Israel und Palästina: Eingeklemmt zwischen Mauer und Grenze

Nr. 22 –

Seit dem Bau eines Sicherheitszauns leben Zehntausende PalästinenserInnen in der sogenannten Saumzone – zwar im Westjordanland, aber auf der Israel zugewandten Seite der Grenzanlage.

Baubewilligungen gibt es hier keine – aber es hagelt Abrissbefehle: In der Saumzone bei Arab ar-Ramadin al-Janubi. Foto: Gordon Welters

Von ihrem Arbeitsplatz zur Küste sind es nur zwölf Kilometer Luftlinie. Doch Summer Ayub war noch nie am Meer. Die vierzigjährige Lehrerin unterrichtet in Arab ar-Ramadin al-Janubi, einem Dörfchen mit knapp 300 EinwohnerInnen im besetzten Westjordanland. Am Horizont erkennt man die Wolkenkratzer von Tel Aviv. Hier aber leben die Menschen in armseligen Unterkünften, eher Hütten als Häuser, nur wenige haben Mauerwerk. Auch das Dach der Schule ist aus Holz, und die gestampfte Erde am Boden überdeckt lediglich ein grüner Kunststoffteppich. Ohne Bewilligung der israelischen Besatzungsbehörde darf hier eigentlich überhaupt nicht gebaut werden.

«Baubewilligungen erteilt die Behörde hier keine», sagt Ayub und schiebt eine widerspenstige Haarsträhne unter ihr Kopftuch. «Im Gegenteil: Es hagelt Abrissbefehle.» Denn Arab ar-Ramadin ist offiziell ein «nicht anerkanntes Dorf». Als Israel 1948 gegründet wurde, existierte es noch nicht. Die BeduinInnen, die sich Anfang der fünfziger Jahre hier niederliessen, kamen ursprünglich aus der Negevwüste, als Vertriebene des arabisch-israelischen Kriegs von 1948/49.

Ein Ausflug nach Tel Aviv ist den BewohnerInnen von Arab ar-Ramadin verboten, der Zutritt ins restliche Westjordanland wird ihnen erschwert. Denn sie leben – wie Zehntausende PalästinenserInnen – in der Seam Zone, der Saumzone. So nennt man die zahlreichen nicht zusammenhängenden Gebiete, die zwischen der Grünen Linie (der international anerkannten Grenze zwischen Israel und dem besetzten Westjordanland) und der Sperranlage liegen, die Israel errichtet hat, um das Westjordanland abzuriegeln. Die inzwischen 500 Kilometer lange «Mauer» ist zum grossen Teil ein Metallzaun mit Stacheldraht, aber hier bei Arab ar-Ramadin ist sie wirklich eine etwa acht Meter hohe Mauer aus Stahlbeton.

Abends vierzig Kilometer Umweg

Zwischen dem Dörfchen Arab ar-Ramadin und der benachbarten palästinensischen Stadt Kalkilja wurde 2002 das erste Teilstück der Sperranlage errichtet, die einst 700 Kilometer lang werden soll – offiziell, um palästinensischen TerroristInnen das Eindringen nach Israel zu erschweren. Die Zahl der Attentate ist tatsächlich signifikant zurückgegangen. Doch wurde die Anlage offenbar noch aus einem anderen Grund gebaut. Zu 85 Prozent verläuft sie nämlich nicht entlang der israelischen Staatsgrenze, sondern auf palästinensischem Gebiet – und zwar so, dass viele israelische Siedlungen direkt mit dem Staatsgebiet Israels verbunden sind. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag sprach 2005 in einem Gutachten von einer «De-facto-Annexion» besetzten Gebiets.

Situation rund um Arab ar-Ramadin. (grosse Ansicht der Karte) Karte: WOZ; Quelle: OCHA

Für die Lehrerin Summer Ayub hat die Mauer ganz praktische Konsequenzen. Sie wohnt in Azzun Atma, sechs Kilometer südlich von Arab ar-Ramadin, ebenfalls in der Saumzone. Um zu ihrer Schule zu gelangen, muss sie über einen Checkpoint am Rand ihres Dorfs auf die östliche Seite der Mauer ins palästinensische Kerngebiet und dann durch ein Tor in der Mauer wieder auf die andere Seite zurück – in die Saumzone von Arab ar-Ramadin. Das Tor aber ist nur am Morgen anderthalb Stunden, am Nachmittag eine Stunde und am Abend noch mal eine halbe Stunde offen. Wenn sie den Torschluss um 17.30 Uhr verpasst, muss sie einen vierzig Kilometer langen Umweg über den Checkpoint bei Kalkilja nehmen, um nach Hause zu kommen. Die Kinder von Arab ar-Ramadin gehen nur die ersten fünf Jahre im Dorf zur Schule. Danach müssen sie durchs Tor in der Mauer nach Habla in die Mittelschule und für jede weitere Ausbildung nach Kalkilja.

Zwei Rechtssysteme

Da Arab ar-Ramadin ein offiziell nicht anerkanntes Dorf ist, gibt es auch keine staatlichen Dienstleistungen: keine Müllabfuhr, keine Kanalisation und vor allem keine Gesundheitsstation. Immerhin fährt einmal pro Woche die mobile Klinik einer palästinensischen Hilfsorganisation ins Dorf. Für diese arbeitet Suhad Haschem, eine resolute Mittfünfzigerin, die in Kalkilja wohnt. Sie ist im einzigen Sammeltaxi ins Dorf gekommen, das berechtigt ist, über den Checkpoint in die Saumzone zu fahren. Auch sie muss ihren Passierschein alle drei Monate erneuern.

«Hier schafft nicht die Armut Probleme, sondern die Gesetze bewirken die Armut», sagt Suhad Haschem. Die Leute im Dorf dürfen keine Aussentoiletten, keine Unterstände für die Tiere, keine Wasserleitungen bauen. Immer droht sofort der amtlich angeordnete Abriss. «Nicht einmal ihre Toten dürfen sie im Dorf beerdigen.»

Arbeit gibt es in Arab ar-Ramadin so gut wie keine. Die BeduinInnen, elf Grossfamilien, haben zwar zwei Dutzend Schafe, aber seit vergangenem Herbst dürfen sie mit ihren Tieren nicht mehr durchs Tor in der Mauer auf die Weiden bei Habla. «Über fünfzig Männer aus unserem Dorf, vor allem Jugendliche, arbeiten bei den Israelis, die meisten in der nahen Siedlung Alfe Menasche», sagt der 31-jährige Amin Chalil. Die Siedlung liegt in derselben Saumzone wie Arab ar-Ramadin. Während die PalästinenserInnen aber der Militärjustiz der Besatzungsbehörde unterstehen, gilt für die SiedlerInnen israelisches Zivilrecht. Ihr Weg nach Tel Aviv ist frei. Checkpoints gibt es keine.

Physisch wird auch Chalil nicht an einer Fahrt nach Tel Aviv gehindert. Die Mauer trennt ihn vom Westjordanland, nicht aber von Israel. So ist auch er einst illegal über die Grüne Grenze gefahren, um in Tel Aviv Arbeit zu suchen. In der Grossstadt fand er Schwarzarbeit auf dem Bau. 7000 Schekel im Monat, umgerechnet 1900 Franken, hat man ihm versprochen. Doch schon nach einer Woche tauchten Polizisten auf und nahmen ihn fest. Mit einem Monat Gefängnis kam er noch glimpflich davon. Sein Bruder hat schon zweimal vier Monate gesessen.

Im Dienst für die BesatzerInnen

Ein zweites Mal will es Chalil nicht versuchen. «Ich habe eine Frau und ein zweijähriges Mädchen», sagt er, «ich kann sie doch nicht alleinlassen, und mit einem Monat komme ich das nächste Mal nicht mehr davon.» Seither arbeitet auch er in Alfe Menasche, bei den Israelis. Für 5000 Schekel (1400 Franken), aber legal. Etwa für sieben Monate im Jahr hat er Arbeit, meistens auf dem Bau. Ob ihm im Dorf jemand übel nimmt, dass er bei den Israelis arbeitet, bei BürgerInnen jenes Staates, der seine Grosseltern einst aus der Negevwüste vertrieben hat? «Ach was», Chalil lacht, «das ganze Dorf lebt doch von den Israelis. Sie behandeln uns korrekt. Und oft schaut auch einer von ihnen hier bei uns vorbei.»

Nach Arab ar-Ramadin führt ein schmaler unbefestigter Weg. Die Strasse nach Alfe Menasche, das knapp 10 000 EinwohnerInnen zählt, ist breit und asphaltiert. Am Eingang zur Siedlung sitzen zwei Männer mit umgehängter Maschinenpistole vor einer Schranke. Nach einem freundlichen Wortwechsel geben sie den Weg frei. Weiss gestrichene Häuser, saubere Strassen, gepflegte Gärten. Hier hat man einen wunderbaren Blick auf das Meer, das die Lehrerin Summer Ayub noch nie gesehen hat.