Seenotrettung: Eskalation auf hoher See

Nr. 33 –

Mehrere private Seenotretter ziehen sich vorerst aus dem Mittelmeer zurück. Hinter der Kriminalisierung der NGOs steht ein Kurswechsel in der italienischen Flüchtlingspolitik.

12 000 Menschen hat Sea-Eye laut eigenen Angaben bislang vor dem Ertrinken gerettet. Nun muss die deutsche Seenotrettungs-NGO ihren Einsatz vorerst abbrechen – neben Ärzte ohne Grenzen und Save the Children zieht auch sie sich aus dem Mittelmeer zurück. Die anderen sechs Organisationen werden vermutlich folgen. Die libysche Küstenwache – ausgerüstet und ausgebildet von der EU – hatte Anfang August Warnschüsse auf ein Schiff der spanischen NGO Proactiva abgegeben, später eine eigene Search-and-Rescue-Zone ausserhalb der libyschen Hoheitsgewässer ausgerufen und die Seenotretter davor gewarnt, den Bereich weiterhin anzufahren. Unter diesen Umständen sei die Sicherheit der Besatzung nicht mehr garantiert, begründen die NGOs ihren Rückzug und liegen mit ihrer Einschätzung nicht falsch. Am Dienstagabend wurde das zweite Proactiva-Schiff Golfo Azzurro von der libyschen Küstenwache abgefangen, während zwei Stunden massiv bedroht und aus der neu definierten Rettungszone verjagt.

Der Entscheid der NGOs ist die Folge einer monatelangen Kriminalisierung privater Seenotretter, die bisher rund vierzig Prozent aller Einsätze vor der libyschen Küste bestritten. Und er ist das Resultat einer breit angelegten Hetzkampagne in den Medien.

Im Februar bezeichnete Frontex-Chef Fabrice Leggeri die Präsenz der NGOs als «Pull-Faktor», der Flüchtlinge überhaupt erst dazu verleiten würde, in See zu stechen. Ähnlich klang es im Frühling beim Staatsanwalt von Catania auf Sizilien. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière (CDU) behauptete kürzlich, die NGOs würden in libysche Gewässer vordringen und mit den Schleppern an Land per Lichtzeichen kommunizieren. Und auch die rechtsextreme Identitäre Bewegung verbreitet schon länger Gerüchte von einer Zusammenarbeit zwischen Rettungs-NGOs und Schleppern und schickte zuletzt ein Schiff los, das Geflüchtete nach Libyen zurückschaffen sollte. Die Mission der «C-Star» verlief peinlich: Als die Crew selbst in Seenot geriet, wurde ihr die «Sea-Eye» zu Hilfe geschickt, deren Beistand die Identitären allerdings ablehnten.

Für die Vorwürfe einer Kooperation zwischen Schleppern und NGOs gab es bislang keine Beweise. Im Mai hatte ein Admiral der italienischen Küstenwache noch zu Protokoll gegeben, alle Einsätze würden von der Seenotleitstelle MRCC in Rom koordiniert, kein Schiff sei ohne Absprache in libysche Gewässer eingedrungen. Eine Recherche der «Zeit», die Positionsdaten von NGO-Schiffen über mehrere Wochen auswertete, bestätigte diese Einschätzung. Sie ergab, dass sich die privaten Initiativen stets an die Regeln gehalten hatten.

Fragwürdiger Verhaltenskodex

Als das italienische Innenministerium den NGOs zuletzt einen sechsseitigen Verhaltenskodex vorlegte, eskalierte die Situation. Mehrere Organisationen weigerten sich, ihre Unterschrift unter das Dokument zu setzen. Es sieht etwa bewaffnete PolizistInnen auf den Schiffen vor, was Institutionen wie Ärzte ohne Grenzen in all ihren Einsatzgebieten aus Prinzip ablehnen. Ruben Neugebauer von Sea-Watch sieht die Weisung im Widerspruch mit den humanitären Grundsätzen der NGOs. «Wenn diese in Afghanistan oder im Südsudan eingehalten werden können, sollte dies in Italien doch erst recht möglich sein», glaubt er.

Der Kodex verlangt weiter, dass die RetterInnen die Flüchtlinge selbst zum nächsten Hafen fahren müssen und sie nicht – wie bisher – an andere Schiffe übergeben dürfen. Doch das würde die NGOs viel Zeit, Geld und Ressourcen kosten, die dann wiederum bei den eigentlichen Rettungseinsätzen fehlten. Wer den Kodex nicht unterschreibt, darf keine italienischen Häfen mehr anfahren. VölkerrechtlerInnen halten diese Weisungen für einen Verstoss gegen das Seerecht, ein kürzlich veröffentlichtes Gutachten des Deutschen Bundestags legt die gleiche Interpretation nahe. «Der Verhaltenskodex hat völkerrechtlich keine rechtsverbindliche Wirkung», heisst es dort.

Alle Einsätze der NGOs stützen sich auf die Seerechtskonvention der Uno. Nach ihr müssen Menschen, die sich in Seenot befinden, so schnell wie möglich gerettet werden. Zwar ist völkerrechtlich nicht geregelt, wann Seenot vorliegt. Das Gutachten des Deutschen Bundestags kommt jedoch zum Schluss, eine Notlage sei gegeben, «wenn die Annahme besteht, dass ein Schiff und die auf ihm befindlichen Personen ohne Hilfe von aussen nicht in Sicherheit gelangen können und auf See verloren gehen». Hierzu gehörten unter anderem eine Manövrierunfähigkeit des Schiffs oder eine «die Gesundheit der Passagiere oder die Sicherheit des Schiffes gefährdende Überbelegung». Da die Flüchtlingsboote schon beim Ablegen überbelegt sind, wäre Seenot nach dieser Definition schon von Anfang an gegeben. Diese Einschätzung gab auch ein italienischer Marineoffizier in einem Bericht der EU-Mission «Sophia» zu Protokoll, den die Enthüllungsplattform Wikileaks im Februar 2016 publizierte.

Die nächste Eskalationsstufe war erreicht, als die italienischen Behörden ein Schiff der deutschen Initiative Jugend Rettet beschlagnahmten. Seit etwas mehr als einer Woche liegt die «Iuventa» nun in Sizilien vor Anker. Die Crew habe sich bei insgesamt drei Rettungsaktionen der «Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt» schuldig gemacht, sagt die Staatsanwaltschaft. Diesmal soll es auch Beweise geben: Fotos, Screenshots und Gesprächsmitschnitte, die angebliche Kontakte zu Schleppern belegen.

Zu sehen ist auf einem der fraglichen Fotos zunächst nur eines jener seeuntauglichen Schlauchboote, mit denen sich die meisten Flüchtlinge derzeit von Libyen aus auf den Weg nach Italien machen, mit etwa 150 Personen an Bord. Links im Bild befindet sich ein Gummiboot von Jugend Rettet, rechts ein Schnellboot mit zwei Personen, die sich am Motor des Flüchtlingsboots zu schaffen machen. Das Boot sei von Schleppern begleitet worden und daher nicht in Seenot gewesen, sagen die italienischen Behörden – juristisch gesehen eine fragwürdige Behauptung.

Der angebliche Fotobeweis gegen Jugend Rettet zeigt wenig mehr als eine bei Rettungseinsätzen mittlerweile alltägliche Situation. Oft kommen «engine fishers» hinzu, meist einfache libysche Fischer, die während oder nach den Einsätzen die Aussenbordmotoren der Boote abmontieren, um sie an Land wieder zu verkaufen, wohl auch an die Schlepper. Inwiefern sie konkret mit den Schleppern zusammenarbeiten, ist unklar und lässt sich vor Ort auch kaum abklären, da die Rettung oberste Priorität hat. Oft drängt die Zeit, weil die Boote evakuiert werden müssen, bevor sie sinken oder kentern. Hinzu kommt, dass die Motorenhändler – im Gegensatz zur Besatzung der Rettungsschiffe – oft bewaffnet sind. Der Versuch, sie zu vertreiben, könnte also Crew und Flüchtlinge in Gefahr bringen.

Entsprechend schätzt Ingo Werth, der an hundert Einsätzen der NGO Sea-Watch beteiligt war, das Foto der italienischen Behörden ein. «Das sind alltägliche Bilder, die von Leuten fehlinterpretiert werden, die keine Ahnung von den Missionen haben», sagt er. Ruben Neugebauer von Sea-Watch geht noch weiter: «Die Vorwürfe gegen Jugend Rettet sind Teil einer grösseren Kriminalisierungskampagne», sagt er. Neugebauer glaubt, Jugend Rettet sei auch deshalb zur Zielscheibe geworden, weil sie als kleine Organisation nicht über die gleichen Ressourcen und den öffentlichen Rückhalt verfüge wie beispielsweise Ärzte ohne Grenzen. «Jugend Rettet ist das schwächste Glied in der Kette.»

Auch die Herkunft der Fotos wirft Fragen auf. Laut der Staatsanwaltschaft seien die Beweismittel an Bord der «Vos Hestia» aufgenommen worden, eines von der Organisation Save the Children gecharterten Schiffes. Die Zeitung «La Repubblica» berichtete über verdeckte Ermittlungen – eine Vorstellung, die für die Seenotretter unangenehm ist. Save the Children stellt auf Anfrage klar, dass sich die Medienberichte auf externes Sicherheitspersonal bezögen, das von der Verwaltungsgesellschaft der «Vos Hestia» angeheuert worden sei: «Dieses Personal ist nicht Teil des humanitären Teams von Save the Children.» Derweil hat das Wochenmagazin «Famiglia Cristiana» herausgefunden, dass es sich bei dem verdeckten Ermittler um den Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma mit Kontakten zu den Identitären gehandelt habe, der die Bilder an die Staatsanwaltschaft weitergegeben haben soll.

Ob die Beschlagnahmung der «Iuventa» mit der Weigerung von Jugend Rettet zusammenhängt, den Verhaltenskodex zu unterzeichnen, ist nicht bekannt. Klar ist hingegen, dass die italienische Regierung zuletzt einen scharfen Kurswechsel vollzogen hat. Italien hatte beschlossen, Militärschiffe in libyschen Gewässern kreuzen zu lassen sowie die libysche Küstenwache, die der Einheitsregierung des Landes untersteht, aktiv bei der Rückschaffung der Flüchtlinge zu unterstützen. Dass diese Regierung nun ihre Hoheitsgewässer ausdehnt, ist auch eine Konsequenz dieser Kooperation.

Unsolidarische EU

Seit der Abschaffung der italienischen Seenotrettungsmission «Mare Nostrum» im Herbst 2014 war von europäischer Seite mit immer neuen Mitteln versucht worden, die Flucht übers Meer zu unterbinden. Unter diesem Druck ist Italien nun eingeknickt: In Zusammenarbeit mit Libyen sind die Fluchtmöglichkeiten zumindest drastisch eingeschränkt worden. Dies legen auch die neusten Zahlen nahe: Im Juli registrierte das Innenministerium noch 11 461 Ankünfte, in der ersten Augusthälfte waren es nur noch 2163.

Dabei hatte sich das Land an der südlichen Aussengrenze positiv hervorgetan: Die Operation «Mare Nostrum» rettete Tausende vor dem Ertrinken, und auch die Unterbringung meisterte Italien im Vergleich zu den meisten anderen EU-Staaten lange Zeit recht gut. Die Wut auf die EU, die das Land mit den rund 97 000 Geflüchteten, die in diesem Jahr die Küsten erreicht haben, praktisch alleingelassen hat, wuchs derweil immer weiter. Von den knapp 35 000 Personen, die aus Italien in andere EU-Länder hätten umverteilt werden sollen, wurden Italien bisher lediglich knapp 8000 abgenommen.

Die jetzige Eskalation ist deshalb vor allem auch die Folge einer unsolidarischen europäischen Flüchtlingspolitik. In Italien wird zudem im nächsten Frühling gewählt, die populistische Fünf-Sterne-Bewegung erhält Zulauf, genauso wie die rechtsextreme Lega Nord. Auch der innenpolitische Druck hat die italienische Regierung wohl dazu bewogen, gegen die privaten Seenotretter vorzugehen.

Für die Flüchtlinge ist die Trendwende fatal: Praktisch alle Berichte über Libyen gehen übereinstimmend von menschenunwürdigen Bedingungen vor Ort aus. So hatten es vor kurzem auch EU-DiplomatInnen in einem vertraulichen Bericht konstatiert, aus dem der «Spiegel» vorletzte Woche zitierte. «Der Zustand bestätigt die Erwartungen – schlechte sanitäre Verhältnisse, vom Platz und von der Hygiene her ungeeignet, über tausend Flüchtlinge in Haft zu halten», heisst es in nüchterner Beamtensprache im Protokoll der Reise zu einem libyschen Flüchtlingslager. Schon vorher hatten deutsche Diplomaten von «KZ-ähnlichen Zuständen» gesprochen. In diese Hölle bringt die Küstenwache die geflüchteten Menschen nun zurück.

Die EU-Kommission hat angekündigt, ihre Militäroperation «Triton» auszuweiten und so den Rückzug der NGOs kompensieren zu wollen, falls von Italien eine entsprechende Anfrage kommt. Doch das Ziel der Mission ist in erster Linie die Bekämpfung von Schlepperei. Sie füllt also keineswegs die Lücke, die private Organisationen hinterlassen. Gültig bleibt nach der ganzen Eskalation die simple Gleichung: Weniger RetterInnen auf dem Mittelmeer bedeuten mehr Tote.

Noëmi Landolt war im Oktober 2016 während zwei Wochen als Journalistin mit an Bord des Rettungsschiffes Sea-Watch 2.
Ihre Erlebnisse hat sie in einem Logbuch niedergeschrieben, das auch in Buchform erhältlich ist.