«Land ganz nah»: Kein Fladenbrot in Wallisellen

Nr. 34 –

Ein aus den Fugen geratenes Zeitdokument: Benjamin von Wyl erzählt in seinem Heimatroman von einer Schweiz, in der sich der Graben zwischen Stadt und Land unüberwindbar auftut.

Am Ende herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände: In der Kuppel des ehemaligen Mystery Park in Interlaken werden sechs tote Eritreer und ein toter Koreaner gefunden, in Sion treibt der Bürgermob Geflüchtete im Fussballstadion zusammen, Aargauer vergewaltigen eine siebzehnjährige Syrerin – und die Post wird nicht mehr ausgetragen. Der «Blick am Abend» und «20 Minuten» sowie die meisten Lokalzeitungen werden eingestellt, es gibt noch drei Stunden Strom am Tag, und der namenlose Ich-Erzähler schreibt einen Essay: «Weshalb man im Krieg vor allem über sich selber nachdenken sollte.»

«Land ganz nah» heisst das erste Buch von Benjamin von Wyl, im Untertitel gibt es sich als «Heimatroman». Von Wyl arbeitet als Journalist für Onlineportale und Printzeitungen, darunter auch die WOZ, und journalistisch kommt denn auch sein erster Roman daher. Das Buch ist eine einzige lange Reportage aus einem Land, in dem sich der Graben zwischen Stadt und Land so gross auftut, dass es auseinanderfällt.

Scharfsinnig und schnörkellos

Erzählt wird die Geschichte abwechselnd von zwei Ich-ErzählerInnen. Da ist der dauerbekiffte Student, Mitte zwanzig, der von Basel nach Zürich pendelt, um dort seiner Arbeit als Onlinejournalist nachzugehen. Er mag Zürich nicht: «Zürich, das sind gut frisierte, trainierte Menschen, die etwas zu schnell reden und in der Schule ADHS diagnostiziert bekommen haben. Sie tragen meistens Sporttaschen mit sich rum, da sie alle noch wo hinmüssen, sie müssen dahin, wo sie müssen. Schwimmen gehen oder zum Yoga.»

Wenn von Wyl seinen namenlosen Erzähler scharfzüngig und scharfsinnig über seine Umgebung sinnieren lässt, ist er richtig gut. Sprachlich schnörkellos und knapp findet er präzise Bilder, um das Lebensgefühl eines Mittzwanzigers, dessen Leben zwischen Basel, Zürich und Facebook stattfindet, einzufangen.

Die zweite Erzählerstimme gehört Karola Burgherr. Sie ist eine junge Basler Kulturjournalistin, die im Kulturressort der «Basler Zeitung» arbeitet. Nach einer Begegnung am Tuntenball im Prachtspalast finden sich die beiden ProtagonistInnen auf Facebook, doch: «Wir schieben das Wiedersehen vernünftigerweise noch eine Weile raus und treffen uns dann neun Tage und 734 Facebook-Nachrichten später morgens um vier auf der Dreirosenbrücke.»

Im Unterschied zum namenlosen Ich-Erzähler ist Karola ehrgeizig und pflichtbewusst, sie schreibt pro Woche drei bis acht Storys, wohingegen er kaum eine schafft. Während nun die beiden dem gewöhnlichen Alltagstrott von Mittzwanzigern nachgehen – zusammen sein, sich trennen, kiffen, wieder zusammenfinden, mit Easyjet für ein Wochenende nach Amsterdam fliegen, Knausgard lesen, MDMA nehmen, am Sonntag mit der WG brunchen und zwischendurch arbeiten –, gerät die Welt um sie herum aus den Fugen und verändert schliesslich auch ihr Leben.

Bürgerwehr in der Agglo

Es beginnt in jener Woche, in der «dä George Clooney vo de Aupe» zur NZZ sagt, die Schweiz könne maximal hundert Asylbewerber aufnehmen. Da sind sie plötzlich da. Sie lassen sich im Zwischenboden des Zürcher Hauptbahnhofs nieder, bald schon sind über 400 dort. Und schliesslich tauchen sie auch in Wallisellen auf. Schon Endo Anaconda von Stiller Has sang einst bekanntlich: «Walliselle, Walliselle, was söll i nume in Walliselle?» Die eritreische Gruppe wollte Fladenbrot verkaufen. Doch ein «nichtauffälliger Polier um die fünfzig» schmeisst mit Benzin gefüllte Sirupflaschen auf die Gruppe und verletzt ein kleines Mädchen schwer. Gewalt nimmt überhand, das Land teilt sich immer mehr: Die Agglo wird von RassistInnen und rechter Bürgerwehr dominiert, in der Stadt formiert sich der Widerstand.

Eine Dystopie der Schweiz in naher Zukunft, in der bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen und die SVP die alleinige Macht übernommen hat – diese Geschichte war diesen Sommer in Bern als Musical von Matto Kämpf und Raphael Urweider zu sehen. Von Wyls Plot ist ähnlich, doch zum Glück ohne diese krasse Fixierung auf die SVP und mit etwas subtilerem Humor erzählt. Und während sich bei Kämpf und Urweider der Widerstand im Jura formiert, kommt er bei von Wyl aus Basel. Von Wyl kennt die politischen Verhältnisse in der Schweiz, er kennt deren AkteurInnen und ihre Spiele. Wie er diese beschreibt und ins Absurde zuspitzt, ist immer wieder witzig, manchmal allerdings auch etwas vorhersehbar und platt.

Seine detailtreuen lokalen Verortungen und Beschreibungen sowie das Schweizerdeutsch, das die ProtagonistInnen in ihren direkten Reden sprechen, lässt das Buch ziemlich provinziell wirken. Allerdings will der selbsternannte «Heimatroman» ja auch nichts anderes sein: Von Wyl löst sein Versprechen vom «Land ganz nah» getreu ein. Das Buch ist kein zeitloser Roman, sondern ein aus den Fugen geratenes Zeitdokument. Interessant wird sein, wie es sich in ein paar Jahren liest – je nachdem, in welche der Richtungen sich die Schweiz entwickeln wird, die im Buch vorgegeben sind: in die der Städte oder die der Agglomeration. Zu befürchten ist das Schlimmste. Denn wie sang schon Endo Anaconda vor Jahren? «Aber irgendwo töif, töif drinn i üs sy mer alli Walliseller.»

Buchvernissage: Mittwoch, 30. August 2017, 20 Uhr, Bundeshaus Wiedikon, Kalkbreitestrasse 33, Zürich.

Benjamin von Wyl: Land ganz nah. Ein Heimatroman. Lectorbooks. Zürich 2017. 144 Seiten. 22 Franken