Zadie Smith: Dem Chaos den klärenden Spiegel vorhalten

Nr. 33 –

Kaum jemand beschreibt die Fallen von Identitätssuche und Herkunft derart virtuos und frisch wie die britische Autorin Zadie Smith: in ihrem neuen Roman «Swing Time» und in einem aktuellen Essay.

Darf eine weisse Malerin sich schwarzen Schmerz aneignen und zu Kunst verarbeiten? Über diese Frage debattieren die Kunstwelt und ihre KritikerInnen nun schon den ganzen Sommer lang. Rund um ein Gemälde, das an der New Yorker Whitney-Biennale gezeigt wurde, entzündete sich ein Feuerwerk an Empörungen und Erklärungsversuchen. Das abstrahiert gemalte Bild zeigt eine malträtierte männliche Leiche in einem offenen Sarg: «Open Casket» soll Emmett Till darstellen, einen afroamerikanischen Jugendlichen, den 1955 zwei weisse Rassisten ermordet hatten.

Wer ist «schwarz genug»?

In einem offenen Brief wurde nicht nur das Abhängen, sondern gar die Zerstörung des Gemäldes gefordert. Die Begründung: Es sei nicht «akzeptabel», dass die weisse Malerin Dana Schutz «schwarzes Leid in Profit und Fun verwandle». Einmal abgesehen davon, dass das Bild weder zum Verkauf stand, noch der Spassverdacht zu erhärten war, blieb der Umgang mit Gemälde und Protest lange blockiert. «Die einen sagen: ‹Das darf man nicht zeigen.› Die anderen sagen: ‹Das darf man nicht sagen.› Fast niemand spricht darüber, wie das Bild gemacht ist», brachte der Kunstkritiker Kolja Reichert das Problem in der FAZ auf den Punkt.

Es brauchte die zeitweise in New York lebende britische Schriftstellerin Zadie Smith, um die Absurdität all dieser an die Hauptfarbe geknüpften Argumente mit einem einfachen persönlichen Gedankenspiel blosszulegen: Als Tochter einer jamaikanischen Mutter und eines weissen Vaters müsse sie sich automatisch die Frage stellen, schreibt sie in ihrem Essay für das Magazin «Harper’s», ob sie denn selber schwarz genug sei, um so ein Bild zu malen. Und weiter: «Sind meine Kinder», deren Vater weiss ist, «zu weiss, um sich mit schwarzem Leid auseinanderzusetzen? Wie schwarz ist schwarz genug?» Der hier zutage tretende «ethnische Essenzialismus» erinnere sie an die «Rassengesetze vor dem amerikanischen Bürgerkrieg».

Die Versuchung ist gross, auch Zadie Smiths neuen Roman autobiografisch zu interpretieren: Auch die weibliche Hauptfigur und Ich-Erzählerin von «Swing Time» hat einen weissen Vater und eine schwarze Mutter. Doch Romane durch biografische Schlüssellöcher zu lesen, bringt wenig. Gerade was die politischen Dimensionen von Identität betrifft, kann die Literatur dem lebensweltlichen Chaos oft einen klärenden Spiegel vorhalten – und dabei trotzdem komplex bleiben. Diese Vielschichtigkeit, gepaart mit stilistischer Eleganz und einem sicheren Gespür für handlungsgetriebenes Erzählen, sind Smiths Stärken, seit sie 2000 als 25-Jährige mit «Zähne zeigen» ihren ersten Weltbestseller landete.

Wie ein böser Geist

Zadie Smith ist eine Meisterin im Zeichnen fleischgewordener Lebensumstände. Sie schafft es stets, ihren Figuren und deren Biografien je genügend Raum und Berechtigung zu geben, diese aber am Ende niemals kitschig miteinander zu versöhnen. Zerbrochenes und Angeknackstes werden nicht mit grosser Geste geheilt. Antagonismen bleiben als unlösbar bestehen, allein der Umgang mit ihnen verändert sich.

In «Swing Time» thematisiert Smith dieses vielgestaltig wuchernde Durcheinander der Welten und Menschen, die einfach nicht richtig zusammenkommen können, ausgehend von zwei Mädchen, die «beide den identischen Braunton» haben. Sie wachsen als beste Freundinnen in einem Arbeiter- und Migrantinnenquartier im Nordwesten Londons auf. Ihre Beziehung beginnt spätestens in der Pubertät zu kriseln, endet mit mehreren kleineren Explosionen und sucht beide als Erwachsene wie ein böser Geist immer wieder heim. Allein schon, wie das Feuer und dann der folgenreiche Zerfall dieser turbulenten Freundschaft zwischen der angehenden Tänzerin Tracey und der späteren Celebrity-Assistentin und namenlosen Ich-Erzählerin geschildert werden, lohnt die Lektüre. Die Mädchen sind eigensinnig und widerspenstig, aber auch subtil gesteuert von TV-Seifenopern, Musikclips und Elternteilen, die mit ihrem Nachwuchs ganz Unterschiedliches vorhaben.

Trotz des Zerwürfnisses ähneln sie sich auch als Erwachsene. Beide fristen ein Leben als Schattenfiguren: Tracey hat die mütterlicherseits überbehütete Kindheit in arg unbehüteten Verhältnissen nicht gut überstanden, ihr tänzerisches Talent verkümmert in Nebenrollen auf zweitrangigen Bühnen. Die Ich-Erzählerin hingegen wird zum Schatten und zur unterforderten Assistentin eines weltberühmten, superreichen Popstars: Mit ihrer jahrelang perfektionierten Selbstsabotage scheint sie nicht zuletzt ihre krampfhaft ehrgeizige und prinzipienstrenge Mutter enttäuschen zu wollen, die sich selber zur bekannten Lokalpolitikerin hochgearbeitet hat.

So richtig sympathisch wird einem keine einzige der Figuren in diesem Roman. So richtig unsympathisch auch nicht. Ihre Beziehungen mit sich selbst und untereinander sind durchwoben von Stolz und Selbstzweifeln wie von diffus nagenden Hass- und Schuldgefühlen. Dazu kommen die mächtigen Verwerfungen durch Armut und politisches Versagen – und das naive Gefühl, plötzlich in einem anhaltend «neutralen Nichts» zu leben, wie Zadie Smith kürzlich in einem Interview das fatale Lebensgefühl der neunziger Jahre umschrieben hat. «Swing Time» führt klug vor, wie Identität selbstverständlich auch auf Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht beruht, sich aber niemals in einer dieser Kategorien erschöpft. Scheinbar mühelos und mit beträchtlichem Unterhaltungswert durchkreuzt Smiths Roman so allzu kategorische Theoriedebatten um Hautfarben, Klassen- oder Geschlechterunterschiede.

Eintritt in die Matrix

Sogar in den akut absturzgefährdeten Passagen des Romans, wenn der an Madonna oder Angelina Jolie erinnernde Superstar in Gambia «Gutes» in Gestalt einer Mädchenschule aufbauen will, findet Smith den richtigen Ton. Nicht zuletzt, weil sie dank genauer Recherchen vor Ort das afrikanische Dorf weder als undurchdringlich fremden noch als einfachen «anderen Schauplatz» beschreibt. Zwar heisst es einmal, die Reise ins Dorf sei wie der Eintritt in eine Matrix. Gleichzeitig weiss man nach den ersten paar Sätzen manchmal nicht, ob ein Kapitel nun in London, New York oder Gambia spielt. Oder wie es der nigerianisch-amerikanische Schriftsteller Teju Cole provokant zuspitzte: Auch die sogenannte Dritte Welt hat ein Recht auf Erste-Welt-Probleme.

Auch die DorfbewohnerInnen grübeln über der uralten Frage, ob sie nun einfach Freiheit suchen oder doch einem tieferen Sinn nachjagen wollen. Das kann mitunter zu Entscheidungen führen, die den Horizont der westlichen Gäste bei weitem übersteigen. Und sogar die harzigen Versuche des Stars und seiner Entourage, mit dem Bau der Mädchenschule gegen die herrschende Armut und Perspektivlosigkeit zu «helfen» – und nebenher gleich noch ein paar neue Tanzschritte abzugreifen –, werden in «Swing Time» nicht einfach pauschal denunziert. Es ist eben auf allen Seiten der Matrix etwas komplizierter.

Zadie Smith verleugnet oder verwischt dabei nie die real existierenden, oft unüberbrückbaren Unterschiede zwischen den Menschen. Ebenso wenig glaubt sie, dass Hautfarbe keine Rolle mehr spielt. Sie verweigert sich bloss einfachen Wir-gegen-die-anderen-Geschichten und -Ideologien, um diese Differenzen einzufangen. Oder wie sie in ihrem Essay abschliessend schreibt: «Die ultimative Fantasie ist es doch zu sagen, dass wir einander einfach aus dem Weg gehen können, dass sich ein sauberer Schnitt ziehen lässt zwischen Schwarz und Weiss, eine endgültige, erlösende Trennung zwischen uns und den anderen.  (…) Das wahre Leben ist viel chaotischer.»

Smith liest am 5. Oktober 2017 um 20 Uhr im Schauspielhaus Zürich.

Zadie Smith: Swing Time. Aus dem Englischen von Tanja Handels. Kiepenheuer und Witsch. Köln 2017. 640 Seiten. 33 Franken