Zukunft der JesidInnen: «Der IS ist auch ein Netzwerk von Pädophilen»

Nr. 27 –

Wie jesidische AktivistInnen den IS-Sklavenmarkt im Irak und in Syrien infiltrieren – und warum auch europäische Staaten mit ihnen zusammenarbeiten sollten: Ein Gespräch mit David Cornut von Amnesty International.

In den Medien ist es wieder still geworden um die JesidInnen, eine religiöse Minderheit, die seit Jahrhunderten in den Sindscharbergen im Nordirak nahe der Grenze zu Syrien gelebt hat. Traurige Aufmerksamkeit erhielten die JesidInnen im August 2014, als Tausende Kämpfer der Dschihadorganisation Islamischer Staat (IS) in die Sindscharberge einfielen, schon am ersten Tag über 10 000 Menschen massakrierten und in den folgenden Monaten etwa 7000 Frauen und Kinder gefangen nahmen. Frauen und Mädchen wurden versklavt, zwangsverheiratet, vergewaltigt und gefoltert; mindestens 1600 Jungen wurden einer Gehirnwäsche unterzogen, um als Selbstmordattentäter eingesetzt zu werden. Alle anderen, rund eine halbe Million JesidInnen, flohen in die kurdischen Gebiete im Irak und in Syrien.

Der IS ist in seinem eigenen «Kalifat» militärisch praktisch am Ende, selbst in seinen Hochburgen im irakischen Mosul und in Rakka. Doch noch immer sind schätzungsweise 3000 JesidInnen in seiner Gewalt, grösstenteils in den syrischen Städten Rakka und Deir Essor. Im Zuge des militärischen Vormarschs können vermehrt Gefangene befreit werden – doch gleichzeitig lässt der IS nun viele von ihnen verschwinden – und er verkauft sie in andere Gegenden.

David Cornut, Kampagnenverantwortlicher bei der Schweizer Sektion der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, hat kürzlich im Nordirak zur aktuellen Lage der JesidInnen recherchiert.


WOZ: Herr Cornut, welche Begegnungen haben Sie am meisten bewegt?
David Cornut: Erschütternd waren die Schilderungen von Frauen und Mädchen, die von IS-Mitgliedern jahrelang gefoltert und vergewaltigt wurden. Auch Monate nach ihrer Befreiung können sich die meisten keine Zukunft vorstellen, viele haben Selbstmordgedanken. Aber es gab auch sehr hoffnungsvolle Begegnungen – jesidische Ingenieure, Psychologen oder Anwältinnen, die sich stark für ihre Volksgruppe einsetzen und auch allgemein für die Zukunft des Irak.

Aktivistinnen und Aktivisten haben es in letzter Zeit immer öfter geschafft, Jesidinnen aus der IS-Gefangenschaft zu befreien. Wie gehen sie vor?
Ich kann hier nicht in die Details gehen, weil das alles möglichst diskret ablaufen muss. Jedenfalls besteht ihre Strategie darin, die Kommunikationskanäle des IS zu infiltrieren und die Frauen und Kinder, die über Instant-Messaging-Dienste «gehandelt» werden, ausfindig zu machen. So kommt es jede Woche bestimmt zu ein bis zwei Befreiungen.

Dafür müssen sie auch viel Geld auftreiben …
Ja, sie müssen via Schmuggler teuer für die Befreiung bezahlen. Ich habe eine Familie in einem Dorf getroffen. Der Bruder musste für seine Schwester 21 000 US-Dollar auftreiben, dabei waren sie mausarm. In einem anderen Fall wurden Kinder eines Morgens aus der Schule verschleppt und versklavt, und die Familien müssen jetzt für ihre Tochter oder ihren Sohn einen Preis aushandeln. Es ist unvorstellbar, welche Qualen die Angehörigen durchmachen.

Was wäre die Alternative?
Es gibt keine Alternative. Die Jesiden können nicht darauf warten, dass etwa die Gefangenen, die sich in Rakka befinden, von den Koalitionstruppen befreit werden. Es ist ein Rennen gegen die Zeit. Mit jedem Tag steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Frauen und Kinder an einen anderen Ort gebracht oder getötet werden. Schon als der IS in Mosul auf dem Rückzug war, wurden viele Jesidinnen ermordet.

Durch die Infiltration der Kommunikation erfahren die Aktivisten auch vieles über den IS.
Klar. Ein Mann, der ein Netzwerk für die Befreiung von Gefangenen aufgebaut hat, hat mir Auszüge der IS-Kommunikation gezeigt, die übrigens mehrheitlich nicht auf Arabisch, sondern auf Englisch geführt wird, weil so viele Ausländer unter ihnen sind. Die Jesidinnen wurden für einen Kaufpreis zwischen 5800 und 50 000 US-Dollar angeboten. Über ein siebenjähriges Mädchen hiess es, dass es gut zuhören könne und den Koran kenne. Dazu gab es Fotos, auf denen das Mädchen wie eine Prostituierte geschminkt und zu obszönen Stellungen gezwungen war. Und das ist kein Einzelfall. Der IS ist eben nicht nur eine bewaffnete Dschihadistengruppe, sondern auch ein Netzwerk von Pädophilen.

Gibt es einen Informationsaustausch zwischen den Aktivisten und der Anti-IS-Koalition?
Leider noch viel zu wenig. Die Koalition könnte von den Aktivisten beispielsweise erfahren, wo sich Gefangene befinden. Amnesty International hat auch die Regierungen all der Länder, in die IS-Kämpfer zurückkehren, aufgefordert, solche Informationen zu nutzen – und zwar zur strafrechtlichen Verfolgung. Das ist jetzt besonders relevant, weil es mit dem Verlust des IS-Kalifats so viele Rückkehrer gibt wie nie zuvor. Doch sie werden auch in Europa meist lediglich als «Gefährder» behandelt – dabei haben sich viele schrecklichster Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht. Die jesidischen Aktivisten könnten dafür Beweise liefern.

Was könnte die Anti-IS-Koalition sonst noch für die Jesidinnen und Jesiden tun?
Zuerst einmal sollte sie diese nicht noch zusätzlich gefährden. Die Koalition setzt in Rakka, wie zuvor in Mosul, Sprengköpfe mit weissem Phosphor ein. Dieser Kampfstoff führt nicht nur zu grossen Verlusten bei feindlichen Truppen, sondern gefährdet in erheblichem Mass auch Zivilisten, da er sich bei Hautkontakt bis auf die Knochen durchfrisst. Solche Waffen sollten in Städten gar nicht eingesetzt werden.

Die meisten Jesidinnen und Jesiden leben nun in Flüchtlingslagern in der Nähe der kurdisch-irakischen Grossstadt Dohuk. Wie ist ihre Situation?
Es gibt über eine halbe Million Flüchtlinge in der Region. Viele Familien brauchen finanzielle Unterstützung, da sie sich durchs Freikaufen von Verwandten massiv verschuldet haben. Es gibt Tausende jesidische Frauen und Kinder, die schwer traumatisiert sind. Eine ganze Generation ist in Gefahr. Jungen wurden im Rahmen einer Gehirnwäsche mit Amphetaminen vollgepumpt, um sie zu Terroristen zu machen. Wenn sie befreit werden, gefährden sie oftmals auch ihre eigenen Familien. Praktisch die gesamte jesidische Gemeinschaft braucht psychologische Unterstützung. Aber für die 27 Flüchtlingslager bei Dohuk gibt es gerade einmal sechs Psychologinnen.

Geht es auch um ein kollektives Trauma?
Natürlich. Die Jesiden haben eine lange Geschichte von Verfolgung hinter sich. Ein Mann zeigte mir sein Dorf in der Nähe von Dohuk, das der frühere irakische Präsident Saddam Hussein systematisch bombardieren liess. 2006 wurden die Jesiden auch von al-Kaida im Irak gezielt angegriffen. Und dessen Nachfolgeorganisation, der IS, hat die Grausamkeit dann auf die Spitze getrieben. Ein Uno-Bericht hat letztes Jahr bestätigt, dass es sich im juristischen Sinn um einen Genozid handelt. Das heisst, es kann nachgewiesen werden, dass der IS die Jesiden als Volk willentlich und planmässig zu vernichten versucht.

Was tut die Schweiz?
Letztes Jahr haben wir die jesidische Journalistin und Aktivistin Nareen Shammo in die Schweiz eingeladen und Treffen mit dem Aussendepartement und mit Parlamentariern organisiert. Die Antwort auf die Frage, was die Schweiz für den Irak tut, war meist: humanitäre Hilfe.

Diese Antwort dürfte Sie nicht zufriedengestellt haben.
Kurzfristige materielle Hilfe ist das, was eigentlich alle europäischen Staaten leisten. Das ist wichtig, reicht aber in dieser Situation nicht. Die internationale Gemeinschaft braucht dringend eine Strategie für die Nachkriegszeit, und dazu gehören auch sozial und wirtschaftlich nachhaltige Projekte in der Region. Nur so können weitere Konflikte verhindert werden. Die Stabilisierung der Region ist im direkten Interesse der europäischen Staaten, inklusive der Schweiz.

David Cornut

Gibt es trotz der Geschichte des Genozids und der internationalen Vernachlässigung Hoffnung für die jesidische Gemeinschaft?
Das Trauma ist riesig, aber auch die Widerstandskraft der Jesiden. Tausende arbeiten jetzt in den Lagern für ihre Gemeinschaft. 15 000 jesidische Kinder sind seit dem Massaker von 2014 geboren worden. Unter Jugendlichen ist ein erstaunlicher Optimismus zu spüren. Und langsam auch wieder unter den Älteren. Ein jesidischer Anwalt sagte mir: «2014 dachte ich, wir sind am Ende. Aber jetzt sehe ich: Der Islamische Staat stirbt, und wir leben.»

David Cornut

Der 33-jährige Historiker David Cornut ist Kampagnenverantwortlicher bei der Schweizer Sektion der Menschenrechtsorganisation Amnesty International mit Sitz in Bern. Er hat letztes Jahr eine Kampagne für die Rechte der JesidInnen realisiert und war im Mai auf Recherchereise im Nordirak.

Amnesty International hatte 2014 die Massaker an den JesidInnen als erste internationale Organisation dokumentiert und ans Licht gebracht.