Landkonflikte in Brasilien: Euer Schweiss, unser Blut

Nr. 50 –

«In den Reservaten werden unsere Seelen krank», sagt der Anführer der LandbesetzerInnen. «Die Indios töten Vieh und brennen Felder nieder. Die Opfer sind wir: die Bauern», entgegnet der Grossgrundbesitzer. Willkommen in Mato Grosso do Sul, an der tödlichen Aussengrenze des Weltmarkts.

  • Geräumt und wieder neu besetzt: Die indigene Landnahme Ñanderú Marangatú im Bundesstaat Mato Grosso do Sul.
  • Erschreckend hohe Selbstmordraten: In den indigenen Reservaten – wie hier in Limâo Verde – herrscht bittere Armut.
  • «Schluss! Es ist unser Land!»: Lider Solano Lopes alias Apykaa Rendy («Erleuchteter Thron», Mitte).
  • «Wir haben nichts wiedergutzumachen»: Lúcio Damália, Präsident der BäuerInnenvereinigung von Dourados.
  • Kein Wald mehr, aber Millionen Rinder: Viehweide in Mato Grosso do Sul.

Ich möchte dem brasilianischen Präsidenten sagen, dass wir nicht länger warten werden. Wir werden unser Land besetzen. Die Bauern dürfen dort nicht sein. Ich habe keine Angst, sonst wäre ich nicht hier. Wir haben keine Waffen. Die Bauern haben Waffen und schicken Pistoleiros, um auf uns zu schiessen. Sie haben Geld, um Politiker zu kaufen. Wir haben kein Geld, unsere Kinder haben Hunger und sind krank. Deswegen: Schluss! Es ist unser Land. Unsere Vorfahren wurden hier geboren und begraben. Das Volk der Guarani-Kaiowá war vor den Weissen hier. Sie haben uns in Reservate gesteckt. Dort können wir nicht leben. In den Reservaten werden unsere Seelen krank. Jetzt kehren wir zurück. Auf unser Tekohá!

Der Mann sitzt auf einem Holzschemel. Er trägt Flipflops, ein blaues Hemd aus der Altkleidersammlung und einen Federschmuck, einen Cocar. Seine Hände hat er auf die Knie gelegt, er redet behutsam. Bis er sich an den Präsidenten wendet, da wird er plötzlich laut und wütend, so, als stünde er im Parlament in Brasilía. Zu ihm hat sich eine Gruppe UreinwohnerInnen gesellt. Sie stimmen ihm mit spontanen Ausrufen zu.

Der bürgerliche Name des Redners ist Lider Solano Lopes. In seiner Muttersprache heisst er Apykaa Rendy: Erleuchteter Thron. Er ist 49 Jahre alt und Anführer von rund 200 Indígenas vom Volk der Guarani-Kaiowá, die seit acht Jahren ein Stück Land im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul besetzen. Sie haben dort sechzig Hütten aus Holz und Plastikplanen inmitten einer Eukalyptusplantage errichtet. Den Ort nennen sie Pyelito Kue. Sie verlangen, dass die Regierung ihn zu einem indigenen Territorium erklärt.

Mehr als 120 solcher Landbesetzungen gibt es derzeit in Mato Grosso do Sul. In dem abgelegenen Bundesstaat im Südwesten Brasiliens leben 47 000 Guarani-Kaiowá, sie sind die zweitgrösste indigene Gruppe des Landes. Achtzig Prozent von ihnen sind in Reservaten untergebracht. Aber dort, sagen sie, herrschten Gewalt, Alkoholismus und Armut. Es seien Favelas für UreinwohnerInnen. «Unsere Kultur stirbt in den Reservaten», sagt Apykaa Rendy. «Wir müssen dort raus.»

Pyelito Kue erreicht man nach langer Fahrt auf einer Schlammpiste. Sie ist der einzige Zugang zu der Siedlung, in der es weder Strom noch fliessend Wasser oder ein Handynetz gibt. Im Grunde gibt es hier gar nichts ausser windschiefen Hütten, sandigem Boden und einem weiten Himmel. Aber die Indígenas sagen, dass sie eine tiefe Verbindung zu dem Ort spürten und deswegen bereit seien, die Entbehrungen zu ertragen. Apykaa Rendy kündigt an, dass man bald auch ein benachbartes Sojafeld besetzen werde. Dort sei die Erde tief und fruchtbar, und man könne Maniok pflanzen, um sich zu ernähren.

Der Anführer holt mit dem Arm weit aus. Das alles, sagt er, sei ein Tekohá, ein alter Wohnort der Guarani-Kaiowá. Seine Ahnen hätten hier gelebt, bevor die brasilianische Regierung sie in den 1920er Jahren in ein Reservat steckte. Landbesetzungen wie in Pyelito Kue bezeichnen die Guarani-Kaiowá deshalb stolz als «retomada»: Wiedereinnahme.

Es gibt nur ein Problem: Die Tekohás liegen auf Land, das heute GrossbäuerInnen gehört, den Fazendeiros. Und diese schauen nicht untätig zu. Sie schicken Pistoleiros, um die Guarani-Kaiowá wieder von ihren Feldern zu vertreiben. Apykaa Rendy berichtet, wie Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma fast täglich auf die Hütten der Indígenas geschossen hätten. Einmal hätten sie ihre Behausungen in Brand gesteckt. Ein Indígena sei nach dem Angriff verschwunden. Die Sicherheitsfirma wurde danach aufgelöst.

Vor einem Jahr überfielen dann 200 Bewaffnete das Tekohá in einer Nachbargemeinde und erschossen einen Ureinwohner. Fünf Fazendeiros sitzen deswegen in Haft. Nach dem Mord zogen die Guarani-Kaiowá zu einer Strasse, stoppten einen Laster mit Sojabohnen und vernichteten die Ladung.

In Mato Grosso do Sul findet die Fortsetzung eines Dramas statt, das so alt ist wie Brasilien selbst: Weisse SiedlerInnen und Unternehmen konkurrieren mit den UreinwohnerInnen um Land und Rohstoffe. An vielen Orten Brasiliens hat sich der Konflikt zuletzt extrem verschärft, etwa im Amazonasbecken. Die Wirtschaft drängt auf Expansion, und die konservative Regierung von Präsident Michel Temer will den Schutz für Umwelt und Indígenas aufweichen.

Nirgends aber wird der Kampf so brutal ausgetragen wie in Mato Grosso do Sul im Grenzgebiet zu Paraguay. Fast 400 Guarani-Kaiowá sind hier seit 2004 getötet worden. Regelmässig wird eine ihrer Führungsfiguren ermordet. Fast wöchentlich gibt es Zusammenstösse. Die Vereinten Nationen bezeichnen die Situation als «dramatisch», das Parlament der Europäischen Union hat die Gewalt gegen die UreinwohnerInnen «aufs Schärfste» verurteilt. AktivistInnen für Indigenenrechte fordern sogar den Boykott von Produkten aus Mato Grosso do Sul. Aber das ist unrealistisch. Entgegen ihrer «scharfen» Verurteilung hat die EU den Rindfleischimport aus dem Bundesstaat gerade erst ausgeweitet und neue Abkommen über die Einfuhr von Soja abgeschlossen.


Die Invasionen der Indios sind illegal. Mit der Mehrheit von ihnen leben wir friedlich. Aber es gibt kleine gewalttätige Gruppen. Wenn sie meinen, das Land gehöre ihnen, sollen sie vor Gericht ziehen. Wir Bauern haben nichts wiedergutzumachen. Ich sehe keine historische Schuld der Weissen an den Indios. Die Mehrheit will doch so leben wie wir: mit Kühlschrank, warmer Dusche und Fernseher. Man muss die Indios also in die Produktionskette einbinden. Stattdessen werden sie von internationalen Organisationen aufgestachelt. Natürlich sind wir dagegen, dass einige Bauern ihre Pistoleiros gegen die Indios schicken. Aber wenn die das Recht auf Eigentum nicht respektieren, ist das ihre Sache. Fünf Fazendeiros sitzen wegen Mord an einem Indio im Gefängnis. Das ist nicht richtig. Auch für sie gilt die Unschuldsvermutung. Die Indios töten Vieh und brennen Felder nieder. Sie dringen in die Häuser der Bauern ein und bedrohen sie. Die Opfer sind wir: die Bauern. Aber wir machen das Land urbar, schaffen Jobs und ernähren die Bevölkerung. Was will denn die Menschheit in Zukunft essen? Der Bauer wird als Waldvernichter und Feind der Ureinwohner hingestellt. Quasi als Bandit. Aber kein Bauer gibt sein Land freiwillig her. Unser Schweiss steckt in dieser Erde. Wenn die Indios mehr Land wollen, sollen sie vor Gericht ziehen, und die Bauern müssen dann entschädigt werden. Sonst herrscht Krieg.

Lúcio Damália spricht für 450 Fazendeiros. Er ist der Präsident der BäurInnenvereinigung von Dourados, dem Zentrum der Landwirtschaft in Mato Grosso do Sul. Damália ist 65 Jahre alt, braun gebrannt, schlank und gross. Der Nachfahre italienischer EinwanderInnen trägt ein weisses Hemd und Jeans. Er lädt zum Gespräch in den Sitz seiner Organisation ein: ein Bürogebäude auf einem weiten Ausstellungsgelände. Hier finden Viehauktionen und Messen statt, bei denen die neusten Mähdrescher, Agrarchemiekalien und genetisch veränderte Samen vorgestellt werden. Die Region ist ein wichtiger Markt für Landmaschinenbauer wie John Deere und Case IH sowie Chemiekonzerne und Saatgutproduzenten, etwa Syngenta, Bayer und BASF.

Damália hat einen Anwalt mitgebracht. Der legt ein Aufnahmegerät auf den Tisch. Man wolle sich absichern, sagt er, man habe keine guten Erfahrungen mit den Medien gemacht. Andere Fazendeiros wollten erst gar nicht reden, darunter auch der Bauer, auf dessen Land Pyelito Kue liegt. Ein Besuch in der dortigen BäuerInnenvereinigung sowie Bitten um Rückrufe blieben ohne Ergebnis.

Lúcio Damália lächelt und bietet Kaffee an. Er erzählt, wie er 1972 nach Mato Grosso do Sul kam, um Land zu kaufen. «Ich wollte hart arbeiten und mir etwas aufbauen», sagt er. Heute besitzt er 300 Hektaren Boden. Dort pflanzt er im Wechsel Soja und Mais an. Damália ist damit ein relativ kleiner Bauer. Andere Fazendeiros in der Region haben 6000 Hektaren und mehr.

Diese Landkonzentration ist sofort erkennbar. Wer auf schnurgeraden Strassen durch die sanft gewellte Landschaft der Region fährt, sieht oft bis zum Horizont nichts anderes als Sojafelder und Weiden, auf denen weisse Zeburinder grasen. Nur vereinzelt ragen Bäume auf. In Brasilien gilt Mato Grosso do Sul als Agrarkraftpaket. Es ist fast genauso gross wie Deutschland, aber nur 2,7 Millionen Menschen leben hier, die meisten in einem Dutzend Städte. 85 Prozent der Fläche ist hingegen in der Hand von GrossbäuerInnen.

Einst bestand Mato Grosso do Sul aus undurchdringlichem Dschungel, sein Name bedeutet «dichter Wald des Südens». Aber Wald wächst hier kaum mehr. Die Bäume mussten Sojabohnen und 23 Millionen Rindern weichen. Und mit ihnen die Guarani-Kaiowá. Rund zehn Prozent des Bundesstaats waren einst ihr Stammesland. Sie fordern lediglich einen Bruchteil davon zurück.

Lúcio Damália, der Bauernpräsident, sieht das unsentimental. Heute existierten die Herrschaft des Rechts und der Schutz des Eigentums, sagt er. Daran hätten sich alle zu halten. Darüber hinaus sei die Landwirtschaft der Motor Brasiliens. Es gebe keinen Grund, sich dafür zu schämen.


Wie das mit den Selbstmorden kam, kann ich nicht erklären. Dort, an dem kleinen Baum, habe ich Júnior gefunden, er war fünfzehn Jahre alt. Er hatte einen Riemen um den Stamm gebunden, sich davor gekniet und sich stranguliert. Alle haben ihn gesehen. Auch seine Mutter. Júnior wollte ein Mädchen, aber dessen Mutter war dagegen. Júniors Mutter glaubt deswegen, die Mutter des Mädchens habe ihn verhext. Zwei Wochen später strangulierte sich Júniors Bruder Osmar in seiner Hütte, er war zwanzig Jahre alt. Es kamen noch mehr Selbstmorde dazu, alles Teenager. Keiner von ihnen hat etwas gesagt. So ist das immer. Wir finden sie auf Knien und wissen nicht warum. Manche glauben, es habe mit den Drogen zu tun. Andere sagen, dass unsere Jugendlichen unglücklich sind, weil sie nicht die Dinge aus dem Fernsehen kaufen können. Die Schamanen warnen, dass unsere Jugendlichen die Kultur verlieren, weil sie nicht mehr unsere Gebete sprechen. Ja, wir haben grosse Probleme im Reservat. Wir haben kein Land, um etwas anzubauen. Jedes Rind dort draussen hat mehr Platz. Und wir haben kein sauberes Wasser. Wir trinken aus dem Fluss, aber der ist voller Pestizide von den Feldern. Unsere Kinder kommen schon ganz dürr auf die Welt. Manch junger Mann arbeitet als Cowboy auf einer Fazenda, andere bauen ein bisschen Mais, Maniok und Kürbisse an. Aber es gibt nicht genug Boden. Die meisten sind arbeitslos. Jede Familie kriegt einmal im Monat einen Sack mit Reis, Bohnen, Mehl und Öl von der Regierung. Aber es reicht nie für alle, und es bricht Streit aus. Ich unterstütze das Tekohá Pyelito Kue. Dort gibt es keine Selbstmorde.

Paulo Fiel ist Vorsteher im Indígena-Reservat Sassoró. Der 47-Jährige trägt Jeans, Poloshirt und Baseballkappe. Alles an ihm ist breit, Hände, Rücken, Schädel. Er steht auf einem kleinen Platz aus roter Erde, spricht mit tiefer Stimme, und wenn er lacht, scheinen die Hütten um ihn herum zu erzittern. Zweimal haben die BewohnerInnen von Sassoró ihn schon zum Vorsteher gewählt. «Weil ich nicht korrupt bin wie meine Vorgänger», sagt er.

Aber auch er kann nicht verhindern, dass Sassoró einen traurigen Rekord hält. Es hatte 2016 eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Überhaupt ist diese in den Reservaten erschreckend hoch. 2015 lag sie bei 118 Suiziden pro 100 000 Menschen und damit 21-mal höher als im Rest Brasiliens. Ebenso ungewöhnlich ist, dass sich vor allem junge Menschen das Leben nehmen – und nicht, wie in westlichen Gesellschaften üblich, Männer ab sechzig. Es gibt bisher keine schlüssige Erklärungen dafür, auch weil sich kaum jemand in Brasilien damit beschäftigt. Aber es ist augenfällig, dass das Gros der Selbsttötungen in den Reservaten vorkommt, während die Guarani-Kaiowá in den Tekohás immun gegen die Suizidepidemie zu sein scheinen.

3800 Menschen leben in Sassoró, das aus Holz- und Steinhäusern inmitten von ödem Busch- und Grasland besteht und nur über eine löchrige Piste entlang von Rinderweiden zu erreichen ist. Das Reservat mit 1900 Hektaren wurde 1928 von der brasilianischen Regierung geschaffen. Sie zwang die Guarani-Kaiowá damals in acht Reservate und gab ihr Stammesland an weisse Siedler. Auch die Vorfahren von Apykaa Rendy aus Pyelito Kue wurden nach Sassoró gebracht. Das Tekohá ist nicht weit entfernt, es liegt jenseits eines Flusses, der schmutzig-braun durch die Landschaft mäandert.

Nicht nur die Suizidrate unterscheidet Sassoró von Pyelito Kue. Was Paulo Fiel mindestens ebenso beschäftigt, sind Mord und Totschlag. Der Alkohol sei schuld, glaubt er. Seine Aufgabe ist es, bei der Polizei anzurufen, wenn wieder einmal Blut geflossen ist. Es kommt dann eine Streife vorbei, ansonsten fühlt sich der Staat kaum verantwortlich.

Zahlen zu den Morden hat der Indigene Missionsrat der katholischen Kirche (Cimi) in Dourados gesammelt. Demnach liegt die Mordrate in den Reservaten bei 57 pro 100 000 Menschen, in manchen Reservaten erreicht sie sogar 78 Morde. Wären die Reservate ein Land, hätten sie die vierthöchste Mordrate der Welt.

Verantwortlich macht Flávio Machado, Chef des Cimi in Dourados, die Überbevölkerung und Perspektivlosigkeit in den Reservaten. Die sozialen Indikatoren seien mit denen von Flüchtlingslagern im Sudan vergleichbar. Deswegen hat der Cimi bei der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte einen Antrag gestellt: Die Reservate sollen zu humanitären Krisengebieten erklärt werden. Damit würde er «ein Klima des Terrors auf dem Land» schaffen, werfen PolitikerInnen und BäuerInnenvereinigungen dem Cimi vor.


Die Indios sind faul. Die wollen nicht arbeiten. Wozu brauchen sie das ganze Land?! In mein Restaurant kommen Landarbeiter, Bauern und Trucker. Da hört man die tollsten Geschichten. Von besoffenen Ureinwohnern und Diebstählen. Auf den Fazendas haben viele Leute wegen der Indio-Invasionen schon ihre Arbeit verloren. Die fragt niemand, wie es ihnen geht. Die Indios produzieren nichts und lassen alles verwildern. Ich würde keinen von denen beschäftigen. Aber manche Leute halten die Indios für die Guten.

Die Frau ist Anfang fünfzig und Chefin eines Restaurants in der Kleinstadt Antônio João, nahe der Grenze zu Paraguay. Sie kam vor einigen Jahren hierher, um ein neues Leben zu beginnen. Sie möchte nicht, dass ihr Name öffentlich wird, das Thema sei heikel. Unsympathisch ist sie nicht, sie plaudert drauflos in der Annahme gegenseitigen Einverständnisses, man ist ja unter Weissen. So wie sie denken hier viele, es herrscht ein ständiges Misstrauen gegenüber den UreinwohnerInnen. An manchen Tankstellen bekommen diese nicht einmal Benzin, weil man meint, sie würden damit das nächste Feld abfackeln.

Ganz in der Nähe von Antônio João liegt Ñanderú Marangatú, eine der grössten indigenen Landnahmen in Mato Grosso do Sul. Sie begann 1998, als die Guarani-Kaiowá das Land von fünf Viehzüchtern besetzten, von deren Vorfahren sie in den 1950er Jahren vertrieben worden waren. Es geht um eine Fläche von 9300 Hektaren.

2005 erklärte die brasilianische Regierung das Gebiet zu einem indigenen Territorium, weil hier erwiesenermassen ein altes Tekohá lag – so sieht es die brasilianische Verfassung vor. Die BäuerInnen sollten entschädigt werden. Aber 2015 machte der Oberste Gerichtshof in Brasília die Entscheidung rückgängig und liess das Land räumen. Die UreinwohnerInnen wurden an den Strassenrand gesetzt. Kein tolerierbarer Zustand, wie diese fanden, weshalb sie erneut auf ihr Land marschierten. Rund 3000 von ihnen leben seitdem in weit über die Landschaft verteilten Hütten mit kleinen Feldern davor. An vielen Stellen kommt die Natur zurück, erste Bäume und Hecken spriessen.

Der Unterschied zum exportorientierten Agrarbusiness mit seinem enormen Flächenverbrauch ist offensichtlich: Die GrossbäuerInnen produzieren Fleisch für die ChinesInnen, die Guarani-Kaiowá Maniok für den Eigenbedarf. Und während die Fazendeiros die Erde als Mittel zum Zweck betrachten, hat sie für die Guarani-Kaiowá einen spirituellen Wert, der nicht verhandelbar ist. «Tekohá», hatte Apykaa Rendy gesagt, «das ist die Erde, auf der man Guarani sein kann.»

Nun liegt der Landdisput von Ñanderú Marangatú bei einem lokalen Gerichtshof, und eine Entscheidung ist nicht abzusehen. Das führt zu Spannungen. Mindestens vier Indígena-Führer wurden seit der ersten Landnahme getötet. Zuletzt traf es 2015 einen 24-Jährigen. Der Mord geschah auf der Fazenda der Viehzüchterin Roseli Ruiz, der Chefin der hiesigen BäurInnenvereinigung. Den Mord schiebt sie auf Streit unter den Indios. Sie habe nicht ihr Leben lang geschuftet, um denen ihre Fazenda zu überlassen. Beim Gespräch äussern einige Guarani-Kaiowá später hingegen die Überzeugung, dass Ruiz hinter dem Mord stecke. Eine Indígena sagt: «Die Bauern behaupten oft, dass ihr Schweiss in dieser Erde stecke. Aber sie ist mit unserem Blut getränkt.»


Ich halte es nicht mehr aus. Dieses Leben ergibt keinen Sinn mehr. Sie haben mir alles genommen. Sie haben meine Kinder überfahren. Ich habe kaum noch Kraft, ich bin alt, aber ich darf nicht aufgeben.

Die Frau hat sich mit Zuckerrohrschnaps abgefüllt. Nun sitzt sie vor ihrer Hütte, daneben sitzt ihre Tochter mit erschrockener Miene, einige Kinder mit verrotzten Gesichtern tollen umher. Gleich dahinter donnern Lkws auf einer Überlandstrasse vorbei.

Seit 25 Jahren versucht Damiana Cavanha, auf das Tekohá ihrer Familie zurückzukehren. Es heisst Apyka’i und liegt hinter einem Zaun auf der anderen Strassenseite. «Dort», sagt die Siebzigjährige und deutet mit zittriger Hand auf ein abgeerntetes Zuckerrohrfeld. Es sind keine fünfzig Meter Entfernung, aber sie scheinen unendlich weit zu sein.

Mehrere Versuche Cavanhas und ihres Familienclans, das Feld zu besetzen, scheiterten. Jedes Mal rückte die Polizei an und zerstörte ihre improvisierten Behausungen. Es mag damit zu tun haben, dass das Feld zu einer Fazenda zählt, die von dem Unternehmer José Carlos Bumlai betrieben wird. Der hat beste Verbindungen in die Politik, gegen ihn wird wegen Korruption ermittelt.

Cavanhas winzige Siedlung ist eine von dreissig Besetzungen in Mato Grosso do Sul, die eingeklemmt zwischen Überlandstrassen und Feldrändern liegen und damit extrem verwundbar sind. Cavanha erhielt schon Morddrohungen, ihre Hütte wurde angezündet und beschossen, sie zeigt eine Kugel, die im Türrahmen stecken blieb. Auf die Strasse hat jemand gepinselt: «Wir werden euch erledigen.» Es ist keine leere Drohung. Neun von Cavanhas Angehörigen sind getötet worden, acht davon wurden auf dieser Strasse überfahren, darunter einer ihrer Söhne, ein Enkel und eine Tante. Cavanha glaubt, dass es Morde im Auftrag der GrossgrundbesitzerInnen waren.

Wie lange will Cavanha das noch durchhalten? «Bis ich tot bin», sagt sie. «Es gibt für mich keinen anderen Ort auf Erden.»

Diese Recherche wurde mit einem Stipendium des Right Livelihood Award unterstützt.

Schon wieder eine Tote

Wenige Tage nach der WOZ-Recherche in Mato Grosso do Sul wurde Creuza Guarani, eine Mitstreiterin von Damiana Cavanha, tot am Strassenrand aufgefunden. Ihre Leiche lag unweit von Cavanhas Siedlung, die Umstände des Todes sind bislang unklar.

Die Menschenrechtsorganisation Survival International zitiert aber Beobachter, «die Mord für wahrscheinlich» halten. Die UreinwohnerInnen müssten zurzeit verstärkt mit Gewalt rechnen: In den vergangenen zwei Dekaden habe es keine brasilianische Regierung gegeben, die den Indigenen so feindlich gegenüber gestanden hätte wie die von Präsident Michel Temer. Survival International spricht von einem «stillen Genozid».

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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