Pop als Kritik: Geschüttelt, nicht berührt

Nr. 37 –

Derzeit gehen zwei politische deutsche Popsongs um: «Sommer ’89» von Kettcar und «Was für eine Zeit» von Zugezogen Maskulin. Didaktisches Geschichtenerzählen gegen mehrfach gebrochenen Molotowcocktail. Ein Duell.

Mindestens einmal lässt einen dieses Musikvideo erschaudern. Nämlich dann, wenn der Typ mit dem roten Bart seinen Kopf mit voller Wucht in ein senkrecht von einer Tischplatte aufragendes Messer rammt, sodass es hinten wieder rauskommt. Dazu schmettert Grim104 vom Berliner Rapduo Zugezogen Maskulin die Zeile: «Und schreib bitte die 1 aus, sonst schlag’ ich dir den Schädel zu Brei.» Der Eintritt des Messers erfolgt exakt auf das Wort «bitte». Ist ja schon gut, wir haben verstanden: Der Song heisst «Was für eine Zeit» und nicht «Was für 1 Zeit».

Und was das für eine Zeit ist, die Grim104 und Testo hier genüsslich als Groteske inszenieren! Die Ziffer 1 als Platzhalter für einen unbestimmten Artikel hat ihren Ursprung auf Twitter. Die Form ist so beliebt, dass die Sparkasse sie letztes Jahr auf eines ihrer Werbeplakate gedruckt hat, um junge KundInnen anzuziehen. Für Zugezogen Maskulin ist sie eine von vielen Zielscheiben für kulturkritische Tiraden.

Die beiden Rapper arbeiten mit harten Kontrasten: «Was sagt ihr zu ‹Kollegah trägt Versace›, schreibt’s uns in die Kommentare / Dafür ging’n meine Grosseltern ’89 auf die Strasse.» Der zitierte Satz, über den hier sozialmedial debattiert werden soll, stammt vom deutschen Gangsterrapper Fler, der sich in einem Interview über die Kleiderwahl seines Kollegen Kollegah erzürnte. Die provinziellen Fehden in der deutschen Rapszene haben die grossen Erzählungen abgelöst. Quasi.

Die Wende wird auch in einem anderen deutschen Popsong thematisiert, der derzeit zu reden gibt: «Sommer ’89» der Hamburger Gitarrenpopband Kettcar. Der Song, über weite Strecken eher gesprochen als gesungen, erzählt von einem jungen Aktivisten, der Familien aus der DDR beim Überqueren der ungarisch-österreichischen Grenze hilft und danach von seinen WG-Gspänli im Interesse der DDR kritisiert wird. Die Intention ist klar: Indem Kettcar uns einen Fluchthelfer vorführen, dessen Handeln sehr viele verteidigen würden, versuchen sie, der aktuellen Flucht Legitimität zu verschaffen. Der Zeitpunkt dafür scheint nicht zufällig gewählt.

Am 24. September sind in Deutschland Bundestagswahlen. Die Alben von Kettcar und Zugezogen Maskulin erscheinen erst im Oktober, doch ihre Vorabsingles wirken wie Kommentare zur politischen Lage vor einer Wahl ohne Alternative. Doch die Intensität, mit der sie das tun, könnte unterschiedlicher nicht sein.

«Sommer ’89» wird für seine politische Relevanz gefeiert. Als wäre das Stück ein Pamphlet. Doch wenn man es als Popsong beurteilt – dazu gehört auch das Video –, muss man zu einem anderen Schluss kommen. Der Clip ist, gelinde gesagt, stier. Er erzählt brav der Geschichte entlang. Darunter sind die Lyrics eingeblendet, damit wir auch nichts vom Inhalt verpassen. Während der Strophen erzeugen treibende Drums und monotone Gitarren eine dezente Spannung, die im pathetisch gesungenen Refrain aufgelöst wird.

Als Popsong schnell erledigt

Die Musik ist bei Kettcar dem Narrativ unterworfen. Die Band will gegenwärtige Normen mit analogem Rückgriff auf die Vergangenheit infrage stellen. Man kann sich fragen, ob eine solche Botschaft von einem flockigen Popsong getragen manche vielleicht direkter berührt als in einem Pamphlet. Doch als Popsong ist dieses didaktische Geschichtchen eben auch schnell erledigt.

Vom Zugezogen-Maskulin-Video verstehen wir zuerst einmal recht wenig. Schläger mit Gasmasken und Knüppel, Polizisten aus Dystopia zerren einen halb nackten Mann aus einem Lieferwagen und zwingen ihn auf die Knie. Der Song besteht bis hierhin nur aus einem bedrohlichen Sirenengeheul. Dann wird der Titel eingeblendet: in Fraktur. Das Video könnte jetzt auch von Rammstein sein. Dann mediale Brechung: Wir blicken durch eine hochformatige Handykamera auf das Geschehen (später kommt auch mal noch eine VR-Brille vor), dazu setzt der Trap-Beat mit einem glockenartigen Scheppern ein. Aus dem Gesicht des Mannes blickt blanker Wahnsinn. Er beginnt einen zuckenden Tanz und küsst eine der Gasmasken, bevor Testo von einem Leichenberg hinunterblickt: «What a time to be alive.»

Die Medialisierung von Gewalt ist das Hauptmotiv des Videos. Gleich im nächsten Bild steht ein schwarzer Mann in Calvin-Klein-Boxershorts und mit einem goldenen Maschinengewehr vor einer weissen Wand und Scheinwerfern, wie sie in Fotostudios stehen. Dann wird er von zwei Kugeln durchdrungen, das Blut spritzt auf die Leinwand. Hier geht es nicht nur um dargestellte Gewalt, sondern auch um die Gewalt der Darstellung. Umso krasser.

Hundert Jahre Langeweile

Auch weil diese Reflexion direkt an die Zeitdiagnose des Songs anschliesst. Auf dem Leichenberg fährt Testo fort: «Ohne Seuchen, ohne Krieg / Hundert Jahre Langeweile dank moderner Medizin». Was gegen die Langeweile hilft: Snapchat. Aber der Angriff auf die sozialen Medien, Craftbier und «bei Facebook über Dreadlocks diskutier’n» ist kein kulturkritischer, sondern eine Kritik der politischen Wahrnehmung: Für den deutschen Hipstermittelstand ist Gewalt nur noch strukturell; die Konstellation, in der sie unsichtbar bleibt, ist auch medial (im breitesten Sinn) konstruiert.

Doch damit nicht genug: Zugezogen Maskulin reflektieren Gewalt nicht bloss sozial und medial, sondern auch musikhistorisch. Die kommende Platte heisst «Alle gegen alle», genau so wie eine der deutschen Punkband Slime von 1983, auf deren Cover ein Kopfschuss dargestellt war und die auf dem Label Aggressive Rockproduktionen erschien. In dieser Referenz klingt eine weitere an: das Label Aggro Berlin, dessen Rapper wie Sido oder Fler den deutschen Gangsterrap popularisierten – richtig, der Fler von «Kollegah trägt Versace».

Ist die Aufforderung, in den Kommentarspalten über diesen Satz zu diskutieren, am Ende also nicht nur zynisch gemeint, sondern auch eine Aufforderung dazu, über die Schlagkraft von politischer Musik zu diskutieren? Aggro Berlin ist tot. Aber Zugezogen Maskulin sind mit ihrem wuchtigen Südstaatentrap sowieso schon längst einen Schritt weiter.

Gegen die lauschigen Gitarren von Kettcar wirkt dieses mehrfach gebrochene Kunstwerk wie ein avantgardistischer Schock. Zugezogen Maskulin erzählen nicht, sie schütteln durch, und realisieren den Anspruch, den der flamboyante Barde Father John Misty an sich stellt: kritische Theorie in Popmusikform. Was für ein Song vor der Bundestagswahl!

«Ich vs. Wir» von Kettcar erscheint am 13. Oktober 2017 bei Grand Hotel van Cleef.

«Alle gegen alle» von Zugezogen Maskulin erscheint am 20. Oktober 2017 bei Four Music.

Zugezogen Maskulin: Alle gegen alle. Four Music

Kettcar: Ich vs. Wir. Grand Hotel van Cleef