Türkisches Tagebuch: Wahrheit heisst Widerstand

Nr. 19 –

Ece Temelkuran über Journalismus als Aktivismus

3. Mai: Nach einer Weile – geben wir es zu – werden die Opfer zu zahlreich, um sie alle zu kennen, und eines Tages sind es gar zu viele, um sich für sie zu interessieren. Wenn dies geschieht, ist das Opfersein zur Normalität geworden – für mich der gefährlichste Wendepunkt in unserer Situation. Neulich las ich ein Buch über die Türkei, das in Englisch für ein westliches Publikum geschrieben worden ist. Im Buch werden die Namen bekannter Opfer der Repression gegen die türkischen Medien genannt. Plötzlich fiel mir aber auf, dass es darin kein einziges Zitat der Betroffenen gibt. Namen und Porträts stehen für die Opfer, doch welche Worte sie ins Gefängnis brachten, bleibt im Dunkeln. Obschon Kampagnen zur Freilassung von JournalistInnen eine wundervolle Sache sind, erlaube ich mir die Vermutung, dass die Betroffenen nicht wollen würden, als Opfer ohne Stimme dargestellt zu werden. Vielmehr wollten sie, dass ihre Worte von den internationalen Medien wiedergegeben würden. Ihre Sprache sollte verstärkt werden, nicht ihre Opferrolle. Nur so würde man ihrem Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit gerecht, den sie ja nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihr Land führen.

Internationale Medienschaffende mögen diese Forderung mehr aktivistisch als journalistisch finden. Ihnen entgegne ich, dass wir in eine Zeit eingetreten sind, die keine strikte Trennung zwischen Aktivismus und Journalismus mehr erlaubt. Gerade weil unsere KollegInnen in der Türkei eingesperrt wurden, da sie Sand im Getriebe des postfaktischen Zeitalters waren, ist der Kampf für Fakten sowieso immer auch ein Kampf für sie. Meiner Meinung nach gehören das Engagement für die Pressefreiheit und der Kampf gegen das Postfaktische zusammen.

Als Hauptrednerin anlässlich des Tages der Meinungsäusserungsfreiheit in Amsterdam sprach ich darüber: Das Konzept des Postfaktischen muss im gleichen Zuge bekämpft werden, wie die Meinungsäusserungsfreiheit verteidigt wird. Andernfalls – so haben die Ereignisse in der Türkei gezeigt – wird die Meinungsäusserungsfreiheit von den MachthaberInnen dazu missbraucht, den öffentlichen Raum nur ihren AnhängerInnen offenzuhalten und die kritischen Stimmen zu unterdrücken.

5. Mai: Erst 58 Tage nachdem zwei AkademikerInnen, die infolge des Ausnahmezustands gefeuert worden waren, in den Hungerstreik getreten sind, beginnen die Leute zögerlich, darüber zu sprechen. Nuriye Gülmen und Semih Özakca sind zwei von Tausenden AkademikerInnen, die nach dem Putschversuch vom 15. Juli ihren Job verloren haben, als die Regierung den Ausnahmezustand ausrief und diesen dazu nutzte, die Öffentlichkeit von oppositionellen Kräften zu säubern. Die Vorstellung ist unerträglich, dass mit dem Verschwinden all dieser Leute auch die Türkei verschwindet. Es wird ein anderes Land sein, dem ich nicht mehr angehöre.

6. Mai: Ein sehr alter und anscheinend ebenso religiöser Mann steht vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul. Er trägt eine türkische Flagge mit sich und um den Hals ein Bild seines Sohnes. Dieser sitzt seit neun Monaten in Haft, ohne dass gegen ihn Anklage erhoben worden ist. Der Mann will wissen, weshalb sein Sohn in Haft ist. Die vorbeigehenden Leute nehmen den Alten jedoch kaum zur Kenntnis. So ist die Türkei geworden: Die Opfer sind zu zahlreich, um sie alle zu kennen, und nach einer Weile sind es gar zu viele, um sich für sie zu interessieren.

7. Mai: Der Enthusiasmus in Frankreich frustriert mich. Das Land feiert, dass Marine Le Pen nicht gewonnen hat. Das erinnert mich an das Glück der TürkInnen, wenn ihre Liebsten endlich aus der Haft entlassen werden. Sie sind dann so glücklich, dass sie gar nicht mehr zu fragen wagen, weshalb diese überhaupt verhaftet worden waren. Heute sagte Erdogan: «Niemand nimmt die Medienfreiheit ernster als wir.» Er sagt dies seit fünfzehn Jahren, und Trump tut es ihm gleich. Was auch immer ihm vorgeworfen wird, er kontert stets mit demselben «Ich bin der Beste»-Geschwätz. So beginnt die postfaktische Ära. Reklamiere deinen Sieg noch in der erbärmlichsten Niederlage, und wiederhole deinen Anspruch, bis er Realität wird. Dann schnappe die Trophäe, und beklage dich dennoch, du seist betrogen worden

Ece Temelkuran (43) ist Schriftstellerin, Journalistin und Juristin. Sie lebt derzeit in Zagreb. Vor kurzem ist ihr Roman «Stumme Schwäne» bei Hoffmann und Campe erschienen. An dieser Stelle führt Temelkuran bis auf weiteres ein Tagebuch über das Geschehen in der Türkei.

Aus dem Englischen von Roman Enzler.