Musikgeschmack und Klasse: Alles ausser Helene Fischer

Nr. 37 –

In Zeiten von Poptimismus und ineinander verschwimmenden Subkulturen bleibt es umso wichtiger, sich nach unten hin sozial abzugrenzen. Dafür wird vorzugsweise ein Genre gewählt, das sich immer noch besonders gut als Prügelknabe eignet: der Schlager.

Schon die Frage ist blöd, doch das macht die Antwort nicht besser. «Und was hörst du so für Musik?» Vielleicht trifft man sich zufällig an der Plattenwand des Gastgebers, vielleicht sind wirklich alle anderen Small-Talk-Felder abgegrast, vielleicht hat man einfach das dringende Bedürfnis, Menschen nach Popkultur einzuteilen, weil es eben immer noch funktioniert. «Ach, alles Mögliche», sagen die meisten dann erst mal, und darauf kann man sich natürlich einigen. «Ausser Schlager halt», schieben manche noch nach – und da haben wir die Idiotie.

Was weltgewandt bis vage klingt, heisst in Wahrheit natürlich nicht so viel. Im besten Fall waren die «Alles ausser Schlager»-HörerInnen vor zehn Jahren mal bei einem Konzert der Red Hot Chili Peppers und tragen das Tourshirt bis heute zum Schlafen; im schlechtesten war ihnen schon damals alles ausser Coldplay zu wild. In jedem Fall aber heisst «alles» bei ihnen nicht alles. Transcendental Black Metal? Hyphy? Bubble Trance? Wohl kaum. Muss ja auch nicht jede und jeder alles hören, geschweige denn für echte Genres halten. Aber die Frage bleibt: Woher der Sonderhass auf Schlager?

Eigentlich leben wir in Zeiten des Poptimismus. Vorbei sind die Jahrzehnte des Rockismus, in denen man sich in möglichst enge Nischen definierte und grundsätzlich alles zu mainstreamig fand, sobald es im Radio lief. Noch über die Jahrtausendwende hinaus gingen sich Punks, Goths und Hip-Hopper grösstenteils aus dem Weg, was leicht war, weil man sich schon an der Kleidung erkannte. Heute haben sich, das sagen PopkulturexpertInnen, die Subkulturen weitestgehend aufgelöst. Alle tragen die gleichen Sneakers, schauen dieselben Serien auf Netflix und hören eben eine mehr oder weniger ausgefeilte Mischung aus «allem», die unbedingt auch Pop einschliesst. Es ist gesellschaftsfähig geworden, nicht mehr nur Destiny’s Child ironisch gut zu finden, sondern Beyoncé ganz ernst zu nehmen. Die Presse widmet der Musik auf ihren Alben mindestens so viele Zeilen wie ihrem Privatleben.

Miley Cyrus statt Andrea Berg

Umso mehr sagen die Grenzen aus, die immer noch stehen und ironischerweise dort verlaufen, wo sich vermeintlich intellektuell Offene von engstirnigen Trotteln distanzieren wollen. Es mag cool geworden sein, zwischen Nächten voller Deep House, Trap und Chillwave mal eben einen Karaokeabend mit einer perfekten Version von Miley Cyrus’ «Wrecking Ball» flachzulegen, aber «Das Gefühl» von Andrea Berg will an solchen Orten doch niemand hören.

Selbsterklärte Techno-Nerds belächeln Fans von Metal, Rock und Punk als hängen geblieben, und alle zusammen lachen sie die SchlagerhörerInnen aus. Wer der deutschen Schlagersängerin Michelle etwas abgewinnen kann, kauft schliesslich auch Postkarten mit «Ohne dich ist alles doof»-Schafen drauf, trägt Turnschuhe von Aldi und guckt statt englischer Serien im Original die Verkupplungsshows im Privatfernsehen, um sich dann per Schafspostkarte bei einem der Bauern zu bewerben. Kurz: Wer Schlager hört, ist dumm. Wenigstens darauf können sich die Spezialmusikfans und die Egalmusikfans einigen. Man kann echt alles hören, aber bitte nicht Helene Fischer.

So taugt der Musikgeschmack noch immer zur elitären Positionierung. Was nach internationalen Grossstädten klingt, ist gut; Dorftrotteligkeit geht gar nicht. Man muss nicht mal eine Ahnung von Musik haben, um zu begreifen, dass es weiter unten immer noch den Schlager gibt, nach dem man treten kann. Und wenn man Ahnung für sich beansprucht, dann braucht auch Pop immer erst die verkopfte Legitimation. Beyoncé ist erlaubt, weil sie mit «Lemonade» das Befreiungsalbum der schwarzen Frauen in den amerikanischen Südstaaten veröffentlicht hat und vor «Feminismus»-Leuchtschrift auftritt. Zayn geht klar, seit er seine Boygroup One Direction verlassen und ihn das Magazin «The Fader» stilvoll auf den Titel gehoben hat. Lady Gaga ist die LGBT-Ikone mit den abgefahrenen Klamotten, die komponieren, singen und auf gefährlich hohen Schuhen tanzen kann. Die Songs einfach nur zu mögen, reicht auch 2017 nicht.

Doch der Schlager kann machen, was er will, er bleibt aussen vor. Das ist, das muss spätestens jetzt gesagt sein, natürlich oft mehr als berechtigt. Man braucht sich nicht am Ballermann oder in den Après-Ski-Hütten herumzutreiben, um zu merken, dass DJ Ötzi, Jürgen Drews und der Cordalis-Clan grundsätzlich grottenschlechte Beats mit den immer gleichen Phrasen zusammenhämmern, die weder ans Herz noch ans Hirn gehen, sondern direkt in die bierverschwappte Magengrube. Mal ganz abgesehen davon, dass die Schlagerwelt ein grösstenteils höchst unangenehmer Ort ist, in dem Sexismus, Rassismus und Homophobie all jenen eine heile Welt vorgaukeln, die darunter vor allem blonde Zöpfe und kurze Kleider verstehen.

Schulterklopfen von rechts

Erst 2016 kritisierte Schlagerproduzentin und -sängerin Kristina Bach in einem Interview die «Besetzungscouch»-Mentalität  ihrer Branche, aber noch verhallen solche Beschwerden ungehört. Den grössten Erfolg feiern währenddessen reaktionäre Stars wie der österreichische «Alpenrocker» Andreas Gabalier, der seinen «frechen» Schlager-Rock-’n’-Roll mit Songtexten und Interviewzitaten würzt, über die sich vor allem die FPÖ freut: nicht ausdrücklich diskriminierend, aber nah genug dran fürs Schulterklopfen von rechts. Es gibt also genug Gründe gegen genug SchlagersängerInnen. Nur wäre es klüger, das Genre differenziert zu sehen.

Die letzten Jahre haben immerhin dazu geführt, dass auch Genres wie Hip-Hop oder Pop nicht mehr über jeweils einen Kamm geschoren werden. Während der Obama-Präsidentschaft waren Rapper wie Kendrick Lamar und Jay-Z gern gesehene Gäste im Weissen Haus, geschätzt für ihre musikalische Brillanz und klugen Tischgespräche über gesellschaftliche Ungleichheit. Kurz darauf musste sich etwa Rick Ross zu Recht für Sexismus kritisieren lassen, als er erklärte, keine Rapperinnen unter Vertrag zu nehmen, weil er sie «eh alle ficken würde».

Taylor Swift schwankt von Song zu Song zwischen coolem Girl-Gang-Feminismus, ausschliesslich weissem Feminismus und genereller Planlosigkeit, die auch das beste Songwriting nicht wiedergutmacht. Cro ist nicht nur der lässige Junge mit der Pandamaske, der aus der alten Soulnummer «Sunny» den Sommerhit «Easy» bastelte, sondern auch ein fürchterlicher Macker, der in dem Song darüber nachdenkt, seine schwangere Freundin zu erschiessen. Man kann sich ausführlich über die musikalischen Qualitäten von Balbina, Faber, Bilderbuch oder Jennifer Rostock streiten. Aber dann kann man das auch beim Schlager.

Nicht umsonst gab es vor ein paar Jahren viel Rummel um ein Onlinequiz, bei dem man Songtexte von Casper und Roland Kaiser unterscheiden sollte. Mega einfach, fanden die Fans des Emorap, schliesslich seien die Casper-Texte ja wohl um einiges smarter; ganz amüsant, fand Kaiser, der sich damit kurz mal angesagt vorkommen durfte. Darüber, wie beleidigt Casper über den Vergleich war, wurde danach reichlich diskutiert. Sein Kumpel Dagobert wiederum hat die härtere Musik vor Jahren hinter sich gelassen und bezieht sich mit seinem Postschlager explizit auf alte Helden wie die Flippers, geht aber trotzdem als tausendmal ironischer und klüger durch. Und Annen May Kantereit verdanken es auch nur ihrem schludrigen Auftreten, dass sie als feinsinnige Studentenband gelten.

Fischers Arbeitermusik

Am Ende geht es um den Klassenerhalt. Es zeugt nicht von besonderer Klugheit, Mark Forster oder Nils Frahm zu hören, aber es zeigt, wohin man gehören will: zu den AkademikerInnen und in die Grossstädte, mindestens in ein gepflegtes Reihenhaus, bloss nicht zu den Bauern und den Schwiegertöchtern.

Helene Fischer dagegen ist Arbeitermusik, im guten wie im schlechten Sinn. Am deutlichsten sieht man das einmal im Jahr bei ihrer Weihnachtsshow im Fernsehen. Sie hat keine feministischen Leuchtbuchstaben und keine ganz so expliziten Songtexte, aber so nah kommt hier sonst niemand an eine wie Beyoncé heran.

Fischer hat sich hochgearbeitet, von der Kindheit in Sibirien über die Realschule im ländlichen Rheinland-Pfalz und die klassische Musicalausbildung bis auf die allergrössten Bühnen, über die sie in hoch akrobatischen Trapeznummern schwebt. Längst hat sie den drögen Tchibo-Chic abgelegt und trägt stattdessen spektakuläre Catsuits und Designerkleider. Sie kann tanzen, hat auch die Playbacknummern zumindest irgendwann mal perfekt eingesungen, sie lädt sämtliche Stars zu sich ein und covert mit ihnen Hits von Taylor Swift und Falco, und alles an ihrer Show ist so unfassbar flawless, wie man es sonst fast nirgends sieht.

Die «Alles ausser Schlager»-Menschen bekommen das nicht mit. Sie haben keinen Fernseher, weil sie finden, dass Fernsehen dumm macht, und weil sie «Game of Thrones» lieber «on demand» im Internet gucken. Sie lesen höchstens nach den Feiertagen die hämische Kolumne im Feuilleton und grinsen dabei in sich hinein. Schlager, so was hören und schauen doch wirklich nur IdiotInnen.

Es bringt kaum etwas, für mehr Offenheit zu werben, wenn sich alle schon für furchtbar offen halten. Aber vielleicht hilft es ein wenig, bei der Frage anzusetzen. Das muss nicht gleich in die Art Künstlichkeit abdriften, bei der man sich einen der hundert Gesprächseinstiege für besseren Small Talk aus einem Buch heraussucht und sein Gegenüber mit Fragen wie «Zu welchem Song möchtest du mal sterben?» verwirrt. Aber man könnte nach dem letzten Konzertbesuch fragen, dem letzten Album, für das jemand Geld ausgegeben hat, oder dem jüngsten Ohrwurm. Man könnte zuhören und nachhaken, statt gleich draufzuhauen. Man könnte zur Abwechslung mal keinen Wettbewerb daraus machen, wessen Musikgeschmack mehr kann.

Man könnte auch einfach das Thema wechseln und über unverfänglichere Dinge sprechen: «Was ich so lese? Alles ausser Frauenzeitschriften.» «Was ich so esse? Alles ausser Fast Food.» «Was ich so mache? Alles ausser von Sozialhilfe leben.» Geht doch.