Interkultur: «Wohlwollend begegnen sie dir nur, solange keine Gefahr besteht, du könntest ihren Platz einnehmen»

Nr. 42 –

Mehr als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung hat keine Vorfahren mit Schweizer Pass, doch die meisten Redaktionen des Landes spiegeln diese Realität nicht wider. Die Alibirussin der WOZ über die möglichen Gründe.

Tiefrote WOZ-Redaktion: Pässe der schreibenden Redaktionsmitglieder. Foto: Florian Bachmann

Wie Sprache und Herkunft miteinander verknüpft sind, begriff ich zum ersten Mal, als ich  fünfzehn war. Ich erinnere mich an den etwas mitleidigen Blick meiner Deutschlehrerin, als sie den korrigierten Aufsatz aufs Pult legte. «Ich kann dir leider keine bessere Note geben», sagte sie, «denn Deutsch ist ja nicht deine Muttersprache.» Ich war mit sechs Jahren aus Russland gekommen, lebte damals also schon jahrelang in Deutschland, war dort in die Primarschule gegangen, dann aufs Gymnasium. Ich sprach viel besser Deutsch als meine Muttersprache und wurde doch ständig und überall gefragt, wieso ich so gut Deutsch sprechen könne. Welche Note ich an diesem Tag bekam oder was das Aufsatzthema war, habe ich vergessen. Ich weiss nur, dass ich mich schämte.

Es hat lange gedauert, bis ich lernte, wütend zu sein statt beschämt. Laut und angriffslustig, statt in ständiger Angst davor zu leben, aufzufallen, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Womöglich beeinflusste mich die Scham aus dem Klassenzimmer sogar in der Berufswahl, begann ich, aus Trotz zu schreiben. Vielleicht bilde ich mir das in der Rückblende aber auch nur ein. Jedenfalls verdiene ich mit Journalismus inzwischen meinen Lohn. In besonders guten Momenten, manchmal auch in den schlechten, wenn ich an mir zweifle, lege ich der Deutschlehrerin aus der zehnten Klasse gedanklich eine Mappe mit meinen Artikeln aufs Pult.

Hier in der Schweiz, wo ich inzwischen lebe, sind Menschen mit Biografien wie meiner keine Ausnahme. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung hat keine Vorfahren mit Schweizer Pass, hat vielleicht eine Geschichte von Flucht zu erzählen, vermutlich eine vom Fremdsein, von Ausgegrenztwerden. Migration ist eine Normalität, sie findet statt, hat die Gesellschaft längst verändert, und sie wird weiter stattfinden.

Neben dem Parlament scheint die Erkenntnis auch an einem anderen Ort nicht angekommen zu sein: Die meisten Redaktionsräume des Landes spiegeln diese Realität nicht wider, auch wenn wohl jeder Chefredaktor das von seinem Medium behaupten würde. Ein Blick ins Impressum der Tageszeitungen, in die Studios der Fernsehsender und in die Newsrooms erweckt den Eindruck, die Schweiz sei gar kein Einwanderungsland. An vielen Konferenztischen  ist kein Platz für Bindestrichidentitäten. Die meisten Biografien der Medienschaffenden sind sich ähnlich, die Redaktionen zu männlich besetzt, zu weiss, zu akademisch. Noch immer.

Verlässliche Zahlen existieren nicht. Schätzungen aus dem Jahr 2007 gingen von zwei bis drei Prozent JournalistInnen mit einer Migrationsgeschichte aus. Eine Studie aus dem vergangenen Jahr zählt umgekehrt 84 Prozent JournalistInnen mit Schweizer Pass. Dieselbe Studie hält fest: Von 909 Befragten haben gerade einmal 21 eine andere Muttersprache als die landesübliche. Auch bei uns auf der WOZ ist das nicht anders, wie das Foto zu diesem Text beweist. Die meisten Pässe der RedaktorInnen sind rot und haben in der Mitte ein weisses Kreuz.

Im Journalismus geht es darum, Geschichten zu erzählen. Um eine Art, auf die Welt zu schauen, einen Blick für Themen, für die Frage, was relevant ist und was nicht. Wie kommt es also, dass dieser Blick noch immer so oft von Leuten geprägt wird, die einen ähnlichen Ausschnitt der Welt kennen? Dass die Stimmen derjenigen, die aufgrund biografischer Expertise eine andere Sicht in die Redaktionen bringen könnten, selten zu hören sind?

Die Exklusion des Fremden

Beharrlich besteht in der Schweiz die Weigerung fort, sich als Einwanderungsland zu begreifen. Seit Jahrzehnten beherrscht ein «Überfremdungsdiskurs» das Land, in dem MigrantInnen stets entweder Arbeitskräfte oder Asylsuchende sind. So mögen sie vielleicht gerade  geduldet sein, doch im gleichen Augenblick wird ihnen auch bedeutet, möglichst bald wieder zu gehen. Dass sie oder ihre Kinder Chefredaktorinnen werden oder «Arena»-Moderatoren, dass sie Einfluss nehmen auf die öffentliche Meinung, ist nicht vorgesehen.

Dass in der Politik die Konstruktion eines «wir» und eines «sie» so dominant ist, mag historisch mit der Vorstellung einer Willensnation zu tun haben. Im teilweise verzweifelten Versuch, vier Landessprachen und zwei Konfessionen zu integrieren, lag immer auch der Ausschluss derjenigen begründet, die nicht dazugehörten und doch immer präsent waren. Dass auch die Redaktionen der Spiegel eines langjährigen politischen Projekts sind, in dem die Exklusion des vermeintlich Fremden immer Priorität hatte, könnte wiederum an der starken Bindung des Medien- an den Politbetrieb liegen. Im internationalen Vergleich erfolgte der Abschied von der Parteipresse in der Schweiz sehr spät. In den letzten Jahren hat die Beeinflussung wieder zugenommen, gerade durch die Partei, bei der Ausgrenzung Programm ist.

Für viele MigrantInnen erscheint der Journalismus wohl auch deshalb wenig attraktiv, weil er keinen klassischen «Aufstiegsberuf» darstellt. Viele Eltern wünschen sich aufgrund ihrer eigenen Situation, dass ihre Kinder Ärztinnen oder Juristen werden, statt gegen immer schlechtere Bezahlung Texte zu schreiben. Vielleicht liegt die Abwesenheit migrantischer Stimmen auch in einer Angst begründet, die Sprache nicht genug zu beherrschen, was für den Journalismus wiederum die Grundvoraussetzung ist. Die Berner Autorin Meral Kureyshi, die Anfang der neunziger Jahre als Kind mit ihren Eltern aus dem Kosovo in die Schweiz kam, beschreibt in ihrem Debütroman «Elefanten im Garten» treffend, was es heisst, wenn die Worte fehlen: «Ich mag die deutsche Sprache nicht; sie ist meine Muttersprache. Meine Mutter spricht kein Deutsch. Mit dem Verlassen meiner Kindersprache habe ich mich selbst verlassen.»

Ablehnung kann übrigens auch durch wohlmeinende Äusserungen erfolgen. Ein Redaktionskollege beklagte sich kürzlich, wie selten MigrantInnen in die Medienbranche drängten. Auch er sah die Ursache in den mangelnden Aufstiegschancen, dem langwierigen Spracherwerb. Als ich seine These mit meiner eigenen Biografie zu widerlegen versuchte, wurde ich zur «falschen» Migrantin erklärt. Weil meine Eltern einen akademischen Hintergrund haben, weil ich in Deutschland aufwuchs. Kurioserweise werde ich in der Schweiz zumeist als Deutsche wahrgenommen, und wieder stülpt man mir irgendeine Identität über. Das Gefühl, irgendwie nie dazuzugehören, kenne ich zur Genüge. Noch einmal wurde ich zur Fremden gemacht.

Der «richtige» Migrant ist einer, der gefördert werden muss, dem man die Sprache beibringen und dessen erste Gehversuche im Schreiben man Korrektur lesen kann. Einer, der dafür auch demütig zu sein hat und dankbar. Der «falsche» Migrant hingegen widersetzt sich diesem Narrativ, weigert sich, die ihm zugewiesene Rolle zu spielen, eine Rolle, die stets die des Bittstellers ist. Auch wenn er das fehlerfreie Schreiben selbst gelernt hat und die Sprache längst so gut beherrscht wie die Einheimischen. Wohlwollend begegnen sie dir nur, solange keine Gefahr besteht, du könntest ihren Platz einnehmen. Dabei geht es auch immer um Angst: davor, die Herrschaft mit jemandem zu teilen, den man bisher in sicherer Entfernung wähnte.

«Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang», schreibt Ilija Trojanow in seinem neusten Buch, «Nach der Flucht». Ich will meinem Kollegen davon erzählen, wie es sich in einer Asylunterkunft lebt, von den Erlebnissen in der Schule, den immer gleichen Fragen nach  Herkunft und Identität. Ich überlege es mir anders, finde für meine Gefühle nicht die richtige Sprache. Und ist nicht alles schon lange her, bin ich nicht längst erwachsen und selbstbestimmt? Die Flucht wirkt auch in meinem Leben fort.

Mitbürgerin statt Exot

Journalismus ist nicht einfach die Wiedergabe von Fakten, sondern bringt im besten Fall auch eine Erfahrung und eine Haltung zum Ausdruck – und die sind stets durch die eigene Biografie bestimmt. Es ist nicht nur wichtig, wie über Themen berichtet wird, sondern auch wer darüber berichtet. Weil es einen Unterschied macht, wer eine Sprechposition erhält und wessen Name unter dem Leitartikel steht. Ob jemand der Mittelschicht angehört, keine Migrationserfahrung hat und entsprechend keine Diskriminierung kennt – oder ob eine Stimme hörbar wird, die weiss, wie es sich anfühlt, sich in der Dominanzgesellschaft durchkämpfen zu müssen. «Die Erzählung von Flucht wird meist aus dem Blickwinkel des Stillstands geschrieben. So wie die Sesshaften die Nomaden nie verstehen werden, können die vermeintlich Standfesten die Fliehenden nur missverstehen. Flucht kann allein aus der Bewegung heraus begriffen werden», schreibt Trojanow.

Die meisten JournalistInnen befassen sich mit Themen, die sie selbst interessieren, die sie am Schluss auch selbst betreffen. In einer homogenen Redaktion können Geschichten  über Ausgrenzung, Rassismus oder Sexismus deshalb leicht verschwinden. Finden die Themen doch statt, behandelt man sie oft ungeschickt bis ignorant. People of Color oder Menschen mit fremd klingenden Namen kommen oft nur dann vor, wenn Migration als Problem oder Anomalie verhandelt wird. Oder ist in «10 vor 10» schon mal ein Afroschweizer zur Bundesratswahl befragt worden, eine junge Frau mit Kopftuch zur SVP? Nicht als Exot, sondern als Mitbürgerin?

Selbst wenn man rein ökonomisch argumentieren würde, ist es übrigens unverständlich, dass die meisten Medien so leichtfertig auf diese Stimmen verzichten. Mit grösserer Vielfalt liesse sich letztlich auch ein zahlenmässig bedeutsames Publikum erschliessen und so der Finanzierungskrise entgegenwirken.

Selbstverständlich schaffen Bindestrichidentitäten nicht zwangsweise mehr Vielfalt in den Redaktionen, bringen nicht unbedingt andere Themen ins Blatt. Dies mag daran liegen, dass der Anpassungsdruck hoch ist: nicht deutlich Partei zu ergreifen, um journalistisch ernst genommen zu werden und keinesfalls als aktivistisch zu gelten. Oder weil man sich von anderen «Fremden» abgrenzen will. Auch ich will nicht die Alibimigrantin der Redaktion sein, nicht die Russin vom Dienst, die der Schweizer LeserInnenschaft das Land meiner Eltern erklärt und damit erneut zur Fremden gemacht wird. Lieber will ich über das schreiben, was mich interessiert. Doch zugleich möchte ich meine Stimme nutzen, um das Land, in dem ich geboren bin, verständlicher werden zu lassen, will meine Meinung zu Papier bringen.

Die Gegensätze aufheben

Das Bewusstsein dafür, dass die Welt, über die man jeden Tag berichtet, eine andere ist, als es die Zusammensetzung der Redaktionskonferenzen vermuten lässt, ist oft klein. An der Schweizer Journalismusschule MAZ sieht man sich beispielsweise nicht in der Pflicht, die Repräsentation zu verbessern – zumindest versteht man Inklusion offiziell nicht als Aufgabe der Bildungsinstitution. Die SRG, die gemäss Konzession unter anderem den Auftrag hat, «die Integration der Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz» zu fördern, bemüht sich nach eigenen Angaben, Migration als Normalität darzustellen, landet dabei jedoch bisweilen unfreiwillig im Exotismus. Und in den Redaktionen, in denen ich gearbeitet habe oder arbeite, findet dieses Thema kaum Beachtung. Während Frauenförderung inzwischen zumindest als notwendig erachtet wird, hinkt die Förderung von Menschen mit Einwanderungsgeschichte gewaltig hinterher.

Dass der Umgang mit Vielfalt in den Redaktionen auch anders sein kann, zeigt ein Blick nach Deutschland, wo der Anteil der JournalistInnen nichtdeutschen Ursprungs zwar nicht wesentlich höher ist, ihre Sichtbarkeit hingegen schon – und auch das Problembewusstsein: Es gibt Volontariatsstellen, die sich an Frauen mit Migrationsgeschichte richten, Stipendien, die den Einstieg erleichtern sollen, Projekte, die bikulturelle ExpertInnen in einer Datenbank versammeln, damit nicht ständig die gleichen Personen Auskunft geben. Und eine Gruppe von JournalistInnen füllt mit ihrer «Hate Poetry» Theatersäle: Sie lesen hasserfüllte Briefe vor, die KollegInnen mit deutschen Namen so nie bekommen.

Es sei nicht erklärungsbedürftig, warum man JournalistInnen mit abweichender Biografie einstellt, sondern «erklärungsbedürftig ist, warum man es nicht tut», meinte Bernd Ulrich, Politikchef der «Zeit» und damit einer der mächtigsten Medienmacher in Deutschland, in einem Interview. Es sei ein Unterschied, wie über den EU-Beitritt der Türkei diskutiert werde, wenn jemand mit einem türkischen Hintergrund mit am Tisch sitze. Entsprechend arbeiten in seinem Ressort auch ganz selbstverständlich Journalistinnen mit türkischen, vietnamesischen oder polnischen Wurzeln.

Die Eidgenössische Ausländerkommission hat zwar bereits 2005 Empfehlungen für die Öffnung der Institutionen publiziert. Demnach sei der «Zugang zu Stellen für Personen mit Migrationshintergrund zu erleichtern, bis der Anteil der Beschäftigten ungefähr dem Anteil der Zugewanderten in der Bevölkerung entspricht». Zudem sollen die Beschäftigten «im Umgang mit Vielfalt geschult und sensibilisiert werden». Die Forderungen wurden wenig beachtet, haben aber nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Damit sich in den Schweizer Redaktionen etwas ändert, muss der Druck massiv erhöht werden. Praktika und Volontariate speziell für Menschen mit Einwanderungsgeschichte können den Zugang erleichtern, sie zur Mitsprache ermuntern. Spezifische Rubriken in den Medien können MigrantInnen eine Plattform bieten. Auch über Quoten sollte diskutiert werden, denn wie die Frauenemanzipation lehrt, geht es nicht ohne sie. Sensibilisiert werden müssen auch Redaktionsleitungen und JournalistInnen. Sie könnten zur nächsten Blattkritik jemanden einladen, der die Darstellung von Migration mit biografischer Expertise infrage stellen kann.

Doch entscheidend ist auch etwas anderes: die Aufhebung der Unterscheidung in «wir» und «sie», ob sie nun negativ-rassistisch gemeint ist oder wohlmeinend-fördernd. Das Paradoxe dabei ist: Der Zustand lässt sich nur erreichen, indem man die Erfahrung der Ausgrenzung beschreibt und damit die negativen Attribute wiederholt. Doch durch die Beschreibung werden die Zuschreibungen auch zur Verhandlungssache, bis sie sich zunehmend auflösen. Aus Biografien mit einem vermeintlichen Makel werden Merkmale. Und irgendwann könnte die Schweiz dann als Ort für alle begriffen werden, die gerade hier sind und noch kommen werden. Gewonnen haben wir erst, wenn Leute mit fremd klingenden Namen wie selbstverständlich aus dem Bundeshaus oder von der Novartis-GV berichten.