Editorial: Tiefgang oder Schaum
«Vor dem Spiegel haben sie alle gestanden», schreibt der Publizist Diedrich Diederichsen in «Über Pop-Musik». Die narzisstische Pose, mit der der Teenager die Gesten der Stars imitiert, ist für ihn eine Art Urszene der Popmusik. Pop beginnt also – zumindest historisch – mit dem Körper. Doch dabei bleibt es natürlich nicht. Schon dieser Anfang muss gedacht werden. Noch gar nicht zu reden von all den impliziten Denkprozessen, die bei der Übersetzung jener Gesten vonstattengehen. Pop ist immer auch Hirn.
Die hier versammelten Texte widmen sich dem Verhältnis von Pop und Denken. Spotify ist nicht mehr nur ein riesiger Datenspeicher, in dem unser Musikhören bis in die intimsten Winkel hinein dokumentiert ist, sondern auch eine ständig besser werdende künstliche Intelligenz, die bald selber Musik in die Welt setzen wird. Während Maschinen die Musik immer besser verstehen, verstehen wir Menschen, so scheint es, sie manchmal immer weniger. Jedenfalls gewinnt man diesen Eindruck, wenn man sich mit dem Begriff der Subversion beschäftigt. Das Gegenteil von subversiv ist Schlager – das würden wohl diejenigen sagen, die «alles ausser Schlager» hören. Die oft gehörte Plattitüde will sowohl die Befolgung des Gebots der Offenheit wie auch die soziale Abgrenzung des eigenen Geschmacks gegen unten signalisieren. Was in solchen Antworten auch gerne ausgeschlossen wird: Heavy Metal. Nicht nur das motiviert die ForscherInnen Anna-Katharina Höpflinger und Jörg Scheller, sich mit dieser Musik und ihrer Kultur zu befassen. Was beide an Metal am meisten zu reizen scheint, ist sein intimes Verhältnis zur Religion, ob als Kritik oder gleich als Ersatz derselben. Zwei Songs, die in Deutschland gerade zu reden geben, wollen das Gegenteil von Religion sein: Kritik. Das Rapduo Zugezogen Maskulin lässt die Gitarrenpopband Kettcar in dieser Disziplin alt aussehen.
Aber lohnt es sich überhaupt, über Mainstream-Pop so viel nachzudenken? Was findet man darin? Lauter Insassen, sagt der Musiker Father John Misty, der schon an Songs von Lady Gaga und Beyoncé mitgeschrieben hat. In einem Interview mit dem Onlinemagazin «Pitchfork» sagte er: «Wenn Sie denken, dass Popstars irgendetwas anderes als Gefangene sind, dann verarschen Sie sich selber. Ich kenne sie. In ihrer Musik schreien sie um Hilfe.» Wir haben die Illustrationen in dieser Beilage, auf denen einige der wichtigsten Popstars unserer Zeit in schillernden Collagen dargestellt sind, mit grossen Worten aus klugen Texten kombiniert. Tiefgang oder Schaum?