G20-Gipfel: Das Festival der Exekutivgewalt

Nr. 28 –

Die Kritik an den Ausschreitungen greift zu kurz: Am Gipfel in Hamburg wie an der Niederschlagung der Proteste bestimmte die Macht über das Recht.

  • Bilder vom G20-Gipfel in Hamburg.

Die Eskalation beginnt auf einer lauschigen Halbinsel. Am späten Sonntagabend und nur wenige Tage bevor sich die StaatschefInnen der G20 in Hamburg einfinden, stürmen Einsatzkräfte das Protestcamp auf einer Wiese in Entenwerder. Sie reissen Zelte ab, versprühen Reizgas, mehrere Personen werden verletzt. Zuvor hatte ein Gericht das Übernachten im Camp erlaubt, doch der Beschluss der Judikative kümmert die Polizei an diesem Abend wenig. Sie ist angerückt, um Tatsachen zu schaffen, aus denen im Anschluss Normen werden. Die Begründung ist fadenscheinig: Einmal geht es um die Erhaltung einer Grünfläche, dann wieder darum, dass «Linksradikale» das Camp als Rückzugsort nutzen könnten. Eine Beschwerde der Protestierenden wird im Eilverfahren abgewiesen, die harte Linie der Polizei im Nachhinein legitimiert. Später wird von einem Putsch der Polizei gegen die Justiz die Rede sein.

In der Räumungsaktion bestätigt sich, wer in den Tagen vor und während des G20-Gipfels das Sagen hat: die Exekutive der Stadt und die Einsatzleitung der Polizei, die sich über Grundrechte hinwegsetzt, Gerichte und die Pressefreiheit missachtet.

In seinem Text «Zur Kritik der Gewalt» beschreibt der Kulturtheoretiker Walter Benjamin auch die polizeiliche Gewalt. Seine Analyse aus dem Jahr 1921 kann helfen, die Tage des Zorns in der Hansestadt nachzuvollziehen. Die polizeiliche Gewalt sei als Demonstration der Herrschaft «rechtserhaltend». Im Gegensatz dazu stehe die «rechtsetzende Gewalt», die für ein gerechtes Ziel kämpfe. Benjamin schreibt: «Das ‹Recht› der Polizei bezeichnet den Punkt, an dem sich der Staat nicht mehr durch die Rechtsordnung garantieren kann. Daher greift ‹der Sicherheit wegen› die Polizei in zahllosen Fällen ein, wo keine klare Rechtslage vorliegt.»

Ein Klub ohne Legitimation

Die vergangene Woche war ein Chaos mit Ansage, von Polizei und Politik in Kauf genommen an dem Tag, an dem die Entscheidung fiel, den umstrittenen Gipfel nach Hamburg zu holen. Mehr als 20 000 PolizistInnen – das gesamte in Deutschland verfügbare Aufgebot – werden nach Hamburg beordert, um das Treffen der Mächtigen zu beschützen: VertreterInnen einer harten neoliberalen Politik wie Theresa May oder Angela Merkel, Autokraten wie Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan. Wasserwerfer und Räumpanzer stehen bereit, Pferdestaffeln und Helikopter.

Ein monströseres Sicherheitsdispositiv kann man sich schwerlich vorstellen. An den beiden Gipfeltagen wird die ganze Stadt zum Sperrbezirk: Eine Demoverbotszone wird für die Gegnerinnen errichtet, für die Anwohner gibt es häufig kein Durchkommen. Jeder Widerstand soll im Keim erstickt werden, so die Linie. Der Kritik an einem Meeting mit zweifelhafter Legitimation wird die Legitimität entzogen.

Die Struktur der Exekutivgewalt offenbart sich auch im Gipfel der G20 selbst. Der selbsternannte Klub entstand zu Zeiten der Finanzkrise, war von Anfang an ohne internationale Legitimation, ohne völkerrechtlich verbindliches Mandat, mit unklaren Aufgaben. Dies zeigt allein schon die Zusammensetzung: Südafrika ist dabei, vertritt aber nicht den afrikanischen Kontinent, die Europäische Union hingegen ist als Institution vertreten, während mehrere Mitgliedsländer selbst anwesend sind. Wer dazugehören darf, ist nicht festgelegt, gegenüber den ausgeschlossenen Staaten besteht keine Rechenschaftspflicht.

Das hat den Effekt, dass über einen «Marshallplan mit Afrika» verhandelt wird, ausser Südafrika aber kein afrikanisches Land mit am Tisch sitzt. Oder wenn Beschlüsse zur Terrorbekämpfung und -finanzierung gefällt werden und als einziges Land aus dem Nahen Osten ausgerechnet Saudi-Arabien dabei ist, selbst Financier von Terrorgruppen. Indem sie Themen verhandeln, die in der Kompetenz anderer Organisationen wie der Weltbank oder der Uno liegen, unterminieren die G20 auch deren Legitimation.

Riots mit Ansage

Am Dienstagabend löst die Polizei ein Strassenfest auf St. Pauli mit Wasserwerfern auf. Ihre brandneuen Geräte präsentiert sie in den folgenden Tagen in einer glänzenden Parade: Überall, wo sich Widerstand regt, kommen die Wasserwerfer zum Einsatz. So auch am Donnerstag, als sie einem Demonstrationszug den Weg versperren. Die Hafenstrasse, auf der sich an diesem Abend die antikapitalistische «Welcome to Hell»-Kundgebung formiert, wird von Anfang an zur Falle. Die Polizei stellt sich auf beiden Seiten auf, dahinter Häuser und eine Mauer. Ausgerechnet in dieser engen Häuserschlucht stürmt die Polizei ohne Ansage mitten in die Menge hinein, um den sogenannten Schwarzen Block zu separieren. Zuvor hatten die meisten DemonstrantInnen wie verlangt ihre Vermummung abgelegt.

Spätestens jetzt ist klar, dass es nie die Absicht der Polizei war, den Zug passieren zu lassen. Panik bricht aus, Menschen werden an die Seitenmauern gedrückt, klettern über Geländer, flüchten sich auf Treppen, rennen in unterschiedliche Richtungen. Flaschen fliegen in Richtung der Polizei, diese prügelt wahllos auf Umstehende ein. Man kann von Glück reden, dass niemand ums Leben kommt. Die Polizei, die Gewalt verhindern und das Grundrecht auf Protest schützen soll, versagt bei beidem. Dennoch nutzt sie diesen Abend, um in den folgenden Tagen noch mehr Repression zu rechtfertigen. Manchen DemonstrantInnen wiederum dient dieser Abend als Steilvorlage, um Protest zu Krawall werden zu lassen.

Dies zeigt sich bereits am nächsten Morgen, als im Stadtteil Altona Autos brennen. Zugleich schneiden GipfelstürmerInnen strategisch wichtige Zufahrtsstrassen ab, blockieren Lieferketten und sabotieren damit den reibungslosen Gipfelverlauf. Am Abend folgen die Riots im Schanzenviertel: Sie produzieren wirkmächtige und auf beiden Seiten durchaus erwünschte Bilder, bei deren medialer Verbreitung im Newstickertakt nicht einmal Vergleiche mit Kriegsgebieten gescheut werden.

Stundenlang besetzen schwarz vermummte Randalierer, die Kiezjugend, AnwohnerInnen und Schaulustige das Quartier rund um das alternative Kulturzentrum Rote Flora. Viele nutzen den Abend auch zur Inszenierung ihrer Männlichkeit. Im Feuerschein brennender Barrikaden werden Pflastersteine aus dem Asphalt gerissen, Scheiben eingeworfen und Bankomaten zerschlagen, während ein paar Strassen weiter das Feiervolk in den Bars das Wochenende einläutet. Einen «Schwarzen Block», den Kommentatorinnen und Politiker ausgemacht haben wollen, gibt es nicht, stattdessen kleine Gruppen, die autonom agieren. Zu einer Demonstration ist hier nie aufgerufen worden.

Am Ende setzen sich die Mutigen und Wütenden, aber auch die Gewaltbereiten und Dämlichen durch, ein chaotischer Raum entsteht, der sich für eine kurze Zeit der Kontrollgesellschaft entzieht. Vielleicht wird er auch gerade deshalb so exzessiv genutzt. Im Handumdrehen werden an diesem Abend aus ZuschauerInnen Beteiligte. Das zeigt sich auch, als Autonome in einer Seitenstrasse die Scheiben eines Handyshops einwerfen. Während Jugendliche Mobiltelefone klauen, tragen vermummte Gestalten einen Fernseher auf die Strasse, werfen ihn in das Feuer einer brennenden Barrikade. Plünderei und Konsumlust vermischen sich mit Lust an der Zerstörung und Systemkritik.

Am selben Abend erklingt in der Elbphilharmonie Beethovens Neunte, dazu wird Champagner gereicht. «Freude, schöner Götterfunken», ein paar Kilometer weiter nervöser Lärm kreisender Helikopter. Besser könnte der Gegensatz nicht illustriert werden, die TV-Sender zeigen beide Szenen im Splitscreen. Die Polizei, die in den übrigen Tagen immer sofort zur Stelle ist, hält sich den ganzen Abend raus, löscht nicht einmal Barrikaden, die direkt vor ihren Wasserwerfern brennen. Erst gegen Mitternacht stürmt sie das Quartier. Die martialischen Bilder sind zu diesem Zeitpunkt längst um die Welt gegangen, jetzt werden sogar schwer bewaffnete Spezialeinheiten eingesetzt.

«Kapitalismus, raus aus den Köpfen»

Die Spirale der medialen Empörung nimmt Fahrt auf, nach Distanzierung vom «Linksfaschismus» wird gerufen, während die Polizeigewalt oft tabuisiert wird. Manche vergleichen die RandaliererInnen wahlweise mit Terroristen oder mit Neonazis, die Asylunterkünfte anzünden. Vielleicht ist die «sinnentleerte Gewalt» der KrawallmacherInnen, wie sie Andreas Blechschmidt, der Sprecher der Roten Flora, beschreibt, zumindest in Teilen eher als Reaktion zu begreifen auf die Gewalt eines absurden Sicherheitsapparats, die sinnentleerte Konsumwelt im kapitalistischen Verwertungskreislauf. «Kapitalismus, raus aus den Köpfen» ist nicht zufällig einer der meistgehörten Demosprüche in diesen Tagen. Das nachvollziehen zu wollen, heisst noch lange nicht, die Gewalt zu billigen. Doch in Hamburg wehrt sich die Exekutivgewalt des Status quo mit ganzer Kraft gegen dissidente BürgerInnen. Es ist bigott, sich über die Gewalt der einen Seite zu beklagen und gleichzeitig die strukturelle Gewalt der G20 zu verschweigen.

Neben den gewalttätigen Ausschreitungen war in Hamburg übrigens auch vielfältiger, kreativer Protest zu sehen: von einer Bootsdemo bis zu Blockaden am Hafen. Von einem Bildungsstreik bis zur ausgelassenen Tanzdemo. Zum Schluss der Woche ziehen 80 000 Menschen durch die Strassen. Die Polizei marschiert mehrfach mit Kleintrupps in die Schlusskundgebung vor dem St.-Pauli-Stadion, wird aber jedes Mal von Protestierenden umstellt, die ihre Arme in die Luft werfen. Sie lassen die Exekutivgewalt ins Leere laufen.

Warum dauerte die Fahrt im Sonderzug bloss so lange? Wie demonstriert man mit Schiffen vor der Elbphilharmonie? Was sagten die BewohnerInnen während der Ausschreitungen im Schanzenviertel? Durch welche Tür trat Angela Merkel? Und ist die G20 nun Weltregierung oder Papiertiger? Alle diese und noch mehr Fragen beantwortete der WOZ-Blog «Viele Grüsse aus Hamburg»: www.woz.ch/blog/g20.

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