James K. Galbraith: «Gefangen in den ökonomischen Phrasen der siebziger Jahre»

Nr. 38 –

Der US-amerikanische Ökonom James K. Galbraith analysiert im Gespräch mit der WOZ den Zustand der US-Wirtschaft und skizziert einen Ansatz, wie die Europäische Union aus der Krise kommen könnte.

James K. Galbraith in Zürich: «Es braucht ein umfassendes Programm, um in Europa eine wirtschaftliche Stabilisierung herbeizuführen. Das muss die Priorität sein.»

WOZ: Herr Galbraith, in den USA haben eben zwei Hurrikane in Florida und im Süden von Texas schwere Schäden angerichtet. Hat das Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft der USA?
James K. Galbraith: Der Effekt solcher Katastrophen ist, dass mehr konsumiert wird. Es braucht neue Häuser und neue Autos. Zudem muss die öffentliche Infrastruktur repariert werden. Der Effekt ist also eine Zunahme der wirtschaftlichen Aktivitäten, was sich in den ökonomischen Statistiken niederschlagen wird. Das sagt aber noch gar nichts darüber aus, welches Leid die Katastrophen für die Menschen bedeuten. Es wird ein sehr harter Wiederaufbauprozess.

Es wird vermutet, dass es wegen des Klimawandels vermehrt zu stärkeren Hurrikanen wie auch anderen Naturkatastrophen kommt. Könnte das letztlich zu einem Einbruch an den Aktienbörsen führen?
Da gibt es keinen direkten Zusammenhang. Die Aktienkurse sind derzeit unter anderem so hoch, weil die Zinsen tief sind und viele Unternehmen ihre eigenen Aktien zurückkaufen.

Es gibt aber auch Leute wie etwa Ihren Kollegen Joseph Stiglitz, die sagen, dass der Klimawandel letztlich das Geschäftsmodell der grossen Energiefirmen zerstören werde. Weil die Gesellschaft von ihrer Abhängigkeit von fossiler Energie wegkommen muss, werden diese Firmen einen guten Teil ihrer Öl-, Gas- und Kohlereserven abschreiben müssen – Stiglitz spricht da von Stranded Assets.
Das Strandet-Assets-Problem, von dem Jo spricht, betrifft immer nur den Wert einzelner Firmen. Ausserdem ist die US-Wirtschaft vom Auto- und Flugverkehr abhängig. Das ist nicht gut für das Klima, aber es ist so. Die Nachfrage nach fossilen Energieträgern wird hoch bleiben.

Oft ist zu hören, die USA hätten ihre Wirtschaftskrise überwunden. Als Beleg dafür werden nicht nur die steigenden Aktienkurse genannt, sondern auch die tiefen Arbeitslosenzahlen. Einverstanden?
Der Aktienindex geht tendenziell immer weiter hoch. Denn er ist eine Konstruktion, etwas Künstliches. Wenn Firmen an Wert verlieren, werden sie einfach aus dem Index gekippt und stattdessen andere Unternehmen aufgenommen, die weiter Gewinn machen. Deshalb sagt der Aktienindex auch nichts über den Zustand der realen Wirtschaft aus. Tatsächlich gibt es eine langsame, derzeit auch stabile Ausweitung der Wirtschaftsaktivitäten. Doch die offiziellen Arbeitslosenzahlen sind nur deshalb so tief, weil weiterhin sehr viele Leute gar nicht mehr auf den Arbeitsmarkt drängen. Viele würden schon arbeiten wollen, wären die Arbeitsbedingungen noch so wie vor zehn Jahren.

Was sind das für Leute?
Menschen, die früher im Dienstleistungssektor gearbeitet haben, auch viele Teilzeitbeschäftigte und Leute, die sich vorzeitig pensionieren liessen.

Wie können sie überleben?
Ab 62 hat man in den USA Anrecht auf eine Altersrente.

Aber ein komfortables Leben kann man damit nicht führen.
Klar, viele haben so ein sehr bescheidenes Leben, vor allem, wenn ihr Eigenheim noch nicht abbezahlt ist und jeden Monat Ratenzahlungen fällig werden.

Kann US-Präsident Donald Trump mit seinem im Wahlkampf versprochenen Investitionsprogramm die US-Wirtschaft weiter ankurbeln?
Die republikanische Mehrheit im Kongress wird so ein Programm zu verhindern wissen. Aber falls es trotzdem kommen sollte, gäbe es sowieso nur neue Jobs in der Bauindustrie. Doch das hilft den meisten Leuten, die ohne Arbeit sind, nicht. Die haben in dieser Branche keine Erfahrung.

Und Trumps Vorhaben, die Industriejobs wieder zurückzuholen?
Auch das wird nicht passieren. Und wenn doch, so wären diese Jobs bald wieder weg. Denn sie können nicht einfach Mexiko oder China zum Verschwinden bringen. Dort wird auch weiterhin günstiger als in den USA produziert. Und eine Einschränkung des Freihandels würde der US-Exportindustrie schaden, etwa der Flugzeugindustrie. Auch die Energieunternehmen würde es hart treffen. Ein weiterer Grund, weshalb das nicht passieren wird: Es würde das politische Gesicht der USA verändern. Gerade in Michigan und Wisconsin, die diesmal republikanisch wählten, würden die Autogewerkschaften wieder gestärkt und damit die ihnen nahestehenden Demokraten. Andererseits würde so eine Politik Staaten wie Texas, die in republikanischer Hand sind, schwächen. Denn Texas ist mit seiner grossen Landwirtschaft und seiner Energieindustrie stark vom internationalen Handel abhängig.

Ein Indiz für die Erholung der US-Wirtschaft ist ja auch, dass die Zentralbank, die Fed, die Zinsen erhöht hat. Sollen sie weiter steigen?
Die Fed ist seit geraumer Zeit unter Druck der Öffentlichkeit, die Zinsen wieder auf das Niveau von vor zehn oder zwanzig Jahren anzuheben. Doch das geht eben nicht. Die Fed hat nur Einfluss auf die kurzfristigen Zinsen, also den Zinssatz, den sich Banken für kurzfristig ausgeliehenes Geld verrechnen. Wenn sie den Zins nun anhebt, dann steigt deswegen der langfristige Zins nicht automatisch mit. Das funktioniert nicht mehr. Die langfristigen Zinsen bleiben einfach tief, was auf den Finanzmärkten zum Chaos führt und zu dramatischen Effekten bei den internationalen Kapitalströmen. Die Zentralbank wird da auch in den nächsten Jahren nicht rauskommen.

Die Instrumente der Vergangenheit funktionieren nicht mehr …
Die Bedingungen haben sich stark verändert. Die Menschen werden heute zu sehr tiefen Löhnen eingestellt, und es ist angesichts einer globalisierten Wirtschaft und flexibler Wechselkurse sehr schwierig, sich vorzustellen, welche Kräfte dafür sorgen könnten, dass diese Löhne wieder steigen.

Glauben Sie, in der Zentralbank weiss man, was das für die Zukunft bedeutet?
Ich hoffe es. Aber sie sind dort gefangen in den ökonomischen Phrasen, die in den siebziger Jahren entstanden sind. Sie können gar nicht anders als in Phrasen reden. Würden sie daraus ausbrechen, stiessen sie in der Politik und bei den Medien auf Unverständnis und würden viel Unsicherheit schaffen. Von der Welt zu reden, so wie sie ist, zu Leuten, die gar nicht verstehen wollen, wie sie wirklich ist, ist sehr schwierig. Wenn man mit den Leuten von der Zentralbank privat redet, merkt man, dass sie sehr genau wissen, was passiert.

Droht eine erneute Spekulationsblase?
Es ist eine generelle Regel der US-Wirtschaft der letzten vierzig Jahre, dass sie sich von Blase zu Blase bewegt. Man kann auch von einer Megablase sprechen. Der Grund dafür ist, dass die USA nach wie vor die Funktion des sicheren Hafens für das globale Kapital spielen. Es fehlt an Alternativen.

In der EU versucht die EZB ja immer noch, mit extrem tiefen Zinsen und dem Kauf von Staatsanleihen auf die Wirtschaft Einfluss zu nehmen. Was halten Sie davon?
Es hat Ländern wie Griechenland etwas geholfen, weil sie günstiger Kredite aufnehmen können. Doch das Problem ist, dass die EZB aus dieser Politik kaum mehr aussteigen kann.

Was würden Sie tun, wenn Sie EZB-Präsident Mario Draghi wären?
Ich weiss es nicht. Ich müsste wohl länger über diese Frage nachdenken. Das Problem in Europa ist grundsätzlicher. Es bräuchte monetäre Reformen. Der Euro ist auf Prinzipien ausgelegt, die nicht tragfähig sind. Es bräuchte ein System, das auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Staaten ausgerichtet ist, ein System mit mehr Flexibilität. Zum Beispiel zwei Parallelwährungen, wie es früher mal eine Zeit lang parallel einen Gold- und einen Silberstandard gab. Momentan besteht in der Eurozone die Gefahr, dass in Italien Banken zusammenbrechen. Italien könnte wie Griechenland in eine Schuldendeflation geraten. Nur ist Italien wirtschaftlich viel gewichtiger als Griechenland. Die Folgen wären also für Europa viel einschneidender. Es muss dringend etwas geschehen. Es braucht mehr als den Aufkauf von Staatspapieren durch die EZB. Es braucht ein umfassendes Programm, um eine wirtschaftliche Stabilisierung herbeizuführen. Das muss die Priorität sein.

Sie kennen Griechenland gut, haben 2015 den damaligen Finanzminister Yanis Varoufakis beraten. Sehen Sie dort keine Anzeichen für eine wirtschaftliche Erholung?
Nein. Es wird viel von einer Erholung geredet. Aber im Prinzip ist nur passiert, dass die griechische Bevölkerung ihr Staatseigentum verloren hat. Die Regierung musste alles verkaufen. Wenn jetzt von neuen wirtschaftlichen Aktivitäten die Rede ist, so heisst das, dass von aussen jemand ins Land gekommen ist und die Rolle des Kolonisators spielt. Das Modell kennt man aus der Karibik. Es ist nicht nachahmenswert.

Sie propagieren, der Staat müsse wieder eine aktivere Rolle spielen, die soziale Sicherheit ausbauen. Wie soll das angesichts der Überschuldung gehen?
Soziale und wirtschaftliche Stabilisierungsmassnahmen sind essenziell. Das europäische System basiert auf nationaler Verantwortung. Doch wenn die nationalen Regierungen unter derart starkem Finanzdruck stehen, müssen bestimmte Aufgaben von der europäischen Ebene übernommen werden, Aufgaben wie die Arbeitslosenversicherung und die Nahrungsmittelhilfe. Die EU kann doch keine Maschine sein, die in Europa möglichst viel Ungleichheit erzwingt. In den USA existiert ein zentrales Wohlfahrtssystem: die Social Security, Medicaid, Medicare und auch Wohnhilfen. Es gibt auch nur ein Militärbudget, bei dem viel Geld an die Bevölkerung weiterverteilt wird.

Europa ist demgegenüber ganz anders aufgebaut. Doch wegen der Ungleichheit zwischen den Staaten braucht es Elemente von Währungsflexibilität und ein Element von sozialer Stabilisierung. Es muss etwas passieren, es braucht konkrete Massnahmen, damit die Wirtschaft in den europäischen Ländern wieder stabiler wird.

Wachstum neu denken

Der 65-jährige James K. Galbraith war Gast am WOZ-Europakongress vom 8. und 9. September in Zürich, wo er am Abschlussfest eine kesse Sohle aufs Parkett legte. Er gehört zu den führenden US-amerikanischen VolkswirtschaftlerInnen und lehrt an der Universität von Texas in Austin.

Galbraiths neustes Buch heisst «Wachstum neu denken. Was die Wirtschaft aus den Krisen lernen muss». Aus dem Amerikanischen von Peter Stäuber. Rotpunktverlag. Zürich 2016. 300 Seiten.