Pop: Er ist eine Kiste

Nr. 33 –

Wer kann ich sein? Das fragt der venezolanische Soundtüftler Arca in jedem seiner Songs. Diese verstören und verführen gleichzeitig.

Im Kontakt mit digitalen Wesen: Arca bei einem seiner seltenen Auftritte, Barcelona 2015. Foto: Matthias Oesterle, Zuma / Alamy

Auf dem ersten Track wirkt er wie Rotkäppchen: Verträumt summend geht er durch den Wald. Wie im Märchen wartet hinter dem nächsten Baum der Wolf. Bloss dass in Arcas Märchenwald der Wolf in uns selbst steckt. Bald schon bauen sich düstere Synthiewände auf. Im Ungewissen fiept und rumort es. Genau dorthin will er uns mitnehmen: ins Dickicht seines Maskenspiels.

Das Summen der Kopfstimme gehört dem venezolanischen Künstler, DJ und Produzenten Alejandro Ghersi alias Arca. Er begann seine Karriere als Schlafzimmer-Soundtüftler vor dem fahlen Licht des Laptops. Schon mit vierzehn produzierte er als Nuuro Synthpoptracks, die man noch auf Youtube findet. Er experimentierte weiter mit Hip-Hop, R ’n’ B und elektronischen Sounds. Mit 24 Jahren und noch vor der Veröffentlichung seines Debütalbums wurde er von Kanye West zur Mitwirkung an dessen Album «Yeezus» gerufen.

Wild und provokativ

Arca möchte provozieren und überfordern. Schon seine erste EP zeugt davon: Sie handelt vom Gefühl, einen Penis in sich aufzunehmen. «Das ist wohl das wildeste, womit man die Hip-Hop-Community konfrontieren kann», erklärte Arca dem «Guardian». «Ich möchte nicht, dass die Leute nach dem ersten Hören meiner Songs sagen: ‹Oh, ich liebe das!› Ich will, dass sie sie wieder und wieder hören. Bis sie sich beim zehnten Mal selbst darin erkennen.»

Alejandro Ghersi wuchs als Sohn eines Investmentbankers in einer Gated Community im venezolanischen Caracas auf. Das konservative Umfeld prägte seine Kindheit genauso wie sein Hadern damit, dass er sich von Männern angezogen fühlte: «Ich hoffte, dass das noch verschwinden würde. Aber niemals wollte ich die Gefühle von Weiblichkeit, Weichheit und Fragilität verlieren, die ich spürte. Ich behielt sie zwar für mich, aber sie gehörten zu mir.» Seitdem ist die Musik das Ventil für seine Identitätssuche. Sein Debüt «Xen« erschien 2014, bereits 2015 folgte «Mutant». Die Tracks wirkten wie lose miteinander verbundene musikalische Ereignisse. Alles strebte auseinander.

Weich und fragil

Arcas Musik lässt sich nicht ohne die Bildwelten denken, die er mit Künstler Jesse Kanda entwickelt: Die meisten seiner verstörenden Videos bevölkern (post)geschlechtliche Digitalwesen. Auf den neuen Videos inszeniert sich Arca erstmals selbst. Er kriecht in «Desafío» in einer schwarzledernen Zwangsjacke durch einen Wald voller schwuler Sexsuchender oder gibt in «Anoche» geschundenen TänzerInnen Gutenachtküsse. Arca sucht weiterhin nach den Möglichkeiten der eigenen Identität. Ist das selbstbezogen oder doch gesellschaftskritisch? Während die Wirtschaftsordnung in die letzten unserer Seinsbereiche vordringt, kann die Frage nach den Grenzen der möglichen Existenz auch eine Auflehnung bedeuten.

Auf dem neuen Album hat Arca die alte Härte teilweise abgelegt: Während er auf «Sin Rumbo» wie ein gregorianischer Mönch singt, denkt man in «Coraje» an die Vergangenheit als Schlafzimmer-Synthpoptüftler. Trotz der Bombensirenen ist «Desafío» so etwas wie ein melancholischer Tanztrack. Auf dem wohl nicht ohne Grund schlicht mit «Arca» betitelten Album lässt er seine Weichheit durchscheinen.

Der Künstlername ist auch das altspanische Wort für eine zeremonielle Kiste. Arca selbst ist dieser Behälter, den er immer wieder anders ausfüllen kann. Ganz entsprechend der Aufforderung, dass man ihn nicht einmal, sondern mehrmals hören soll. Wer das tut, entdeckt immer wieder eine neue Seite seiner Persönlichkeit.

Arca. Regie: Arca. XL Recordings. 2017