Sklaverei: Die kubanische Plantage der Familie Escher

Nr. 28 –

Alfred Escher und das Blutgeld: der Historiker Hans Fässler über die vielfältigen Verbindungen der liberalen Schweiz zur Sklaverei und ihre Mühe, sich damit auseinanderzusetzen.

Juni 1966, Bahnhofplatz Zürich: Die Statue Alfred Eschers, des Gründers der Schweizerischen Kreditanstalt, wird um ein paar Meter verschoben. Foto: Kurt Salvisberg, ETH-Bibliothek Zürich

Jetzt ist es belegt: Die Familie des Zürcher Säulenheiligen Alfred Escher besass eine Sklavenplantage auf Kuba. Womöglich droht der Credit Suisse als Nachfolgerin der von Escher gegründeten Schweizerischen Kreditanstalt (SKA) neues Ungemach aus den USA: Wenn ein Unternehmen seine Beziehungen zur Sklavenwirtschaft nicht offenlegt, stellen nämlich verschiedene Grossstädte ihre Geschäftsbeziehungen mit diesem mittlerweile ein. Auch in Zürich hat ein Vorstoss von SP und AL im Gemeinderat Konsequenzen aus den neuen Erkenntnissen gefordert.

Die Enthüllungen des renommierten deutschen Historikers Michael Zeuske von der Universität Köln im «Magazin» des «Tages-Anzeiger» vom 8. Juli, dass zur Plantage Buen Retiro auf Kuba, die im Besitz der Familie Escher war, auch über achtzig SklavInnen gehörten, sind angesichts jüngster Forschungen zu Schweizer Verwicklungen in den atlantischen SklavInnenhandel keine Überraschung.

Vor fünfzehn Jahren sah es noch anders aus. Als 2003 der Zürcher Regierungsrat von Peider Filli (AL) zu den Sklavereibeziehungen des alten Zürich angefragt wurde, war die Kantonsregierung überzeugt: «Das in der alten Eidgenossenschaft eingebettete Zürcher Gesellschafts- und Staatsgebilde des 18. Jahrhunderts hat als Kollektiv zu keiner Zeit SklavInnenhaltung und SklavInnenhandel gerechtfertigt oder gar betrieben.» Der 2003 von Renate Schoch und Anja Recher (AL) verlangte und 2007 zuhanden des Präsidialdepartements abgelieferte Bericht von Konrad Kuhn und Béatrice Ziegler-Witschi, «Die Stadt Zürich und die Sklaverei: Verbindungen und Beziehungen», zeigte dann auf, dass man mit solchen Wertungen vorsichtig sein muss.

Historischer Bewusstseinswandel

Mittlerweile hat sich die Situation noch einmal stark verändert. Verschiedene HistorikerInnen haben den Beweis erbracht, dass sich die Schweiz bzw. Akteure aus dem Gebiet der heutigen Schweiz im 18. und 19. Jahrhundert an allen sklavereirelevanten Tätigkeiten beteiligt haben: Finanzierung von Dreieckshandelsexpeditionen, Investition in Kolonialgesellschaften, Reederei, Handel mit Gütern für den und aus dem Dreieckshandel, Verwaltung von Kolonialgebieten, Besitz und Verwaltung von Plantagen, Besitz von SklavInnen, Handel mit SklavInnen, militärische Kontrolle, Niederschlagung von Aufständen sowie ideologische Rechtfertigung von Sklaverei und anti-schwarzem Rassismus.

Die Sklavenplantage von Eschers Familie kann man natürlich unterschiedlich interpretieren. Man kann die Steuerliste aus dem Nationalarchiv in Havanna so sehen wie der nigerianische Historiker Joseph Inikori: als ein weiteres Mosaiksteinchen im grossen Bild des Black Atlantic, also der interkontinentalen Beziehung zwischen Schwarzafrika und Europa beziehungsweise Amerika. Oder man kann diesen Fund herunterspielen, wie das sein Namensvetter Joseph Jung, der Hofhistoriker des Finanz- und Industrieplatzes Zürich, versucht. Die moralische Trennlinie, die Jung zwischen dem «Halten von Sklaven und dem Handel mit Sklaven» definiert, wirkt wie eine letzte (schwache) ideologische Verteidigungsposition im Interesse seines früheren Arbeitgebers, der Credit Suisse.

Chicago ging voraus

Für die 1856 von Alfred Escher gegründete SKA, die heute unter dem Namen Credit Suisse tätige und tätliche Grossbank, könnte sich jedoch Zeuskes Archivfund noch als folgenschwer erweisen. Dazu muss man ausholen.

Im Jahr 2002 erliess die Stadt Chicago als erste US-amerikanische Körperschaft eine «Slavery Era Disclosure Ordinance», das heisst ein Gesetz, das es den Stadtbehörden untersagt, mit Firmen Geschäfte zu treiben, die ihre Beziehungen zur Sklaverei (Investitionen in die und Profite aus der Sklaverei) nicht offenlegen. Die erste Firma, die dieses Gesetz zu spüren bekam, war die Investmentbank Lehman Brothers. 2003 gab Lehman Brothers zu, dass die aus Bayern stammenden Firmengründer Mayer, Henry und Emanuel Lehman 1850 in Montgomery die Sklavin Martha gekauft hatten. Weil Lehman Brothers über das Ausmass ihrer Sklavereibeziehungen später falsche Angaben machte, wurde die Bank zur ersten Firma, der unter dem genannten Gesetz eine Strafe aufgebrummt wurde: Sie verlor ihre Stellung als Emissionsbank für eine Anleihe von 1,5 Milliarden US-Dollar für den Flughafen O’Hare in Chicago und erlitt damit einen Verlust von 500 000 US-Dollar.

Vielleicht wurde die UBS einst durch das Schicksal von Lehman Brothers alarmiert. Als 2006 ein Artikel in der «Chicago Sun-Times» über einen Schweizer berichtete, der in Rio de Janeiro zwei Sklaven (Antonio und Joaquin) besessen und 1856 die Deutsch-Schweizerische Kreditbank gegründet habe (deren Rechtsnachfolgerin die UBS sei), sorgte die Bank dafür, dass die Geschichte dieses Mannes aufgearbeitet wurde. Es handelte sich dabei um den St. Galler Kaufmann und Sklavenzüchtiger Jakob Laurenz Gsell (1815–1896): «… wenn ich nämlich meinem Schwarzen etwas befehle und der nicht sogleich gehorcht, husch, da zuckt etwas durch die Luft und ein guter Hieb sitzt auf dem Rücken des Negers.» Die UBS hatte wohl Angst, es könnte ihr wegen des reitpeitschenschwingenden Gsells der Auftrag für die Anleihenemission für denselben O’Hare-Flughafen entgehen, der schon Lehman Brothers beschäftigt hatte. Auch hatten es in der Zwischenzeit grosse Unternehmen wie JP Morgan, Wachovia und Bank of America mit der Sklavereigesetzgebung zu tun bekommen. Man kann nun immerhin mutmassen, dass die UBS nach der Enthüllung im Fall Escher durch das «Magazin» und den «Tages-Anzeiger» noch das eine oder andere Mal eine eidesstattliche Erklärung abgeben müssen wird. Ähnliche Gesetze wie die «Slavery Era Disclosure Ordinance» von Chicago existieren nämlich mittlerweile in den US-Bundesstaaten Kalifornien, Iowa und Illinois sowie in den Grossstädten Detroit, Los Angeles, Milwaukee, Oakland, Philadelphia, San Francisco und Cleveland.

Gedenktäfelchen?

Die Enthüllung der Herkunft des Vermögens von Alfred Escher («Mitbegründer der modernen Schweiz», «Eisenbahnbaron», «Wirtschaftspionier», «ETH-Gründer», «liberaler Geist») aus einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit dürfte nicht nur in Zürich noch weiter zu diskutieren geben. Bis Sonntagabend hatten schon weit über 200 LeserInnen einen Kommentar zum Artikel «Alfred Eschers Erbe gründet auf Sklavenarbeit» hinterlassen, interessanterweise mehrheitlich positiv zur Recherche. Was aber wären adäquate Forderungen nach Konsequenzen, Sichtbarmachung, weiterer Aufarbeitung und Wiedergutmachung für Zürich (und die Schweiz)? Hans Barth, mein Freiburger Mitstreiter in der Kampagne «Démonter Louis Agassiz» und bei der Ausstellung «Gletscherforscher, Rassist», hat anstelle eines «Gedenktäfelchens» am Belvoir, dem Familiensitz der Eschers, zwei Ideen in die Runde geworfen: «Vorschlag 1: Das Belvoir wird zu Geld gemacht, das dann an Kuba überwiesen wird. Auflage: Mit der Summe sollen die Nachkommen der Escher-Opfer unterstützt werden. Vorschlag 2: Das Belvoir wird nicht länger als Hotelfachschule missbraucht, sondern wird ein Forschungszentrum zur Schweizer Beteiligung am Sklaverei-Verbrechen.»

Erfreulicherweise geht auch das Postulat, das soeben von SP und AL im Zürcher Gemeinderat eingereicht worden ist, über die Dimension des Gedenkorts hinaus. Es verknüpft als eine Art Lackmustest die Enthüllung von Michael Zeuske mit der Forderung nach Aufarbeitung im Rahmen der Escher-Stiftung und des Escher-Keller-Jubiläumsjahrs 2019 (Alfred Escher und Gottfried Keller wurden beide 1819 geboren). Wie wäre es, zu diesem Jubiläum einen afrokubanischen Historiker und eine afrikanische Historikerin einzuladen? Möglicherweise Nachkommen der 17 194 versklavten Menschen, die 1819 nach Kuba importiert wurden, obwohl der Handel mit schwarzafrikanischen SklavInnen schon vier Jahre vorher durch den Wiener Kongress für illegal erklärt worden war? Wie wäre es mit einem Podium mit diesen zwei Gästen, mit Joseph Jung, der Rassismusforscherin Patricia Purtschert, CS-Chef Tidjane Thiam, der Migrationsforscherin Béatrice Ziegler-Witschi und dem Menschenrechtler Jean Ziegler?

Rätsel zum Schluss

Und wie wäre es, wenn auch zu jenem anderen UBS-Ahnen, einem Mitbegründer des Schweizer Bankvereins von 1909, geforscht würde, der in Brasilien in der Sklavereiwirtschaft tätig war und dem bis jetzt noch kein SklavInnenbesitz nachgewiesen werden konnte – obwohl der ziemlich wahrscheinlich ist? Der Name sei nicht verraten, damit es noch etwas zu rätseln gibt und damit nicht die gemäss Michael Zeuske schlecht bezahlten ArchivarInnen auf Kuba die Dokumente beiseiteschaffen, um sie dann dem Meistbietenden zu verkaufen – was man den armen Leuten eigentlich nicht übelnehmen kann.

Der Historiker Hans Fässler forscht seit zwanzig Jahren zur Verwicklung der Schweiz in den transatlantischen SklavInnenhandel. Er setzt sich etwa öffentlichkeitswirksam für die Umbenennung des nach einem wegweisenden Rassentheoretiker benannten Agassizhorns ein.

Nachtrag vom 1. Februar 2018 : Fässlers Brief nach Chicago

Im vergangenen Juli sorgte eine Recherche des «Magazins» für Aufsehen. Darin enthüllte der Historiker Michael Zeuske, dass die Familie des Zürcher «Wirtschaftsheiligen» Alfred Escher (1819–1882) eine Sklavenplantage auf Kuba besessen hatte. Wodurch der Credit Suisse als Nachfolgerin der von Escher gegründeten Schweizerischen Kreditanstalt Konsequenzen drohen könnten: Seit einigen Jahren stornieren verschiedene US-Grossstädte ihre Geschäftsbeziehungen mit Unternehmen, die ihre Beziehungen zur Sklavenwirtschaft nicht offenlegen. Als erste Stadt erliess Chicago 2002 eine solche «Slavery Era Disclosure Ordinance».

Nachdem 2006 die «Chicago Sun-Times» über den Sklavenbesitz in Rio de Janeiro von Laurenz Gsell (1815–1896) berichtet hatte, liess die UBS die Geschichte des St. Galler Kaufmanns, der eine Vorläuferbank der UBS gegründet hatte, aufarbeiten. Nun hat Chicago Gelegenheit, sich mit einem weiteren Fall zu befassen: Auslöser dazu ist ein Brief des St. Galler Historikers Hans Fässler an die Stadt. Darin kommt Fässler auf den Trogener Johann Ulrich Zellweger (1804–1871) zu sprechen, der ebenfalls eine Vorläuferin der UBS gegründet hatte und in den 1840er Jahren von der Zuckersklaverei und dem Sklavenhandel auf Kuba profitierte. Fässlers Aufforderung an die Stadt: zu überprüfen, ob die UBS in ihrer eidesstattlichen Erklärung von 2006 diesen Fall von Sklavereibeziehung verschwiegen habe.

Je nach Antwort, so Fässler, werde er sich an weitere US-Städte wenden, die Gesetze zur Offenlegung der Sklavereivergangenheit von Firmen haben. Geplant ist zudem eine Interpellation der St. Galler SP-Nationalrätin Claudia Friedl zu den «systemischen Risiken durch Schweizer Banken», die ihre Sklavereivergangenheit nicht offenlegen.

Adrian Riklin