Editorial: Tiefgang oder Schaum

Nr. 37 –

  • Kanye West: «Du musst wissen, wer du bist, bevor du es werden kannst.» Kanye West auf Twitter, 28. Juni 2016. Bildquelle: Getty; Illustration: Alina Günter
  • Lana del Rey: «Reale Ereignisse und Gefühle werden durch die Linse der weiblichen Fantasie gefiltert und fügen sich zu einer vorgetäuschten Erinnerung, die Trauma und Frustration schöner, kinematischer und generell lebenswerter macht.» Meaghan Garvey: «Female Gaze: Lana del Rey, I Love Dick, and The Love Witch», mtv.com, 16. Mai 2017 Bildquelle: Getty; Illustration: Alina Günter
  • Justin Bieber: «Justin Bieber ist ein talentierter Sänger. Doch um die Ordnung im chinesischen Markt zu bewahren und die chinesische Performance-Umgebung zu säubern, ist es unangemessen, Künstler mit schlechtem Benehmen einzuladen.» Städtisches Büro für Kultur der Stadt Beijing, als Begründung für ein Bieber-Auftrittsverbot Bildquelle: Universal Music; Illustration: Alina Günter
  • Nicki Minaj: «Die Tatsache, dass Minaj die Macht hat über ihre eigene Objektivierung (sie beschreibt ihre Vagina mit mehr Wörtern, als ich geahnt hatte, dass es gibt, und verstärkt ihre Potenz dadurch, dass sie diese Wörter reimt) als auch über ihre eigene Monetarisierung ­(offensichtliches Product Placement in Videos ist eines ihrer Markenzeichen), brachte ihr den lautesten Applaus von feministischer Seite.» Vanessa Grigoriadis: «The Passion of Nicki Minaj», «New York Times», 7. Oktober 2015 Bildquelle: GL Wood, Universal Music; Illustration: Alina Günter
  • Kendrick Lamar: «Lamar will einen mythischen Kampf mit sich selber und Dickens’sche Zerstörung zu einem Wandteppich verweben. Aus dem richtigen Blickwinkel betrachtet, transportiert dieser die Beteiligten von der Wand weg und hinein in den dreidimensionalen Raum, nun frei, das einfache Rohmaterial ihrer eigenen Herkunft zu formen und es in der Kunst mit der Zartheit eines leicht beschirrten Schmetterlings zu zähmen.» Casey Michael Henry: «Et Tu, Too?: Kendrick Lamar’s ‹To Pimp a Butterfly› and the Revival of Black Postmodernism», «LA Review of Books», 26. Juni 2015 Bildquellen: Getty, Universal Music; Illustration: Alina Günter
  • Beyoncé Knowles: «Es ist die grosse Tragweite der visuellen Landschaft von ‹Lemonade›, die das Werk auszeichnet – der Aufbau einer starken symbolischen schwarzen weiblichen Schwesternschaft, die der Unsichtbarkeit trotzt, sich weigert, still zu sein.» Bell Hooks: «Moving Beyond Pain», bellhooksinstitute.com, 9. Mai 2016 Bildquelle: Getty; Illustration: Alina Günter

«Vor dem Spiegel haben sie alle gestanden», schreibt der Publizist Diedrich Diederichsen in «Über Pop-Musik». Die narzisstische Pose, mit der der Teenager die Gesten der Stars imitiert, ist für ihn eine Art Urszene der Popmusik. Pop beginnt also – zumindest historisch – mit dem Körper. Doch dabei bleibt es natürlich nicht. Schon dieser Anfang muss gedacht werden. Noch gar nicht zu reden von all den impliziten Denkprozessen, die bei der Übersetzung jener Gesten vonstattengehen. Pop ist immer auch Hirn.

Die hier versammelten Texte widmen sich dem Verhältnis von Pop und Denken. Spotify ist nicht mehr nur ein riesiger Datenspeicher, in dem unser Musikhören bis in die intimsten Winkel hinein dokumentiert ist, sondern auch eine ständig besser werdende künstliche Intelligenz, die bald selber Musik in die Welt setzen wird. Während Maschinen die Musik immer besser verstehen, verstehen wir Menschen, so scheint es, sie manchmal immer weniger. Jedenfalls gewinnt man diesen Eindruck, wenn man sich mit dem Begriff der Subversion beschäftigt. Das Gegenteil von subversiv ist Schlager – das würden wohl diejenigen sagen, die «alles ausser Schlager» hören. Die oft gehörte Plattitüde will sowohl die Befolgung des Gebots der Offenheit wie auch die soziale Abgrenzung des eigenen Geschmacks gegen unten signalisieren. Was in solchen Antworten auch gerne ausgeschlossen wird: Heavy Metal. Nicht nur das motiviert die ForscherInnen Anna-Katharina Höpflinger und Jörg Scheller, sich mit dieser Musik und ihrer Kultur zu befassen. Was beide an Metal am meisten zu reizen scheint, ist sein intimes  Verhältnis zur Religion, ob als Kritik oder gleich als Ersatz derselben. Zwei Songs, die in Deutschland gerade zu reden geben, wollen das Gegenteil von Religion sein: Kritik. Das Rapduo Zugezogen Maskulin lässt die Gitarrenpopband Kettcar in dieser Disziplin alt aussehen.

Aber lohnt es sich überhaupt, über Mainstream-Pop so viel nachzudenken? Was findet man darin? Lauter Insassen, sagt der Musiker Father John Misty, der schon an Songs von Lady Gaga und Beyoncé mitgeschrieben hat. In einem Interview mit dem Onlinemagazin «Pitchfork» sagte er: «Wenn Sie denken, dass Popstars irgendetwas anderes als Gefangene sind, dann verarschen Sie sich selber. Ich kenne sie. In ihrer Musik schreien sie um Hilfe.» Wir haben die Illustrationen in dieser Beilage, auf denen einige der wichtigsten Popstars unserer Zeit in schillernden Collagen dargestellt sind, mit grossen Worten aus klugen Texten kombiniert. Tiefgang oder Schaum?