosseltern bald doppelt so viel Platz, nicht mehr nur ein, sondern zwei Zimmer. Khaula schaut über die dicht zusammengebauten Häuser von al-Fawwar, sie erinnern an eine Ansammlung unordentlich gestapelter Schuhschachteln, überragt nur von der Moschee und dem Überwachungsturm der Armee. Im Flüchtlingslager ist an diesem Morgen alles still und friedlich. Die meisten der 8000 BewohnerInnen schlafen noch. Das beruhigt Khaula. «Geh nur», sagt sie und widmet sich wieder dem Wassertank. Dennoch beobachtet sie Khalils Schritte. Sie sieht ihn das Haus verlassen und über die Gasse gehen. Er stellt sich genau dorthin, wo er angekündigt hat: neben die Baustelle. Khaula geht hinunter in die Küche. Sie ahnt nicht, dass im Camp bald israelische Soldaten und BewohnerInnen aufeinanderprallen werden.

Khalil schaut einige Zeit den Handwerkern zu, dann betritt er das Haus der Grosseltern und bittet um ein Ei. Er sei wohl hungrig gewesen, erinnert sich die Grossmutter, anschliessend habe er wieder bei der Baustelle gestanden. Irgendwann geht Khalil zurück ins Elternhaus und weckt seinen älteren Bruder Ihab. Er bittet ihn um etwas Geld, um sich an der Hauptstrasse ein Eis kaufen zu können. Ihab gibt ihm einige Schekel, dreht sich um und schläft weiter. Er bringe ihm das Rückgeld, sagt Khalil noch. Es ist das letzte Mal, dass Ihab seinen kleinen Bruder lebend sieht. «Er war mein Lieblingsbruder.»

Todesursache: Schussverletzung

Als der Knall die Stille zerreisst, ist es etwa 9.45 Uhr. Fast gleichzeitig mit dem Schuss ist Khalils Stimme zu hören. Was genau er schreit, ist umstritten. «Mutter, Mutter, hilf mir!», zitiert ihn Khaula später. Ein Nachbar widerspricht: «Khalil rief: ‹Sie haben mich getroffen, die Hurensöhne haben mich getroffen!›» Er habe nach dem Schuss sofort aus dem Fenster geschaut, zuerst das auf dem Boden liegende Kind gesehen, dann einen Jeep der Armee, der bei der Einmündung der Gasse in die Hauptstrasse gestanden sei. Das Fahrzeug habe noch einige Sekunden an Ort und Stelle verharrt, anschliessend sei es weggefahren.

Khalils Mutter eilt nach draussen, gleichzeitig mit anderen Verwandten der Familie. Keine dreissig Meter entfernt sieht sie Khalil, wie er sich in Richtung des Elternhauses schleppt. Er blutet stark. Der Schuss hat ihn von hinten in die rechte Lende getroffen und ist vorne, etwas tiefer, wieder ausgetreten. Khalils Onkel Mahmoud erreicht den Knaben als Erster und versucht, die Blutung zu stoppen, muss aber einsehen, dass sie zu heftig ist. Er hebt Khalil auf und rennt hinunter zur Hauptstrasse. Dort stoppt er das nächste Auto. Inzwischen ist auch Khalils Vater da; der Schuss hat ihn geweckt. Die beiden Männer legen das Kind auf den Rücksitz und fahren los Richtung Hebron, ins nächste Spital. Unterwegs ruft der Vater Khaula an. Es komme alles gut, der Sohn sei nicht schwer verletzt. Doch er weiss, dass seine Einschätzung falsch ist. Die Kugel hat die Arterie im Oberschenkel zerfetzt; Khalil wird nicht überleben. Als das Auto eine Viertelstunde später vor dem Spital hält, atmet sein Sohn bereits nicht mehr. Die Ärzte versuchen, ihn wiederzubeleben, er erhält eine Bluttransfusion. Vergeblich. «Schussverletzung», notiert der Arzt als Todesursache.

Khalil stirbt im Alter von zehn Jahren, acht Monaten und drei Tagen.

Noch am selben Tag setzt die israelische Armee einen Tweet ab: «Während operationeller Aktivitäten der Armee kam es in al-Fawwar zu einem gewalttätigen Aufstand, in dessen Verlauf ein palästinensischer Minderjähriger getötet wurde. Die Armee bedauert seinen Tod. Der Vorfall wird von der Militärpolizei untersucht.»

Wie im Islam üblich wird Khalil noch am gleichen Tag beerdigt. Über tausend Menschen strömen zusammen. Grossvater Ahmed Anati legt seinen Enkel ins Grab, den Kopf in Gebetsrichtung, den Körper in eine palästinensische Flagge gehüllt. Später wird er sagen: «Khalil öffnete die Augen und lächelte mich an. Dreimal. Er wollte mir sagen: ‹Ich bin immer noch dein Enkel und werde es für immer bleiben.›»

Nach Khalils Tod beginnt die israelische Militärpolizei mit der Untersuchung. Die Eltern werden befragt, der Onkel, die NachbarInnen. In al-Fawwar geht das Leben weiter. Die BewohnerInnen müssen zusehen, wie israelische BäuerInnen rundherum das Land bewirtschaften, das einst ihnen gehörte: Felder, Olivenhaine, Obstplantagen, Weiden. Sie selbst sind weitgehend zur Untätigkeit verdammt. Die Arbeitslosigkeit ist mit 33 Prozent so hoch wie fast nirgends in den besetzten Gebieten. 2000 Kinder wachsen ohne Zukunft auf. Wer den Widerstand gegen Israel verstehen will, muss al-Fawwar besuchen.

Um die Umstände von Khalils Tod zu ergründen, benötigt die israelische Militärpolizei zwei Jahre, das heisst bis in den September 2016. Sie kommt zu folgendem Schluss: «Während des gewaltsamen Aufstands am 10. August 2014 wurden von Hausdächern Betonblöcke und Steine auf die Soldaten der israelischen Armee geworfen, was sie in unmittelbare Lebensgefahr brachte. Die Soldaten gaben einen Schuss ab, um die Randalierer zu vertreiben. Sie feuerten nicht in Richtung der Individuen, und die Soldaten stellten keinen Treffer fest. (…) Zwischen dem Schuss und dem Tod des Palästinensers konnte kein Zusammenhang hergestellt werden. Unter diesen Umständen kann kein Beweis eines kriminellen Fehlverhaltens gefunden werden, weshalb auch keine Anklage erhoben wird.»

Hatte die Armee in ihrem Tweet kurz nach Khalils Tod noch ein mögliches Verschulden des Schützen angetönt – der Ausdruck des «Bedauerns» ist äusserst ungewöhnlich und kommt einem Eingeständnis gleich –, so ist nun das Gegenteil eingetreten. Obwohl am 10. August 2014 in al-Fawwar nur ein einziger Schuss fällt und danach in unmittelbarer Nähe des Schützen ein zehnjähriges Kind tödlich verletzt am Boden liegt, will die Militäranwaltschaft keinen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen erkennen.

Weisswaschen als Prinzip

Diese Art der Beweisführung ist keine Ausnahme, sie ist vielmehr die Regel. Das weist die israelische Menschenrechtsorganisation Yesh Din nach. Sie hat die Rechtsprechung der Militärjustiz in den Jahren 2000 bis 2015 analysiert und dabei 2821 Vorkommnisse ausgewertet, in die – aufgrund eines möglichen Fehlverhaltens – Armeeangehörige verwickelt waren. Die Soldaten hatten entweder PalästinenserInnen ohne nachvollziehbaren Anlass umgebracht, Verhaftete grundlos gequält, bei Durchsuchungen palästinensischer Häuser gestohlen oder gezielt Eigentum der BewohnerInnen zerstört. Doch in nur fünf Prozent dieser Fälle erhob die Militäranwaltschaft Anklage, und nur jeder dritte der angeklagten Soldaten wurde auch tatsächlich verurteilt. Mit anderen Worten: Von den 2821 Vorkommnissen hatten nur 40 juristische Konsequenzen.

Das Strafmass blieb in den meisten Fällen symbolisch. Die fehlbaren Soldaten wurden disziplinarisch gemassregelt oder degradiert, sie wurden versetzt oder mussten Innendienst leisten. Die Gefängnisstrafen lassen sich an einer Hand abzählen. 2012 wurde ein Soldat wegen «unautorisierten Einsatzes einer Schusswaffe» zu 45 Tagen Haft verurteilt. Er hatte zwei palästinensische Frauen erschossen, obwohl sie eine weisse Flagge geschwenkt hatten. 2015 musste ein Soldat für zwei Monate ins Gefängnis, weil er einen wehrlosen Verhafteten – der Mann trug Handschellen und hatte die Augen verbunden – mit Steinen beworfen hatte. Im Januar 2017 wurde der Soldat Elor Azaria wegen Totschlag verurteilt, nachdem er einen am Boden liegenden, bereits schwer verwundeten Palästinenser mit einem Kopfschuss exekutiert hatte. Das maximale Strafmass lautete auf zwanzig Jahre Gefängnis; Azaria erhielt achtzehn Monate. Doch auch dieses Strafmass will Azarias Verteidiger noch anfechten.

Gilad Grossman, Sprecher von Yesh Din, erkennt in dieser Art der Rechtsprechung ein «systematisches Versagen» des israelischen Rechtsstaats. Ein Versagen, das sich nicht nur bei der Beurteilung von SoldatInnen zeigt, sondern auch im umgekehrten Fall: Stehen Menschen aus Palästina vor einem israelischen Militärgericht, gibt es nur Schuldige. 99,74 Prozent der Angeklagten werden verurteilt. Das zeigt ein internes Dokument der Armee, publiziert von der israelischen Tageszeitung «Haaretz».

Das Weisswaschen bestätigt sich auch im Fall von Khalil Anati. Die Ergebnisse der militärischen Untersuchung widersprechen diametral Videoaufnahmen, die die Ereignisse am Morgen des 10. August 2014 dokumentieren. Die Aufnahmen entstanden zwar in etwa hundert Metern Distanz, sie sind teils verwackelt und zeigen weder Details noch das getroffene Kind, vermögen aber trotzdem – mit grosser Wahrscheinlichkeit – zu klären, was sich kurz vor dem Schuss ereignet hat.


Noch 75 Sekunden bis zum Schuss: Der Kameraausschnitt zeigt die Häuser des Camps und die Hauptstrasse, ebenso die Einmündung der Gasse, die zu Khalils Haus führt. Bei dieser Einmündung ist schemenhaft eine einzelne Person zu erkennen. Sie trägt ein schwarzes Oberteil. Es scheint eine erwachsene Person zu sein. Ihren Bewegungen nach zu urteilen, wirft sie Steine in Richtung eines Ziels, das in fünfzig Metern Entfernung unsichtbar hinter Bäumen liegt: Es ist ein Jeep der Armee mit zwei bewaffneten Soldaten. Der Jeep ist kurz zuvor ins Camp gekommen und blockiert nun die Zufahrt zur Pumpstation, die al-Fawwar und die umliegenden israelischen Siedlungen mit Wasser versorgt. Die Blockade dient dem Schutz eines weissen Geländewagens, der zu Mekorot gehört, der staatlichen Wasserversorgung Israels. Einmal pro Monat kommt ein Mitarbeiter, um bei der Pumpstation eine Probe zu nehmen. Weil das Mekorot-Fahrzeug als Symbol der Unterdrückung angesehen wird, greifen es die jungen CampbewohnerInnen regelmässig an. Nun hindert sie der Jeep daran, weshalb sie dieses Fahrzeug attackieren.

Noch 60 Sekunden: Am linken Bildrand taucht der weisse Geländewagen auf und nähert sich dem Jeep. Der Kontrolleur von Mekorot hat seinen Auftrag erledigt, nun macht er sich auf den Weg ins Labor.

Noch 55 Sekunden: Die Bewegung des Geländewagens veranlasst die schwarz gekleidete Person, sich in die Gasse zurückzuziehen. Jetzt tritt eine andere Person auf die Hauptstrasse. Sie ist klein und trägt ein weisses T-Shirt. Khalil trug an diesem Tag ein weisses T-Shirt; Khalil war klein. Die Person verschwindet wieder in der Gasse.

Noch 49 Sekunden: Das Mekorot-Fahrzeug passiert den Jeep, dreht nach rechts in Richtung der Gasse, in die sich die beiden Personen zurückgezogen haben.

Noch 27 Sekunden: Das Mekorot-Fahrzeug fährt an der Einmündung der Gasse vorbei, erreicht kurz darauf den Ausgang des Camps und verschwindet; der Fahrer ist in Sicherheit. Damit ist auch die Aufgabe der beiden Soldaten im Jeep erledigt, sie können den Rückzug antreten. Der Jeep fährt los, dreht jedoch nicht nach rechts wie der weisse Geländewagen, sondern nach links. Das ist der kürzeste Weg zur Basis.

Noch 17 Sekunden: Nach wenigen Metern stoppt der Jeep, steht für einige Sekunden, wendet dann und fährt in dieselbe Richtung wie kurz zuvor das Mekorot-Fahrzeug, das heisst in Richtung der Gasse, in die Khalil und die schwarz gekleidete Person verschwunden sind. Die Soldaten haben etwas vernommen, das sie ihre Meinung ändern liess. Die Information muss wichtig gewesen sein. Hätten sie die ursprüngliche Fahrtrichtung beibehalten, wäre Khalil heute noch am Leben.

Was haben sie erfahren? Naheliegend ist: Als das Mekorot-Fahrzeug an der Einmündung der Gasse vorbeifährt, wirft Khalil einen Stein – und trifft. Der Fahrer greift zum Mikrofon und benachrichtigt seine Eskorte. Der Funkspruch trifft in genau jenem Moment ein, als die Soldaten losfahren wollen. Die Information veranlasst sie zu wenden. Sie haben entschieden, den Steinewerfer zu verfolgen.

Noch 8 Sekunden: Der Jeep fährt langsam die Hauptstrasse entlang, als sei er auf der Suche nach etwas.

Noch 2 Sekunden: Der Jeep hält bei der Einmündung der Gasse, in die Khalil verschwunden ist. Die Kamera sieht nicht, was nun geschieht, wohl aber ein Zeuge: Yakub Nasser, neunzehnjährig und seit 2008 im Rollstuhl, als ihn ein israelischer Soldat angeschossen hat, weil er eine Steinschleuder auf ihn gerichtet haben soll. Nasser beobachtet, wie auf der Fahrerseite die Tür aufgeht. Der Fahrer lehnt sich zurück, der Soldat neben ihm beugt sich vor und hebt den Lauf einer M16. Mehr vermag auch er aufgrund des eingeschränkten Blickwinkels nicht zu erkennen. Was gleichzeitig in der Gasse geschieht, lässt sich nur vermuten: Während die schwarz gekleidete Person die Gefahr rechtzeitig erkannt hat und bereits verschwunden ist, steht Khalil immer noch da. Erst als der Jeep hält, rennt auch er davon, in Richtung seines Elternhauses. Zu spät.

Schuss: Der Knall ist auf dem Video deutlich zu hören. Die Kamera ist weiterhin auf den Jeep gerichtet und zeigt die Hauptstrasse mit dem dahinterliegenden Häusergewirr. Bewegungen sind keine zu erkennen.

14 Sekunden nach dem Schuss: Der Jeep fährt los in Richtung Campausgang und verlässt den Blickwinkel der Kamera. Ende des Videos.


Obwohl für die israelischen Soldaten im Jeep die Unschuldsvermutung gilt und das Video den Treffer nicht zeigt, legen die Aufnahmen doch eine Interpretation nahe: Die Soldaten haben Khalil bewusst verfolgt, sie haben geschossen und ihn tödlich verletzt. Anschliessend sind sie davongefahren, ohne sich um das Kind zu kümmern.

Diese Annahme wirft Fragen auf: Wie kann die Militärjustiz in ihrem Statement behaupten, dass der Schuss «ungezielt» erfolgt sei? Wie kann sie erklären, dass die Soldaten «keinen Treffer» festgestellt haben, wenn das Kind in direkter Schusslinie und nur rund dreissig Meter vom Jeep entfernt am Boden liegt? Wie können die Soldaten «unmittelbare Lebensgefahr» als Begründung für den Schuss anführen, wenn sie einen zehnjährigen unbewaffneten und vor ihnen fliehenden Knaben aktiv verfolgen? Hätte Khalil sie bedroht, so hätte ihn der Schuss von vorne treffen müssen. Wie also können die Untersuchungsbehörden zusammenfassend zum Ergebnis kommen, dass es «keinen Zusammenhang» zwischen dem Schuss und dem Tod des Kindes gebe?

Mit diesen Fragen konfrontiert, verweigert die Pressestelle der Armee eine Stellungnahme. Man habe dem abgegebenen Statement «nichts hinzuzufügen».

Die verhinderten Akten

Für Khalils Eltern sind die Ergebnisse der militärpolizeilichen Untersuchung weit mehr als nur Enttäuschung, sie sind blanker Hohn. Zuerst haben sie ihren Sohn verloren, nun auch noch die Hoffnung, dass es trotz aller bisherigen Erfahrungen mit der Militärjustiz so etwas wie einen Rechtsstaat Israel gibt.

Khalils Vater ist seit dem Tod seines Kindes in Depressionen versunken, Khaula Anati versucht, die Trümmer der Familie zusammenzuhalten. Einzig Khalils Onkel Mahmoud, Chef der Anati-Familie, spricht. Er sagt: «Soldat, was hast du mit diesem Schuss Gutes für dein Land getan?» Dann fügt er an: «Ich kann nicht vergessen, wie der blutende Khalil auf dem Weg ins Spital in meinen Armen lag. Dieses Bild! Ein zehnjähriges Kind!»

Die letzte Möglichkeit der Familie ist Yesh Din. Die Menschenrechtsorganisation – ihr Name bedeutet «Es gibt Recht» – hat in den vergangenen Jahren ein Dutzend vergleichbare Fälle bis vor das Oberste Gericht Israels gebracht, mehrheitlich allerdings erfolglos.

Ob sie auch Khalils Fall weiterziehen wird, ist unklar. Obwohl die militärpolizeilichen Untersuchungen bereits vor einem halben Jahr abgeschlossen wurden, warten die Anwälte immer noch auf die Zustellung der Untersuchungsakten. Erst nach ihrer Prüfung können sie über das weitere Vorgehen entscheiden. Doch wann die Akten kommen, ist ungewiss. Für Khalils Verwandte eine zusätzliche Erniedrigung und ein Spiegel der Machtverhältnisse im Land. Die WOZ hat sich Ende März bei der Militäranwaltschaft nach dem Verbleib der Unterlagen erkundigt, doch bis Redaktionsschluss ist keine Antwort eingetroffen. Michael Sfard, Anwalt von Yesh Din: «Solche Verzögerungen machen es beinahe unmöglich, die Wahrheit zu finden – insbesondere, da die involvierten Armeeangehörigen genau dann ihre Dienstzeit beenden, wenn die Untersuchungen abgeschlossen werden. Insgesamt handelt es sich bei diesem Vorgehen um eine Verletzung der Charta der internationalen Menschenrechte; denn es ist die Pflicht der israelischen Armee, die Sicherheit der Bevölkerung in den besetzten Gebieten sicherzustellen.»