Verdeckte Überwachungen: Von Sozialdetektiven, glücklichen Gemeinden und einer letzten Hose

Nr. 32 –

Jahrelang wurden SozialdetektivInnen als Wundermittel gegen Missbrauch gefeiert. Tatsächlich ist die Jagd auf Versicherte und SozialhilfeempfängerInnen vor allem ein Nullsummenspiel. Und nun urteilen auch Gerichte: Für Observationen fehlt die rechtliche Grundlage.

Für Philip Stolkin war es glasklar, dass er den Prozess gewinnen würde. «Erstes Semester Jus», sagt der Anwalt, der auf Sozialversicherungsrecht und Menschenrechte spezialisiert ist. «Eine verdeckte Observation ist immer ein Eingriff in die Privatsphäre. Dass es dafür eine gesetzliche Grundlage braucht, ist völlig klar. Mir ist schleierhaft, wie man jemandem mit einer Kamera nachstellen und meinen kann, dass das kein Problem sei.»

Am 18. Oktober 2016 fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein wegweisendes Urteil: Er entschied, dass die verdeckte Überwachung einer Schweizerin durch eine Unfallversicherung unrechtmässig gewesen sei. Ihre Privatsphäre sei dadurch in unzulässiger Weise verletzt worden.

Die Schweizerin Vukota-Bojic war 1995 auf einem Fussgängerstreifen von einem Motorrad angefahren worden und auf den Hinterkopf gefallen. Sie wurde in der Folge zu hundert Prozent arbeitsunfähig. Aber die private Versicherung wollte die Leistungen an Vukota-Bojic reduzieren und schliesslich ganz einstellen. Unter anderem aufgrund eines Überwachungsberichts einer Privatdetektei entschied die Versicherung später, die Frau sei nur zu zehn Prozent arbeitsunfähig. Das Bundesgericht stützte die Haltung der Versicherung. Erst das Gericht in Strassburg korrigierte über zwanzig Jahre nach dem Unfall: Jeder Eingriff in die Privatsphäre bedürfe einer präzisen rechtlichen Grundlage. Und die war in der Schweiz nicht gegeben.

Das Urteil verunsicherte Sozialdienste wie Versicherungen: Gilt es nur für den Einsatz von DetektivInnen im Privatversicherungsbereich? Oder verändert es auch die Bedingungen für die Invalidenversicherung (IV) und die Sozialhilfe?

Bis dahin setzten gemäss einer Umfrage der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) aus dem Jahr 2014 die Sozialdienste in der Hälfte aller Kantone regelmässig SozialinspektorInnen ein. Das Urteil des EGMR hat die Spielregeln grundlegend verändert, doch die Sozialbehörden reagierten nur zögerlich. Die Zürcher Kantonsregierung zum Beispiel liess sich vom Strassburger Entscheid nicht beeindrucken und erklärte, dass die kantonale Gesetzgebung ausreiche – entgegen den Empfehlungen des Datenschutzbeauftragten Bruno Baeriswyl.

Auch die Stadt Zürich zögerte mit einer Reaktion. Erst diesen Frühling entschied das Sozialdepartement, auf Observationen zu verzichten – zumindest solange keine gesetzliche Grundlage existiere. Der Zürcher Sozialvorsteher Raphael Golta, ein Sozialdemokrat, bezeichnete den Verzicht als «ärgerlich». Ende Juni gingen die ZürcherInnen dann in die Offensive und kündigten eine Gesetzesvorlage auf kommunaler Ebene an: «Überall dort, wo staatliche Organe Observationen anordnen, braucht es eine detaillierte gesetzliche Grundlage, die sich nach dem EGMR-Urteil richtet.»

«Eine Spitzelvorlage»

Vergangene Woche zog nun auch das Bundesgericht nach und passte seine bisherige Rechtsprechung an. Verdeckte Observationen seien auch im Bereich der IV nicht erlaubt. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) reagierte und untersagte allen IV-Stellen, verdeckt zu observieren. Spätestens jetzt ist endgültig klar: Ohne neues Gesetz gibt es keine neuen Überwachungen.

In seinem Büro in Zürich zuckt Peter Stelzer mit den Schultern. Dann sagt der Privatdetektiv: «Ohne Kontrolle gibt es Wildwuchs und Misstrauen. Der EGMR hat entschieden, dass es für eine Observation ein Gesetz braucht. Ich bin da emotionslos. Das ist nicht tragisch, es ist einfach so.» Andere, kleinere Detekteien, die nur für Versicherer arbeiteten, hätten wegen des Entscheids aus Strassburg schliessen oder Leute entlassen müssen, sagt Stelzer. Für ihn, der mehrheitlich andere Kunden hat, ist es weniger schmerzhaft. Und trotzdem: «Im Moment vergibt niemand Aufträge – weder die Gemeinden noch die Versicherer. Alles steht still.»

Bereits nach dem Urteil aus Strassburg muss dem BSV klar gewesen sein, dass die bisherige Praxis unzureichend war. Eilig gab es dieses Jahr eine Gesetzesänderung in die Vernehmlassung: Das Sozialversicherungsrecht soll um einen neuen Artikel 48a ergänzt werden, der den seit Jahren praktizierten Beschattungen nun doch einen legalen Rahmen geben soll. Das Gesetz dürfte nicht vor Frühjahr 2018 ins Parlament kommen, aber schon jetzt sorgen die Pläne für Unmut.

Zu reden gibt vor allem die Forderung der IV-Stellen-Konferenz, bei Überwachungen von Versicherten auch GPS-Tracker einsetzen zu dürfen – eine Praxis übrigens, die laut InsiderInnen schon heute angewandt wird. Doch auch ohne den Einsatz dieser Technologie ist die Vorlage problematisch: Versicherungen können künftig «eine versicherte Person verdeckt observieren und dabei Bildaufzeichnungen machen». Voraussetzung sind «konkrete Anhaltspunkte», dass Versicherungsleistungen unrechtmässig bezogen werden oder dass andere Abklärungen «aussichtslos wären oder unverhältnismässig erschwert würden».

Entstanden ist damit eine hoch problematische Vorlage, die eine Sondergesetzgebung schafft und private und öffentliche Versicherungen sowie die Sozialhilfe mit weitreichenden Kompetenzen ausstattet. Es ist eine Gesetzesänderung, die sprichwörtlich weiter geht, als die Polizei erlaubt.

Für die Demokratischen JuristInnen der Schweiz (DJS) wirft die Gesetzesänderung denn auch mehr Fragen auf, als sie beantwortet: Dürfen überwachte Personen nur fotografiert oder auch gefilmt werden? Sind Tonaufzeichnungen möglich? Dürfen PrivatdetektivInnen Versicherte aktiv mit Kameras verfolgen? Oder bloss statische Kameras einsetzen? Wie steht es um Aufnahmen mit Drohnen? Wo sind Überwachungen erlaubt? Im öffentlichen Raum? Darf von aussen in Wohnungen hineingefilmt werden? Wer überwacht? Und wie lange? Welche Gründe gelten als «konkrete Anhaltspunkte» für eine Überwachung? Wer ordnet sie an? Und wer überprüft die Überwachung? Wo werden die gesammelten Daten aufbewahrt? Wann und in welchem Fall werden Betroffene informiert?

David Husmann ist Rechtsanwalt und Kopräsident der Rechtsberatungsstelle für Unfallopfer und Patienten (UP). Er hält die Gesetzesänderung in dieser Form für so unnötig wie ungenügend, nennt sie «eine Spitzelvorlage». Kommt hinzu, dass die neuen Gesetzesparagrafen sehr schwammig formuliert sind: «Vieles ist Wischiwaschi, kaum konkret. Dabei geht es hier um fundamentale Rechte. Die Gesetzesänderung ist ein Schnellschuss. Man will damit einfach zeigen, dass man etwas tut. Dabei ist völlig unklar, was sich eigentlich überwachen lässt, was man mit einer Überwachung überhaupt feststellen kann.»

Husmann kennt Dutzende Fälle, in denen KlientInnen beschattet wurden. Er unterstellt den PrivatdetektivInnen Erfolgsdruck. «Ich kenne mehrere Beispiele, wo schlicht Falsches im Observationsbericht drinstand. So ein Auftrag kostet Geld. Die Detektive müssen die Auftraggeber zufriedenstellen und entsprechende Resultate liefern: Beweise, nicht Entlastungen.»

Eigentlich Aufgabe der Polizei

Privatdetektiv Peter Stelzer ist seit über zwanzig Jahren im Geschäft. Er beschafft Informationen, die andere nicht finden – auch dank verdeckter Observationen. Auf die Frage, ob sich ein Verdacht auch schon mal als falsch herausgestellt habe, kommt Stelzer ins Grübeln: «Ich kann mich spontan an keinen erinnern.» Druck von den Auftraggebern spüre er aber nicht, sagt er. Manchmal gelinge es bloss nicht, die gewünschten Beweise zu sammeln. «Man sieht es», sagt Stelzer, «man weiss es. Aber es fehlt der eindeutige Beweis. Wenn jemand Sozialhilfe bezieht und nebenher als Taxifahrer schwarzarbeitet oder mit Autos handelt, dann wird es schwierig.» Bei Betrugsfällen sei oft Bargeld im Spiel, da sei es schwierig, mit limitierten Mitteln etwas zu beweisen. In solchen Fällen komme es schon vor, dass ein Auftraggeber enttäuscht sei. «Ich will niemanden kriminalisieren», sagt Stelzer. «Es geht mir nicht darum, um jeden Preis etwas zu beweisen. Wenn jemand durch eine Observation entlastet wird, umso besser. Nur: Mir fällt kein solcher Fall ein.»

Seinen ersten Auftrag von einer Gemeinde erhielt die Privatdetektei Ryffel, wo Stelzer Geschäftsführer ist, vor bald zwanzig Jahren. 1998 vermutete eine Gemeinde am Zürichsee, dass eine Person Sozialhilfe beziehe, obwohl sie nicht darauf angewiesen sei. Stelzer observierte die Person. Irgendwann fuhr der Mann in einen benachbarten Kanton, Stelzer folgte ihm bis zu einer Fabrikhalle. Was er dort sah, entlockt ihm selbst heute noch ein Lächeln. «Der Mann arbeitete dort an einem Kleinflugzeug, das er besass. Damit hatten wir ihn überführt.»

Das war lange vor den Missbrauchsdebatten, die die SVP lostrat, lange vor den Urteilen des EGMR und des Bundesgerichts. Dennoch war Stelzer schon damals klar, dass dies politisch heikles Terrain war. Die Gemeinden verlangten Geheimhaltungserklärungen, die Privatdetektei bewarb ihre Dienste lange Zeit nicht aktiv. Aber Stelzers Erfolg sprach sich herum, er erhielt neue Aufträge. Anfangs waren das ein, zwei Fälle im Jahr, heute sind es zwölf bis fünfzehn. Stelzers Privatdetektei wird gerufen, wenn eine Gemeinde einen Sozialhilfebezüger observieren lassen will, wenn eine Versicherung Schwarzarbeit vermutet oder wenn ein Sozialdienst glaubt, eine Empfängerin von Ergänzungsleistungen verfüge über Vermögenswerte im Ausland. Neben Onlinerecherchen auf Social Media sowie Foto- und Filmaufnahmen von Versicherten gehört die sogenannte Auslandabklärung zu den häufigsten Arbeiten: Die DetektivInnen prüfen – meist mithilfe von Partnerbüros vor Ort – ob jemand Häuser, Autos oder Grundstücke im Ausland besitzt.

Lange nicht alle Ermittlungen führen allerdings zu Resultaten, auch wenn die persönliche Erfahrung des Detektivs eine andere ist. In der Stadt Zürich etwa liessen sich 2016 nur vierzig Prozent der Verdachtsfälle erhärten, also 31 von insgesamt 77 Ermittlungen. In 29 Fällen wurde schliesslich Strafanzeige erstattet.

Wenn es sich also bei diesen Fällen ohnehin meist um strafrechtlich relevante Tatbestände handelt, warum nicht gleich die Polizei rufen?

Genau das fordert der Anwalt Philip Stolkin: «Wenn es wirklich ein öffentliches Interesse an derartigen Überwachungen gibt, dann wäre es an der Polizei, dies zu tun. Aber es ist sicher nicht Sache von Hilfssheriffs und ausgelagerten Verwaltungsbeamten. Das Gewaltmonopol ist Aufgabe der Polizei.» Der Anwalt David Husmann teilt diese Ansicht. «Das Strafrecht kennt den Tatbestand des unrechtmässigen Bezugs von Sozialleistungen. Dieser Gesetzesartikel ist ausreichend. Wenn es einen konkreten Verdacht gibt, kann man die Sache der Polizei übergeben. Dann geht alles seinen rechtsstaatlichen Weg, und wir brauchen keine Sozialdetektive und auch keine Änderung des Sozialversicherungsrechts.» Für Stolkin fördert der Einsatz von SozialdetektivInnen bloss Halbwissen und Vorurteile, weil die DetektivInnen in der Regel nur wenig wüssten. «So schafft man totalitäre Zustände. Es ist ein Skandal und einer Demokratie unwürdig, dass in ihrer Existenz bedrohte Menschen zu allem hinzu auch noch ihre Privatsphäre hergeben müssen.»

Tatsächlich sagt auch Privatdetektiv Stelzer, dass er die Vorgeschichte eines Falls meist nur bruchstückhaft kenne. Sie sei für ihn nicht von besonderer Relevanz. Auch politisch und moralisch ist ihm die Sache ziemlich egal: «Es gibt einen mehrfach begründeten Verdacht. Wir observieren, klären ab, sammeln Beweise, schreiben einen Bericht. Fertig. Was die Behörden danach damit machen, liegt ausserhalb unseres Einflussbereichs.»

«Kein nachweisbarer Nutzen»

Jedes System hat seine Schwächen. Jedes Leben ein gewisses Mass an Inkonsistenz. Wie viel davon ist erlaubt? Wie viel will eine Gesellschaft in Kauf nehmen? Lässt sich diese Bereitschaft in Zahlen ausdrücken? In Millionen? Oder Milliarden?

Dem Schweizer Staat entgehen jedes Jahr rund zwanzig Milliarden Franken, weil Einkommen nicht deklariert und so Steuern hinterzogen werden. Das ist keine exakte Zahl, eine solche existiert nicht, sondern eine ziemlich plausible Schätzung der SP-Nationalrätin Margret Kiener Nellen. Andere Berechnungen kommen zwar auf wesentlich tiefere Summen, die NZZ zum Beispiel schätzt die hinterzogenen Steuern auf fünf bis acht Milliarden Franken. Sicher aber ist: Es geht um Milliardensummen.

In der Sozialhilfe geht es um Millionen. Oder genauer: um eine Million. Um diesen Betrag kreist in der Stadt Zürich, der grössten der Schweiz, seit Jahren die sogenannt «aufgedeckte Schadenssumme» in der Sozialhilfe. 966 000 Franken waren es 2016, 770 000 Franken im Vorjahr, 1 020 000 im Jahr 2014. (Lediglich im Jahr 2010 und in den drei Jahren zuvor betrug die Summe rund 2,5 Millionen Franken jährlich.)

Von den knapp 400 000 EinwohnerInnen der Stadt sind rund 10 000 auf Sozialleistungen angewiesen. Davon wiederum werden jährlich zwischen 70 und 90 zu sogenannten Ermittlungsfällen. In den allermeisten gibt das Sozialinspektorat eine verdeckte Observation in Auftrag. 70 von 10 000, bei denen der missbräuchliche Bezug mit Detektivmethoden im rechtsstaatlichen Graubereich aufgedeckt werden soll – das ist weniger als ein Prozent. Um diese paar Dutzend Fälle kreist seit Jahren eine irrsinnig anmutende Debatte, die zahllose Zeitungsartikel und politische Vorstösse auslöste.

Um jedes Jahr rund eine Million Franken Schadenssumme zu ermitteln, beschäftigt die Stadt Zürich seit 2007 ein eigens dafür eingerichtetes Sozialinspektorat mit acht Angestellten. Geleitet wird es von zwei ehemaligen Privatdetektiven. Die Kosten dafür: eine Million Franken. Eine Million für eine Million. Die Jagd auf SozialhilfebetrügerInnen ist vor allem eines: ein Nullsummenspiel.

Lohnt sich der Einsatz von SozialdetektivInnen also überhaupt? Eine abschliessende Antwort gibt es kaum, da die Sozialhilfe kommunal geregelt ist und sich die unterschiedlichen Gemeindepraktiken in der Schweiz nur schwer vergleichen lassen. Zudem ist es fallabhängig, wie viel Geld von der «aufgedeckten Schadenssumme» tatsächlich zurück zum Staat fliesst. Der «Beobachter» kam 2015 in einer Erhebung zum Ergebnis, dass sich Kosten für und aufgedeckte Schadenssummen von SozialinspektorInnen die Waage halten. Die Stadt Chur kam nach einer Prüfung der Wirksamkeit der Sozialinspektion zum Schluss, dass der Einsatz von DetektivInnen zu teuer sei: die Bekämpfung des Missbrauchs habe «keinen eindeutig nachweisbaren finanziellen Nutzen».

Auch der Kanton Bern erstattet Bericht über den Einsatz von SozialinspektorInnen. Sein Fazit im Berichtsjahr 2016 ist symptomatisch für die politische Stimmungslage und Einschätzung der sogenannten Missbrauchsbekämpfung in der Sozialhilfe. Zwar betrug die «bezifferbare Rückerstattungssumme» mit 836 000 Franken nur knapp mehr als die Gesamtkosten von 714 000 Franken, dennoch zieht das Sozialamt «ein positives Fazit»: Die Sozialinspektion sei «ein geeignetes Mittel», weil sie dem Missbrauch «sowohl aktiv als auch präventiv» entgegenwirke.

«Es ist doch so», sagt Oliver Wilden: «Wer am legalsten bescheisst, kommt am besten durch. Nach Finanzbetrügern und Steuerhinterziehern kräht kein Hahn, aber wer Sozialleistungen bezieht, wird wesentlich umfangreicher kontrolliert und sanktioniert.»

Von der IV in die Sozialhilfe

Dass ausgerechnet Oliver Wilden das sagt, ist erstaunlich. Denn Wilden ist Geschäftsmann und verdient sein Geld unter anderem damit, Missbrauch in der Sozialhilfe und bei den Ergänzungsleistungen aufzudecken. Wilden würde sich selber aber nicht so beschreiben. Er sagt: «Das Thema Missbrauch macht höchstens zehn Prozent meiner Arbeit aus.» Er sieht sich denn auch eher als Aussenstelle von Sozialdiensten, wo die Zeit fehlt oder die Erfahrung, rauszugehen und Leute zu treffen. Das Geschäftsmodell seiner Firma SOWatch ist einfach: Er unterhält Verträge mit Gemeinden und Versicherung und klärt in deren Namen die Verhältnisse von Versicherten oder SozialhilfempfängerInnen ab. «Oft ist dafür ein Hausbesuch die beste Methode: Man erfährt in kurzer Zeit viel über Klienten und ihr Umfeld.»

Hausbesuche – das klingt nach Überwachung und aufgezwungener Kontrolle. Wilden aber sagt, die meisten Hausbesuche fänden angemeldet statt, ausserdem empfänden es viele Leute als angenehmer, wenn der Sozialdienst direkt bei ihnen vorbeikomme, als wenn sie selber aufs Sozialamt gehen müssten. Die Abklärungen umfassen Wohnselbstständigkeit, Kinderschutz, Gesundheit, Haushaltszusammensetzung, Einrichtungsbedarf und natürlich Einkommen und Vermögen.

Wilden kennt solche Situationen aus seinem nächsten Umfeld. Er bewegte sich in schwer zugänglichen Milieus, war Türsteher, arbeitete lange im Asylbereich. Diese Lebenserfahrung, sagt er, helfe ihm bei seiner Arbeit. Er merke relativ schnell, wenn etwas nicht mit rechten Dingen zugehe. Häufig stellten sich die Verdachtsmomente von Sozialdiensten aber als falsch heraus.

Ein Sozialdienst meldete ihm einmal, dass ein Sozialhilfeempfänger immer in Arbeitshosen auf dem Amt erscheine. Verdacht: Schwarzarbeit. Also habe er den Mann zu Hause besucht. Als ihm nach mehrmaligem Klingeln endlich die Tür geöffnet wurde, war ihm die Sache schlagartig klar. Der Mann roch wie eine Whiskyflasche, er trug ein löchriges T-Shirt, und er steckte in Arbeitshosen. «Nach einem kurzen Wortwechsel war offensichtlich: Das waren seine einzigen Hosen. Von Schwarzarbeit überhaupt keine Spur.»

Solche Fälle, sagt Wilden, seien ihm lieber. «Ich will falsche Vorwürfe entkräften. Ich will eine verhältnismässige Kontrolle. Und ich will Sozialdienste bei ihrer Arbeit entlasten.» Und die Observation? «Sie ist das letzte Mittel.»

Auch wenn Wilden das nicht betont, es ist klar, dass er nicht nur wegen seiner Erfahrung und seines Gespürs für schwierige Situationen engagiert wird. Die Gemeinden wollen Geld sparen. Wilden muss also effizienter und schneller arbeiten als seine Auftraggeber. «Wenn die Ersparnisse grösser sind als die Kosten, sind die Gemeinden glücklich.»

Mit zunehmender Sorge beobachtet er die Entwicklung, dass häufiger IV-RentnerInnen in die Sozialhilfe abgeschoben würden, «ein unwürdiges Schwarz-Peter-Spiel». Depressiven werde beispielsweise systematisch eine IV-Rente verweigert. Diese Menschen landeten dann in der Sozialhilfe. «Die Leute werden von Tür zu Tür geschickt, von der einen Kasse in die nächste geschoben. Das ist sinnlos und demütigend.»

Eine Entwicklung, die auch AnwältInnen beobachten. David Husmann sagt, es gebe seit einigen Jahren eine wachsende Entsolidarisierung, eine massive Misstrauenskultur, die von Teilen der SVP geschürt werde. Dies zeige sich insbesondere an der Invalidenversicherung. «Eigentlich ist die IV eine Volksversicherung. Alle zahlen, alle haben Anspruch darauf. Aber es ist schwieriger geworden, diese Versicherungsleistungen zu bekommen, wenn man sie benötigt. Stattdessen werden die Leute in die Sozialhilfe gedrängt.»

Nach dem Bundesgerichtsentscheid von letzter Woche betonte die IV, dass dank der Überwachungen sechzig Millionen Franken im Jahr eingespart würden. Das ist höchstens auf den ersten Blick ein Argument für die massive Einschränkung der Grundrechte. Denn: Was passiert mit jenen Versicherten, die aus der IV ausgeschlossen werden? Für Anwalt Philip Stolkin ist die Antwort klar: «Ein Grossteil landet in der Sozialhilfe.»

Die Missbrauchsdebatten, die «mit intransparenten Zahlenschiebereien» geführt werden, hält er denn auch vor allem für ein Ablenkungsmanöver: Man zeigt auf den kleinen Skandal, um den grossen zu vertuschen. «Die IV ist wie ein Schneeballsystem: Alle zahlen, zahlen, zahlen. Aber kaum jemand wird je einen Franken davon sehen.»

Stolkin, der bereits letztes Jahr vor dem EGMR recht bekam, kämpft bereits wieder für den nächsten Klienten. Der Fall dreht sich um einen Mann, der – verfolgt, verhaftet und gefoltert – in den achtziger Jahren als Flüchtling aus dem Iran über die Türkei in die Schweiz gekommen war. Und hier nach einem Herzinfarkt und Arbeitsunfähigkeit wieder verfolgt wurde – bis er retraumatisiert war: von Detektiven der Invalidenversicherung.