Strafvollzug: «Das war keine Meuterei, das war ein Hilferuf»

Nr. 48 –

Über fünfzig Häftlinge streikten letzte Woche in der Berner Justizvollzugsanstalt Thorberg. Die Gefängnisleitung beendete den Protest mit harten Repressalien. Und verweigert sich kritischen Fragen nach den Haftbedingungen in der Berner Problemanstalt.

Acht Quadratmeter grosse Zellen: «Und manche haben Schimmelpilz», sagt ein Häftling im Thorberg. Foto: Hansueli Trachsel

Als Thomas Egger letzten Freitag schliesslich vor die Medien trat, tat er es sichtlich befriedigt. Der Streik sei beendet, sagte der Direktor der Justizvollzugsanstalt Thorberg in die Mikrofone. Alle Häftlinge seien wieder ordentlich an ihrem Arbeitsplatz erschienen. Und Egger gab ein Versprechen ab: Man werde die Schaffung eines «Intimbesuchszimmers» prüfen. Er ging damit auf die Forderung ein, die in den Boulevardmedien nach Streikbeginn Ende vorletzter Woche am meisten Resonanz ausgelöst hatte. «Zu wenig Sex: Häftlinge streiken» hatte der «Blick» am Montag getitelt, und er hatte damit den dreiseitigen Forderungskatalog der Häftlinge auf den publikumswirksamsten Punkt reduziert.

Eggers Auftritt hatte ein offensichtliches Ziel: Er will, dass so schnell wie möglich Gras über den Streik auf dem Thorberg wächst. Schliesslich hat er seit seinem Amtsantritt 2014 genug damit zu tun, die alten Skandale aufzuräumen: Der Thorberg sorgt immer wieder für Negativschlagzeilen. Der grösste Skandal ereignete sich unter Eggers Vorgänger Georges Caccivio, der im Bieler Drogenmilieu verkehrte und sich mit einzelnen Häftlingen verbrüderte. Nach Caccivios Absetzung wurde der Strafvollzugsexperte Benjamin Brägger mit einer Administrativuntersuchung beauftragt. Diese fiel äusserst kritisch aus: Brägger bemängelte nicht nur die Führungsstruktur der Anstalt, er kritisierte auch die mangelnde Umsetzung der Standards, die für die Gefängnisse des Strafvollzugskonkordats Nordwest- und Innerschweiz gelten. Er sei teilweise rund 20 bis 25 Jahre in die Schweizer Vollzugsvergangenheit zurückversetzt worden, schrieb Brägger. Auch das Betriebsklima kritisierte er: Das Personal auf dem Thorberg vertrete ein sehr traditionelles Welt- und Menschenbild. «Im Freiheitsentzug muss man konsequent und menschlich sein, auf dem Thorberg fehlt beides.»

Sexualität als Krisenthema

Auch Inhaftierte berichteten 2014 von einem schlechten Klima, einem repressiven System und fehlenden Standards. Unabhängig voneinander schilderten zwei Häftlinge im «Schwarzen Peter», der Zeitschrift der Gefangenenorganisation Reform 91, die Zustände als «schockierend»: Rassismus und Schikanen seien an der Tagesordnung. Die Gefängnisphilosophie spiegle sich in den Haftbedingungen wider. Die beiden Insassen beklagten sich etwa über zu wenig Besuchszeit. «Uns stehen fünf Stunden pro Monat zu, und diese werden regelmässig verkürzt, weil die Kontrollen erst bei Besuchsbeginn stattfinden.» Sie beschrieben die mangelnden Bewegungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten und beklagten, dass es statt Ausbildungsmöglichkeiten nur «stumpfsinnige Arbeit» gebe. Zudem kritisierten die Häftlinge, dass auf dem Thorberg die Zellen samstags und sonntags während 21 Stunden geschlossen bleiben. «Einzelzellen haben eine Grösse von acht Quadratmetern», schreibt ein Häftling. «Die Einrichtung ist schlicht und veraltet. Im Winter friert man, und es gibt kein Warmwasser. In der Zelle ist es feucht, gewisse Zellen haben Schimmelpilze.»

Die Schilderungen werden von Experten bestätigt. «In gut informierten Kreisen gilt der Thorberg als schwieriges Gefängnis», sagt ein Jurist, der anonym bleiben möchte. «Die Anstalt erfüllt ihren Reintegrationsauftrag schlecht, es gibt überdurchschnittlich viele Reklamationen.» Regisseur Dieter Fahrer verkehrte für seinen preisgekrönten Dokumentarfilm «Thorberg» zwischen 2008 und 2012 regelmässig in der Berner Justizvollzugsanstalt. Sein Fazit: «Der Thorberg taugt nicht als geschlossene Vollzugsanstalt. Die alte Anstalt thront wie eine Festung auf dem Berg. Es fehlen schlicht die baulichen Voraussetzungen für Verbesserungen.» Es gibt nur einen kleinen Innenhof, ein Sportplatz fehlt, auspowern können sich die Gefangenen nur in einem kleinen Fitnessraum. «Früher gab es zumindest Aussenarbeitsplätze: Die Häftlinge konnten etwa auf Kartoffelfeldern arbeiten. Das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis unserer Gesellschaft hat dazu geführt, dass diese komplett abgeschafft wurden. Das hat zur Folge, dass die Häftlinge körperlich quasi erlahmen.» Dazu komme der sexuelle Frust: «Sexualität war ein absolutes Krisenthema während meiner Zeit auf dem Thorberg», sagt Fahrer. «Viele Gefangene erledigten ihre sexuelle Notdurft zusammen.»

Ein privates Zimmer für Besuche ist nur ein Punkt aus dem Forderungskatalog, den die über 50 streikenden Häftlinge (von etwa 160 Insassen) letzte Woche der Gefängnisleitung übergaben und dem «Blick» zuspielten. Die Insassen fordern zudem etwa ein Ende der Isolationshaft am Wochenende, und sie beklagen sich über das Essen, das weder geniessbar noch ausreichend sei. Kritisiert werden zudem die hohen Kioskpreise und der im Vergleich zu anderen Anstalten geringe Lohn sowie die Behandlung durch einzelne Betreuer.

Drakonische Strafen

Strafverteidiger Stephan Bernard, der die Haftanstalt von seiner Arbeit kennt, überraschen die Klagen nicht. Wenn die Haftbedingungen in der Summe schlecht seien, äussere sich das oft in Beschwerden über mangelhaft erfüllte Grundbedürfnisse, sagt er. «Die Perspektivlosigkeit einer Haftstrafe führt zu einem Zustand der primären Körperlichkeit. Gutes Essen, körperliche Ertüchtigung: Diese Dinge werden dann zentral.» Bernard kritisiert aber in erster Linie den Umgang der Gefängnisleitung mit dem Streik. Polizisten stürmten letzte Woche den Thorberg, um die «Rädelsführer» zu isolieren und in andere Gefängnisse zu verlegen. Die restlichen Streikenden wurden drakonisch bestraft: mit Duschverbot, Einkaufsverbot, Streichung des Spaziergangs sowie aller Medien.

Anfang dieser Woche gaben sie den Protest auf und nahmen die Arbeit wieder auf. «Selbstverständlich hat die Gefängnisleitung das Recht, Disziplinarmassnahmen zu ergreifen», sagt Stephan Bernard. «Aber man hätte stattdessen auch eine Mediation organisieren können. Das hätte eine ganz andere Signalwirkung gehabt: Ihr kommt wieder arbeiten, aber wir nehmen euch ernst.» Auch Peter Zimmermann, Präsident der Gefangenenorganisation Reform 91, kritisiert die Reaktion der Gefängnisleitung: «Sie reagierte mit Repression. Dabei war das, was auf dem Thorberg passierte, keine Meuterei, sondern ein Hilferuf der Insassen.»

Die Berner Polizeidirektion unter FDP-Regierungsrat Hans-Jürg Käser steht derzeit unter Druck. Erst kürzlich stand er in der Kritik, weil Bern als einziger Kanton eine sogenannte Watchlist führte, mit der Häftlinge, deren Straftaten eine grosse Medienresonanz ausgelöst hatten, einer speziellen Beobachtung unterstellt werden. Erst nach einem entsprechenden Gerichtsurteil gab der Kanton das rechtsstaatlich unhaltbare Vorgehen auf.

Den Thorberg hat der Kanton nach dem Eklat um Caccivio einer Reorganisation unterzogen, die Resultate präsentierte man im Sommer. Der Fokus liegt auf einer strafferen Führungsorganisation und der Einführung von Vollzugsplänen für Häftlinge. Auch andere Standards will man verbessern, doch wer Konkretes in Erfahrung bringen will, prallt auf eine Mauer des Schweigens: Gefängnisdirektor Egger lässt die Fragen nach eingeleiteten Massnahmen unbeantwortet. Auch das Berner Amt für Justizvollzug will dazu keine Auskunft geben.

«Der Thorberg ist wie ein altes Auto»

Derweil hakt die Politik nach. Der grüne Grossrat Hasim Sancar stellt in einer Interpellation grundsätzliche Fragen: «Wie viele Ausbildungsplätze gibt es inzwischen für Inhaftierte? Haben die Inhaftierten die Möglichkeit, Sport zu treiben? Gibt es genügend Freizeitangebote? Wie lange sind die monatlichen Besuchszeiten der Inhaftierten?» Einige Fragen nehmen Bezug auf einen Besuch der nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF), die den Thorberg 2012 besuchte – und primär Fortschritte bei der Ausbildung, der Beschäftigung und den Sportmöglichkeiten forderte. Auch ein privates Besuchszimmer forderte die NKVF bereits damals. Dieses Jahr erfolgte ein weiterer Besuch der NKVF auf dem Thorberg. Die Ergebnisse werden jedoch erst nächstes Jahr öffentlich.

Die Berner Justizvollzugsanstalt Thorberg. Foto: Hansueli Trachsel

Man wolle 2018 eine Strategie zu den kantonalen Gefängnissen präsentieren, sagt Thomas Freytag, Leiter des Berner Amtes für Justizvollzug. Und er fügt Interessantes an: «Der Thorberg ist wie ein altes Auto, bei dem man sich immer wieder fragen muss, ob sich eine Investition noch lohnt.» Rein infrastrukturell lasse sich die Justizvollzugsanstalt nicht mit anderen Anstalten vergleichen. «Derzeit erfüllt der Thorberg zwar noch die Bedingungen, aber er hat seine Grenzen. Langfristig müssen wir uns deshalb überlegen, ob er weiter als Anstalt für den geschlossenen Justizvollzug benutzt werden kann.»