Kost und Logis: Dick ist eine Klassenfrage

Nr. 41 –

Bettina Dyttrich über billige Kalorien

Über Übergewicht lässt sich fast nicht reden. Nicht solange die Mode- und Modelindustrie jungen Frauen einbläut, Untergewicht sei wahre Schönheit, und sich jedes Jahr Tausende zu Tode oder zu irreparablen Schäden hungern. Da erfreut jede Frau, die selbstbewusst zu ihren Pfunden steht – wie die US-Sängerin Beth Ditto oder die Westschweizer Tänzerin Eugénie Rebetez –, das feministische Herz.

Aber es gibt da ein Problem. Denn immer mehr Menschen sind nicht dick, weil sie das Leben und das Essen geniessen. Sondern weil sie sich von Food ernähren müssen, der so miserabel ist, dass sie davon krank werden.

Der deutsche Autor Thomas Kruchem ist den Spuren der Junkfoodfirmen im Globalen Süden nachgegangen. Diese Konzerne – im Zentrum stehen Nestlé, Danone, Unilever, Coca-Cola, Pepsi und Mondelez – vermarkten in Entwicklungs- und Schwellenländern aggressiv ihre Süssgetränke, salzigen Snacks und Süssigkeiten. Denn im Norden ist der Markt gesättigt, viele sehen Fastfood kritisch. Und in den meisten armen Ländern sind die Lebensmittelgesetze weniger streng. Firmen dürfen hemmungslos behaupten, ihre Produkte hätten gesundheitsfördernde Wirkung: Danone zum Beispiel bewirbt in Südafrika stark gezuckerte Joghurts, als wären sie Heilmittel. In den USA und Kanada musste der Konzern für solche Behauptungen Schadenersatz in Millionenhöhe zahlen.

Die Expansion hat Folgen: Achtzig Prozent der DiabetikerInnen leben heute in Entwicklungs- und Schwellenländern, viele wissen nicht einmal, dass sie krank sind. Gerade Menschen, die als Kind unterernährt waren, sind besonders gefährdet: Ihr Körper hat sich an weniger Kalorien gewöhnt und wird umso schneller krankhaft übergewichtig und zuckerkrank. Thomas Kruchem fordert unter anderem Werbebeschränkungen, Regeln für den Zucker-, Salz- und Fettgehalt und Steuern auf Junkfood, verbunden mit Subventionen für gesunde Nahrung.

Das ist alles wichtig, doch die agrarpolitischen Zusammenhänge berührt Kruchem nur am Rand. Ein grosser Teil der Junkfoodrohstoffe stammt aus der industriellen Landwirtschaft des Nordens, die so ihre Überschüsse entsorgt. Der US-amerikanische Autor Michael Pollan hat das in seinem Buch «Das Omnivoren-Dilemma» am Beispiel des Maises gezeigt. In den siebziger Jahren wurde die US-Agrarpolitik umgekrempelt: weg von Mengenbeschränkungen, die die Preise stabilisierten, hin zu schrankenloser Billigproduktion. Aus den Überschüssen wurden Treibstoff und Zucker aus Maissirup. Um ihn loszuwerden, vergrösserten die Junkfoodkonzerne systematisch ihre Verpackungen und Flaschen. Wie in Schwellenländern grassieren unter den Armen der USA Diabetes und Übergewicht. Europa ist noch nicht ganz so weit, doch die Richtung ist dieselbe.

Es geht nicht um Menschen, die ihren Appetit nicht zügeln können, sondern um eine Klassenfrage. Darüber sollten wir reden.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin. Thomas Kruchems Buch «Am Tropf von Big Food. Wie die Lebensmittelkonzerne den Süden erobern und arme Menschen krank machen» ist im Transcript-Verlag erschienen. Michael Pollans «Omnivoren-Dilemma» (Goldmann-Verlag) ist auf Deutsch nur noch als E-Book erhältlich.