Unabhängigkeitsreferendum: Der Ungehorsam der Massen

Nr. 39 –

Der spanische Staat versucht, mit Repressionen das geplante Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien zu stoppen. Doch diese Strategie könnte nach hinten losgehen.

In Barcelona herrscht in diesen Tagen, kurz vor dem Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober, eine angespannte Stimmung. Schon seit Monaten lässt der spanische Staat nichts unversucht, um die vom Regionalparlament beschlossene und laut Umfragen von 75 Prozent der katalanischen BürgerInnen gewünschte Volksabstimmung zu verhindern. Doch in der vergangenen Woche ist die Situation eskaliert: Madrid hat die Konten der Autonomieregierung einfrieren lassen, dreizehn hochrangige Regierungsmitglieder wurden verhaftet und vierzig Büros und Wohnungen durchsucht. Nach eigenen Angaben hat die Guardia Civil 10 Millionen Wahlzettel und 1,3 Millionen Plakate beschlagnahmt. Im Hafen von Barcelona sind mehrere Tausend EinsatzpolizistInnen auf für diesen Zweck extra verlegten Schiffen untergebracht, und gegen 700 der 950 katalanischen BürgermeisterInnen laufen Strafverfahren. Begleitend dazu gibt es eine Berichterstattung in den spanischen Medien, die die Unabhängigkeitsbewegung mit der Mafia, dem IS oder der baskischen Eta vergleicht.

Doch bislang hat man den Eindruck, als stärke die Repression nur die Unabhängigkeitsbewegung. Als die Guardia Civil vergangene Woche mehrere katalanische Ministerien stürmte, um die für die Vorbereitung des Referendums verantwortlichen PolitikerInnen zu verhaften, strömten Zehntausende spontan auf die Strasse und verhinderten fast 24 Stunden lang, dass die Polizei die Gebäude wieder verlassen konnte. Die Bilder gut gelaunter und friedlicher DemonstrantInnen vor Ketten vermummter PolizistInnen lösten eine breite Solidaritätswelle aus. Überall im spanischen Staat kam es zu – teilweise verbotenen – Solidaritätskundgebungen. Die andalusische Landarbeitergewerkschaft SAT solidarisierte sich ebenso unmissverständlich wie die meisten bekannten Gesichter der 15M-Bewegung in Madrid.

Besetzungen und Blockaden

In Katalonien scheint die Polizeiaktion sowieso alle Dämme gebrochen zu haben. Die Universitäten sind besetzt, die Hafenarbeiter von Barcelona haben beschlossen, die vor Anker liegenden Polizeischiffe nicht mehr zu versorgen, und selbst die Gewerkschaft Comisiones Obreras, die das Referendum bislang ablehnte, hat sich an Strassenblockaden beteiligt.

Wie sehr sich das Panorama verschoben hat, illustriert nichts deutlicher als die Ereignisse vor dem Parteisitz der linksradikalen CUP vergangene Woche. Als die Polizei das Büro der Unabhängigkeitspartei (die mit acht Prozent im Parlament vertreten ist) zu stürmen versuchte, stellten sich ihr nicht nur CUP-AnhängerInnen, sondern auch Mitglieder der linksalternativen Stadtregierung von Bürgermeisterin Ada Colau, anarchosyndikalistische GewerkschafterInnen und der rechtsliberale Exbürgermeister von Barcelona, Xavier Trias, in den Weg.

Genau diese Breite des Protests wird für Madrid zusehends zum Problem. Bisher war das Referendum nämlich nur von den Unabhängigkeitsparteien – dem sozialliberalen Bündnis Junts pel Sí und der CUP – unterstützt worden. Die beide Gruppen verfügen über eine absolute Mehrheit im katalanischen Parlament, kamen aber bei den letzten Wahlen zusammen nur auf 48 Prozent der Stimmen (gegenüber 39 Prozent für die unionistischen Parteien Ciudadanos, PSC und PP). Die föderalistische Linke, die zwischen 10 und 20 Prozent der Stimmen erreichen kann, ist also das Zünglein an der Waage. Und dieses Lager, das sich um Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau schart und von Podemos, Izquierda Unida und den Linksgrünen unterstützt wird, ist gegen ein Katalonien als unabhängiger Staat, aber durchaus für die Gründung einer katalanischen Republik sowie die Verabschiedung einer neuen Verfassung. Das rabiate Vorgehen der Regierung hat nun dafür gesorgt, dass dieses Spektrum sich der Unabhängigkeitsbewegung annähert.

Identitärer oder sozialer Prozess?

Für Elena Jimenez setzt sich damit nur die Entwicklung der letzten Jahre fort. Jimenez, Mitte dreissig, gehört zum Vorstand von Òmnium Cultural, der heute grössten zivilgesellschaftlichen Organisation Kataloniens. «Was wir hier erleben, ist ein sozialer Prozess, kein identitärer. Ich zum Beispiel bin für die Unabhängigkeit, aber nicht nationalistisch. Meine Wurzeln sind in Andalusien, meine Grosseltern kamen aus wirtschaftlichen Gründen hierher und haben ihr Haus mit den eigenen Händen aufgebaut – neben der Arbeit. Und so geht es den meisten Menschen hier. Sie kommen aus anderen Teilen des Staats oder aus anderen Teilen der Welt. Sehr viele von ihnen sind für ein demokratisches Referendum, und viele auch für die Unabhängigkeit. Sie betrachten es als Instrument zur Verbesserung der sozialen Situation.»

Das gängige Vorurteil lautet, dass es der katalanischen Bewegung ähnlich wie der italienischen Lega Nord nur um finanzielle Vorteile gehe. Katalonien hat zwar ein geringeres Bruttosozialprodukt als der Grossraum Madrid, ist aber doch überdurchschnittlich wohlhabend. Jimenez verweist allerdings darauf, dass die Unabhängigkeitsbewegung in den nuller Jahren erst entstand, als die Mitte-links-Koalition aus PSC (spanische Sozialdemokratie), Linksgrünen (ICV) und ERC (katalanische Linksrepublikaner) mit einem föderalistisch-demokratischen Reformprojekt gescheitert war. «Es war der Versuch, Spanien von innen her zu verändern und für die Anerkennung der Plurinationalität zu sorgen. Der Verfassungsgerichtshof in Madrid hat das Statut für verfassungswidrig erklärt. Seitdem demonstrieren jedes Jahr eine Million Menschen. Aber man darf nicht vergessen: Die erste Grossdemonstration 2010 forderte nicht die Unabhängigkeit. Ihr Motto war: Volem decidir! – Wir wollen entscheiden!»

Wie soll der neue Staat aussehen?

Jimenez, die sich damals in einem sozialen Zentrum in einer Kleinstadt engagierte, hält auch die Einschätzung für falsch, die Unabhängigkeitsbewegung sei von regionalistischen Parteien aufgebaut worden. «Ganz im Gegenteil. Das ging aus der Gesellschaft hervor. In Hunderten Gemeinden haben sich Bürgerinitiativen gebildet, und Volksbefragungen wurden organisiert. Die Leute haben gesagt: Wenn das Verfassungsgericht das Statut suspendiert, wollen wir keine Autonomiereform mehr, sondern die Unabhängigkeit. Und diese Bewegung hat sich dann in ganz Katalonien ausgebreitet. In meiner Gemeinde waren wir zuerst sechzig Leute. Dann haben sich die unterschiedlichsten Organisationen angeschlossen: Pfadfinder, Theatergruppen, Chöre … Ganz unabhängig davon, ob die Leute für oder gegen die Unabhängigkeit waren. Was uns verband, war die Tatsache, dass wir abstimmen wollten.»

Nach der Eskalation der Ereignisse vergangene Woche ist Jimenez unsicher, was am 1. Oktober und danach passieren wird. Ihre Organisation erwartet von der katalanischen Regierung, dass diese bei einem entsprechenden Ergebnis tatsächlich die Unabhängigkeit erklärt. Doch wie man sich gegen Madrid durchsetzen will und wie der neue Staat aussehen soll, ist völlig offen. Die grosse Mehrheit der KatalanInnen wünscht sich einen Verbleib in der Europäischen Union und eine stärkere Korruptionsbekämpfung.

Und viele Organisationen stehen auch für eine solidarischere Gesellschaft. So hat Òmnium Cultural die katalanische Kampagne «Refugees Welcome» mitgetragen und zuletzt eine grosse Wanderausstellung, «Lluites compartides» (Gemeinsame Kämpfe), über die sozialen und antifranquistischen Bewegungen seit 1950 organisiert. «Bei Òmnium gibt es alle politischen Überzeugungen», sagt Jimenez. «Von den Liberalen bis zu den Linksradikalen. Aber die Forderung nach mehr sozialen Rechten – das ist schon Konsens.»

Dass die Unabhängigkeitsbewegung die Tür für Veränderungen aufstossen wird, glaubt auch Dolors Sabater, Bürgermeisterin der 200 000-EinwohnerInnen-Stadt Badalona. Die 57-jährige Lehrerin war jahrelang in der Antimilitarismusbewegung aktiv. 2015 wurde sie als Kandidatin der offenen linken Liste Guanyem Badalona zur Bürgermeisterin gewählt – sehr überraschend, denn Badalona war bis dahin eine Bastion der Konservativen gewesen.

Sabater wirkt mit ihrem jugendlichen Lächeln, ihrer leisen, aber tiefen Stimme und dem ergrauten Pagenschnitt so überhaupt gar nicht wie eine Politikerin. Sie interessiert sich auch nicht dafür, zu repräsentieren – sie will, dass andere selbst das Wort ergreifen. An diesem Tag hat die Stadtregierung eine Bürgerversammlung organisiert; in Kleingruppen wird über eine neue Verfassung debattiert. Für Sabater ist das Entscheidende an der Unabhängigkeit, dass die neue Republik, die man gründen will, von unten entsteht: «In Diskussionen an der Basis wird den sozialen Rechten viel grössere Bedeutung beigemessen, als wenn Entscheidungen von Experten getroffen werden. Deswegen muss ein verfassunggebender Prozess von unten getragen sein. Es kann nicht sein, dass Juristen wie 1978 in Konferenzräumen über unsere Köpfe hinweg entscheiden.»

Die Gemeinden bilden das Rückgrat

Das Interessante an der Situation in Katalonien heute ist auch, dass die Unabhängigkeitsforderung und der sogenannte Munizipalismus zusammentreffen. Unter diesem Begriff versteht man das Phänomen der kommunalen Bürgerlisten, die in den vergangenen Jahren Hunderte von Rathäusern in Katalonien, aber auch in anderen Teilen des Staats erobert haben. «Wir sind keine Parteibündnisse, sondern basisdemokratische Projekte», erklärt Sabater. «Alle Entscheidungen werden auf Vollversammlungen getroffen. Jede und jeder arbeitet nur als Einzelperson.»

Tatsächlich bilden die Gemeinden das Rückgrat der katalanischen Bewegung. 720 von 950 BürgermeisterInnen haben sich dem Verbot des Verfassungsgerichts widersetzt und organisieren trotz drohenden Verhaftungen das Referendum. Sabater ist stolz auf diesen Bruch mit dem Gesetz. «Es gibt so viele Sachen, die man in Spanien nicht diskutieren darf. Zum Beispiel die Monarchie. Sie wurde von der Diktatur eingerichtet, und eine Mehrheit will heute ihre Abschaffung. Aber es gibt in der Verfassung keine Klausel, die erlaubt, dies auch nur zu debattieren.» Was den 1. Oktober angeht, vertritt Dolors Sabater deshalb einen klaren Standpunkt: «Wir werden alles dafür tun, dass man in den Wahllokalen in unserer Gemeinde normal abstimmen kann.»