Sachbuch: Das Profane ist politisch

Nr. 49 –

Der französische Soziologe Didier Eribon legt in seinem neuen Buch «Gesellschaft als Urteil» die Schichten seiner Herkunftsscham frei. Mit Eitelkeit, wie manche meinen, hat das nichts zu tun.

Ein Zuckerschlecken war das Leben im Spätmittelalter gewiss nicht: Das Volk darbte, ständig wütete die Pest, und allzu forsche Freigeister bekamen es mit der Inquisition zu tun. Allerdings hatte der Feudalismus den Vorzug, dass die Verhältnisse zwischen Herr und Knecht eindeutig waren: Wer in der Ständegesellschaft den Bodensatz bildete, kam kaum auf die Idee, die Obrigkeit als seinesgleichen zu betrachten. In der bürgerlichen Gesellschaft wurde das anders. Fortan waren zumindest die Männer rechtlich gleichgestellt, die Philosophen der neuen Ordnung beschrieben diese auch nicht mehr als gottgewolltes Unterwerfungsverhältnis, sondern als Produkt der Übereinkunft selbstbestimmter Individuen. Herrschaft und Gewalt waren deswegen nicht verschwunden, nur waren sie nicht mehr so leicht zu identifizieren.

Der bürgerlichen Gesellschaft wohnte somit von Anfang an die Tendenz inne, sich als beste – und freiste – aller möglichen Welten darzustellen. Folgt man dem französischen Soziologen Didier Eribon, breitete sich diese Ideologie vor allem in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg aus: Seither erfreut sich die Deutung grosser Popularität, dass aus der Klassen- eine Mittelstandsgesellschaft geworden sei, die «Wohlstand für alle» bringe. Klassenkämpferische Parolen wirken in dieser Perspektive wie ein peinlicher Anachronismus.

Feines Gespür für Unterschiede

Eribon zählt zu den bekanntesten KritikerInnen einer solchen Interpretation der sozialen Wirklichkeit. Der Schüler von Pierre Bourdieu hat im autobiografischen Bericht «Rückkehr nach Reims» (2016) den Mythos vom Ende der Klassengesellschaft angegriffen und damit sieben Jahre nach dem französischen Original auch im deutschsprachigen Raum hohe Wellen geschlagen; gerade auch im bürgerlichen Feuilleton wurde das Buch begeistert aufgenommen. Eribon beschrieb darin, wie er nach dem Tod seines Vaters ins elterliche Heim zurückgekehrt war, und nahm diese persönliche Erfahrung zum Anlass, seinen Weg vom Arbeiterkind zum Pariser Intellektuellen soziologisch zu reflektieren. Politisch brisant war das vor allem deshalb, weil Eribon ein feines Gespür dafür bewies, alltägliche, aber nur selten thematisierte Aspekte von Klassenherrschaft offenzulegen.

Diesen Ansatz verfolgt er auch in seinem neuen Werk. Es gehe ihm, so heisst es in «Gesellschaft als Urteil», um eine «Schichtenkunde der ‹Scham›», also darum, «Formen von Inferiorisierung und Unterwerfung» zu erkunden – ein Unterfangen, das er auch als «Hontologie» (von Französisch «la honte»: die Scham) bezeichnet. Damit ist treffend die Absicht beschrieben, die den Autor schon bei seiner «Rückkehr nach Reims» leitete. «Gesellschaft als Urteil» ist aber kein Versuch, die Erkenntnisse aus dem vorangegangenen Werk zu theoretischen Begriffen zu destillieren oder empirisch zu fundieren. Eher wirkt das Bändchen wie ein sehr lang geratenes Nachwort, in dem Eribon die Fragen aus «Rückkehr nach Reims» ein weiteres Mal aufwirft, um sie aus einem anderen Blickwinkel erneut zu reflektieren. Dabei erweist er sich abermals als scharfsinniger Kritiker der Klassengesellschaft. Diesmal konzentriert er sich allerdings nicht so sehr auf die eigene Biografie als vielmehr auf Klassiker der Literatur, Philosophie und Soziologie: Texte etwa von Simone de Beauvoir, Paul Nizan, Annie Ernaux oder Pierre Bourdieu werden in «Gesellschaft als Urteil» ausführlich besprochen.

Gegen den Proletkult

Im Vergleich zur schonungslosen Selbstanalyse von «Rückkehr nach Reims» ist dieses Vorgehen womöglich weniger packend – aufschlussreich ist es aber allemal. Das gilt etwa für Eribons Auseinandersetzung mit dem britischen Soziologen Richard Hoggart, der zwar schon in der Ära des «Wirtschaftswunders» die Rede vom Ende der Klassengesellschaft als Ideologie attackiert hatte. Eribon weist aber überzeugend nach, wie Hoggart gleichzeitig Geschlechterhierarchien mystifizierte, indem er die traditionelle Arbeiterfamilie und deren Werte verklärte. Man gebe, so Eribon, nicht die Logik einer Kultur wieder, indem man ein Loblied auf sie singe; und damit hat er bereits alles Nötige zu einem derart wissenschaftlich verbrämten Proletkult gesagt.

Allerdings sind auch in «Gesellschaft als Urteil» die stärksten Passagen die, in denen der Autor aus eigenen Erfahrungen schöpft. Einmal, erzählt Eribon, sei er auf einer mondänen Party einer Frau begegnet, von der es hiess, dass ihre Familiengeschichte bis ins 12. Jahrhundert zurückreichen würde. Schlagartig wurde dem Arbeiterkind damals klar: «Meine ‹Genealogie› ist grau, sie ist anonym und stumm …» Selbst so etwas vermeintlich Profanes wie das eigene Gedächtnis ist keine unpolitische Angelegenheit, was nicht minder für den Kanon der Weltliteratur gilt, in dem man Werke, die aus der Sicht Bediensteter verfasst wurden, lange suchen kann.

Mit Eitelkeit haben derlei Befunde, anders als einige RezensentInnen neuerdings wegen Eribons fortwährender Beschäftigung mit der eigenen Identität meinen, nichts zu tun. Herrschafts- und Gewaltverhältnisse schreiben sich in vielfältiger Weise in Körper und Geist der Unterworfenen ein. Und wer ein Interesse an der Beseitigung dieser Verhältnisse hat, kann nur hoffen, dass Eribons Hontologie noch viele NachfolgerInnen finden wird.

Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege. Edition Suhrkamp. Berlin 2017. 320 Seiten. 29 Franken