Mobilität in Afrika: Grenzen der Unabhängigkeit

Nr. 45 –

Während Europa seine Aussengrenzen ins nördliche Afrika verschiebt, forciert die Afrikanische Union die Vision eines Kontinents ohne Landesgrenzen. Ein zweischneidiges Unterfangen.

Wenn sich die «Kontaktgruppe Zentrales Mittelmeer» am 13. November in Bern trifft, werden sich die offiziellen Statements der teilnehmenden Staaten und Institutionen zwar auf hehre humanitäre Motive berufen. Ihre Beteuerungen sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Treffen innerhalb einer simplen Logik stattfindet: Europa will afrikanische MigrantInnen fernhalten. Und weil die menschenverachtenden Konsequenzen dieser Politik derzeit in allzu unbehaglicher Sichtweite liegen, verlagert es seine Abschottungsbemühungen sukzessive weiter südwärts.

Dabei zählt die EU insbesondere auf die Mithilfe der drei Sahelstaaten Mali, Niger und Tschad. Noch ist ungewiss, welche Form die Zusammenarbeit genau annehmen wird; klar ist jedoch, dass europäische Interessen in Afrika einmal mehr von lokalen Machthabern durchgesetzt werden sollen. Darin schwingt nicht nur eine unverkennbare neokolonialistische Note mit, sondern auch eine gehörige Portion Ironie. Denn ausgerechnet der tschadische Präsident Idriss Déby, seit 1990 im Amt, soll an der neuerlichen europäischen Expansion mitwirken. Noch im Sommer vergangenen Jahres stand dieser aber symbolträchtig für eine ganz andere Vision ein: für diejenige eines grenzenlosen Afrika.

Projekt afrikanischer Ermächtigung

Damals, im Juli 2016, posierte Déby in der ruandischen Hauptstadt Kigali vor den Fotografen, die sich am Gipfel der Afrikanischen Union (AU) eingefunden hatten. In den Händen hielt er einen druckfrischen Afrikanischen Pass: Als AU-Vorsitzender wurde er neben dem ruandischen Präsidenten Paul Kagame zum allerersten Besitzer jenes Reisedokuments, das gemäss AU bald schon allen AfrikanerInnen die uneingeschränkte Mobilität auf dem Kontinent ermöglichen soll. «Ich fühle mich tief und stolz als echter Sohn Afrikas», sagte Déby. Und Nkosazana Dlamini-Zuma, Vorsitzende der AU-Kommission, beschwor den Pass als Schritt in Richtung «eines starken, prosperierenden und integrierten Afrika, das von seinen eigenen Bürgern angetrieben ist und fähig, seinen verdienten Platz auf der Weltbühne einzunehmen».

Die Vision eines grenzenlosen Afrika geht nicht zuletzt auf den alten panafrikanischen Traum zurück, das koloniale Vermächtnis unter anderem durch die Beseitigung der oft willkürlich gezogenen Landesgrenzen zu überwinden. Auch in der «Agenda 2063», einem langfristigen Strategiepapier der AU, ist die Einführung eines Afrikanischen Passes als Ziel formuliert. Und für viele AfrikanerInnen gibt es gute Gründe, dies herbeizusehnen. Denn ein Grossteil der Staaten hält bislang an notorisch restriktiven Einreiseregimes gegenüber den Angehörigen afrikanischer Staaten fest.

Visumsfrei einzureisen oder sich gleich bei der Ankunft ein Visum ausstellen zu lassen, wird durch einen Schweizer Pass gemäss der Website «Passport Index» in 30 der 55 afrikanischen Länder ermöglicht. Aber nur 13 Staaten des Kontinents gewähren dies sämtlichen AfrikanerInnen. In einer Mehrzahl der Länder müssen Visa vorab beantragt werden, was oftmals einen enormen bürokratischen Aufwand bedeutet. Eine flexible legale Mobilität bleibt den meisten AfrikanerInnen deshalb verwehrt. So lässt sich die Vision der AU durchaus als Projekt afrikanischer Ermächtigung verstehen: Wenn AfrikanerInnen schon überall sonst auf der Welt auf generell hohe Einreisehürden stossen, so sollen ihre Pässe doch wenigstens auf dem eigenen Kontinent mehr wert sein als jene reicher und mächtiger westlicher Länder.

Die Hürden sind hoch

Und dennoch weckt das Projekt eines AU-Passes auch Zweifel – zuallererst punkto planmässiger Umsetzbarkeit. Bereits ab 2020 soll der Pass nämlich afrikaweit ausgestellt werden. Es ist kaum anzunehmen, dass dessen Anerkennung bis dahin in sämtlichen Staaten implementiert wird. Hinzu kommen infrastrukturelle Hürden: Die Herstellung des biometrischen Passes und die technische Aufrüstung der Einreisestellen würden in vielen Ländern unrealistisch grosse Investitionen voraussetzen.

Darüber hinaus droht sich der AU-Pass als ein weiteres Projekt zu entpuppen, das vor allem einer wohlhabenden Elite zugutekommt. Trotz aller Rhetorik der AU bleibt abzuwarten, ob dereinst ausser Staatsmännern, Diplomatinnen und reichen Geschäftsleuten auch andere BürgerInnen in Besitz des Passes gelangen werden. Überhaupt scheint das Projekt ziemlich entrückt von der Lebensrealität der allermeisten AfrikanerInnen: Gemäss Weltbank verfügen über zwei Drittel der Menschen in Afrika südlich der Sahara heute nämlich über keine gültigen Identitätspapiere. Entsprechend gross ist denn auch der Anteil jener, die auf irregulärem Weg ihre Herkunftsländer verlassen und sich insbesondere in Afrikas urbanen Zentren als ArbeitsmigrantInnen aufhalten.

Letztlich verfolgt die AU mit der Vision eines grenzenlosen Kontinents vor allem auch das Ziel, der Wirtschaft einen Wachstumsimpuls zu verpassen. So erklärt die «Agenda 2063» auch den kontinentalen Freihandel zum Fernziel. Bis heute bewegt sich der innerafrikanische Handel auf sehr tiefem Niveau, grenzüberschreitende Warentransporte sind so teuer wie auf keinem anderen Kontinent. Die Grenzöffnungen sollen auch eine Diversifizierung der Märkte begünstigen und so die Abhängigkeit vieler Länder von einzelnen Exportgütern – oftmals von Rohstoffen – und deren Absatzmärkten lindern.

Aber auch hier bezweifeln KritikerInnen, dass die AU mit der flächendeckenden Grenzöffnung die richtigen Prioritäten setzt. «Die AU sollte sich auf die koordinierte Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in ganz Afrika konzentrieren», schreibt etwa der ruandische Blogger Samuel Baker. «Ein Schlüsselfaktor ist dabei vielmehr die Infrastruktur.»

Falsch wäre es auch, die AU als alleinige Treiberin der wirtschaftlichen Integration Afrikas zu betrachten. Denn auf regionaler Ebene geschieht diese vielerorts seit Jahren: Mehrere der acht von der AU anerkannten regionalen Wirtschaftsgemeinschaften haben schrittweise die Einreisebestimmungen für die BürgerInnen ihrer Mitgliedstaaten gelockert. Angehörige der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas können etwa mit einem eigenen Pass visumsfrei in die fünfzehn zugehörigen Staaten einreisen, geplant ist auch der freie Güterverkehr.

Und dennoch blieb der Ruf der AU nach einem grenzenlosen Kontinent nicht unerwidert. Eine Reihe von Ländern – darunter Ghana, Benin oder zuletzt Namibia – haben seither angekündigt, sich am Projekt zu beteiligen. Und auch Südafrika, dessen Innenministerium in diesem Frühling mitteilte, es arbeite auf die visumsfreie Einreise für «alle afrikanischen Bürger» hin. «Aber vorerst», heisst es in derselben Mitteilung, «werden ‹vertrauenswürdige Reisende› wie Diplomaten, Beamte, Akademiker, Geschäftsleute und Studenten als Einzige profitieren.»

Lehrstück Europa

Es ist nicht überraschend, dass gerade Südafrika dies im Speziellen betont. Schon mehrmals kam es dort in den vergangenen Jahren zu fremdenfeindlichen Übergriffen, weil Teile der von Armut betroffenen Bevölkerung die Schuld für ihre wirtschaftliche Benachteiligung bei ImmigrantInnen zu erkennen glaubten. Gerade auch mit Blick auf Europa, wo die Akzeptanz gegenüber der Personenfreizügigkeit mittlerweile vielerorts kräftig gesunken ist, äussern sich KommentatorInnen wie der südafrikanische Rechtsprofessor Cristiano D’Orsi besorgt. Eine schrankenlose Personenmobilität könne zu einem verstärkten Konkurrenzdruck auf den Arbeitsmärkten führen – und damit auch zu fremdenfeindlichen Reflexen, so die Befürchtung. Und angesichts ihrer zumeist sehr geringen Ressourcen dürfte es den afrikanischen Staaten kaum gelingen, solche Effekte durch rechts- und sozialstaatliche Mechanismen abzufedern.

Unter den gegebenen Umständen lässt sich im Afrikanischen Pass letztlich nur schwer das emanzipatorische Projekt erkennen, als das ihn die AU bewirbt. Denn eine marktradikale Flexibilisierung von Arbeits- und Warenmärkten wird Afrika nur noch deutlicher in die Hackordnung der globalen Wirtschaft einbinden, und zwar ganz in der Logik der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die im August in Paris über afrikanische MigrantInnen sagte: «Bei Menschen, die zu uns aus wirtschaftlichen Gründen kommen wollen, geht es natürlich darum, dass diejenigen kommen, die wir brauchen, Pflegekräfte beispielsweise.» Genau dieser Verwertungslogik würde sich eine echte emanzipatorische Vision entziehen.